Inhalt

VGH München, Beschluss v. 23.02.2023 – 11 CS 22.2649
Titel:

Zum Erfordernis der Beibringung eines ärztlichen Fahreignungsgutachtens bei Depressionen

Normenketten:
FeV § 11 Abs. 2, Abs. 6, Abs. 8. § 46, Anl. 4
StVG § 3 Abs. 4 S. 1
Leitsätze:
1. Die Anordnung zur Beibringung eines Fahreignungsgutachtens ist nicht isoliert anfechtbar, sodass die Rechtsprechung an sie strenge Anforderungen stellt, die im Falle einer Folgemaßnahme – etwa die Entziehung der Fahrerlaubnis – inzident zu prüfen sind. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Beibringungsanordnung setzt nicht voraus, dass eine Erkrankung oder ein Mangel iSv § 11 Abs. 2 S. 2 FeV bereits feststeht. Es genügt der Hinweis auf eine Erkrankung nach Anl. 4 zur FeV (bzw. ein „Anfangsverdacht“).  (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei entsprechender Fallgestaltung ist aus Gründen der Verhältnismäßigkeit als Vorabklärung, der Betroffene zur Vorlage einer Bescheinigung seines behandelnden Arztes bzw. Psychotherapeuten aufzufordern. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Entziehung der Fahrerlaubnis, Endogene Depression, Aufforderung zur Beibringung eines ärztlichen Gutachtens, Fragestellung, Vorabklärung durch Aufforderung zur Vorlage eines Attests des behandelnden Arztes oder Therapeuten, Fahrerlaubnis, endogene Depression, ärztliches Gutachten, Attest, Psychotherapeut, Bedenken, Gutachtensanordnung, Beibringungsanordnung, Bindung, Eignungsmangel, Urteil, Fahrverbot
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 12.12.2022 – M 19 S 22.5350
Fundstelle:
BeckRS 2023, 4260

Tenor

I. Die Beschwerde wird verworfen, soweit sie sich gegen den Sofortvollzug in Nr. 3, 5 und 6 des angefochtenen Bescheids wendet, und im Übrigen zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller wendet sich gegen die Anordnung des Sofortvollzugs hinsichtlich der Entziehung seiner Fahrerlaubnis (Klassen A und B einschließlich Unterklassen) und der Verpflichtung zur Abgabe seines Führerscheins sowie der insoweit ausgesprochenen Zwangsgeldandrohung und der Kostenentscheidung.
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Das Amtsgericht München verhängte gegen den am … 1990 geborenen Antragsteller mit Urteil vom 10. November 2020 wegen einer von ihm am 29. November 2019 begangenen Körperverletzung eine Freiheitsstrafe und entzog ihm die Fahrerlaubnis. Im Berufungsverfahren hob das Landgericht München I den Rechtsfolgenausspruch mit rechtskräftigem Urteil vom 28. April 2021 teilweise auf, setzte die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung aus und verhängte gegen den Antragsteller ein Fahrverbot von drei Monaten. In den Entscheidungsgründen wird ausgeführt, die Kammer habe von der Entziehung der Fahrerlaubnis abgesehen, weil der Antragsteller im Zeitpunkt der Berufungshauptverhandlung nicht mehr ungeeignet zum Führen eines Kraftfahrzeugs gewesen sei. Die Tat als solche lasse zwar charakterliche Mängel im Straßenverkehr erkennen, allerdings nicht in schwerwiegendem Umfang. Die Kammer erachte den Zeitablauf ohne erneute Auffälligkeiten als hinreichend, um von einer Beseitigung des charakterlichen Mangels auszugehen. Zu den persönlichen Verhältnissen des Antragstellers wird in den Entscheidungsgründen ausgeführt, etwa Ende des Jahres 2018 seien bei ihm erste Symptome einer Depression aufgetreten, die sich im Laufe des Jahres 2019 deutlich verschlechtert und eine endogene Depression begründet hätten. Die Krankheit äußere sich insbesondere in Antriebsmangel, Hoffnungslosigkeit und Betrübtheit. Gegen Ende des Jahres 2019 seien vermehrt Suizidgedanken aufgetreten. Die im November 2019 aufgenommene psychotherapeutische Behandlung bei Dr. R. habe in den Folgemonaten durch Gabe von Venlafaxin und therapeutische Gespräche zu einer erheblichen Verbesserung der Situation geführt. Wahnvorstellungen oder Psychosen seien nicht aufgetreten. Weitere Erkrankungen bestünden nicht.
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Nachdem die Fahrerlaubnisbehörde hiervon durch Mitteilung der Staatsanwaltschaft München I am 12. Juli 2021 Kenntnis erhielt, kündigte sie dem Antragsteller zunächst die Aufforderung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Fahreignungsgutachtens an, nahm davon jedoch nachfolgend Abstand und forderte den Antragsteller mit Schreiben vom 11. November 2021 im Hinblick auf die Depression zur Vorlage einer Bescheinigung seines behandelnden Arztes bzw. Psychotherapeuten bis 11. Januar 2022 auf, in der darauf einzugehen sei, ob und wenn ja welche psychische Erkrankung bestehe (genaue ICD-10-Diagnose), seit wann die Erkrankung bestehe, ob sie weiterhin bestehe, ob Medikamenteneinnahmen erforderlich oder erforderlich gewesen seien und wenn ja, welche. Nachdem der Antragsteller bis zum Fristablauf keine Bescheinigung vorgelegt hatte, wiederholte die Antragsgegnerin ihre Aufforderung mit Schreiben vom 2. Februar 2022 unter erneuter Fristsetzung bis 2. März 2022. Auch dieser Aufforderung kam der Antragsteller nicht nach.
4
Mit Schreiben vom 4. Mai 2022 forderte die Antragsgegnerin den Antragsteller zur Vorlage eines (fach-)ärztlichen Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung innerhalb von drei Monaten auf. Eine endogene Depression weise auf eine Erkrankung oder einen Mangel nach Nr. 7 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) hin. Der erfolgreiche Behandlungsverlauf sei durch das Gutachten zu klären. Es seien die Fragen zu beantworten, ob beim Antragsteller eine psychische Erkrankung oder Beeinträchtigung vorliege, die nach Nr. 7 der Anlage 4 zur FeV die Fahreignung in Frage stelle, wenn ja, welche, ob der Antragsteller in der Lage sei, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 gerecht zu werden, ob eine Nachuntersuchung bzw. Nachuntersuchungen erforderlich seien und wenn ja, aus welchen Gründen und in welchen zeitlichen Abständen.
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Nachdem der Antragsteller kein Gutachten vorgelegt hat, entzog ihm die Antragsgegnerin nach Anhörung mit Bescheid vom 16. September 2022 unter Anordnung des Sofortvollzugs die Fahrerlaubnis und verpflichtete ihn zur Abgabe des Führerscheins. Da er der Aufforderung zur Begutachtung seiner Fahreignung nicht nachgekommen sei, sei daraus auf seine Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen zu schließen.
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Über den hiergegen eingelegten Widerspruch hat die Regierung von Oberbayern noch nicht entschieden. Den Antrag auf Wiederherstellung (Entziehung der Fahrerlaubnis und Pflicht zur Abgabe des Führerscheins) und Anordnung (Zwangsgeldandrohung und Kosten) der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs hat das Verwaltungsgericht München mit Beschluss vom 12. Dezember 2022 abgelehnt. Die Begründung der Anordnung des Sofortvollzugs genüge den formellen Anforderungen. Der Widerspruch habe voraussichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Aus der Nichtbeibringung des zu Recht angeforderten Gutachtens habe die Antragsgegnerin auf die Nichteignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen dürfen. Die Gutachtensaufforderung zur Abklärung der Fahreignung im Hinblick auf die Depression, für die aufgrund der Ausführungen im Berufungsurteil des Landgerichts München I hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte bestanden hätten, begegne keinen rechtlichen Bedenken. Ohne Vorlage der geforderten ärztlichen Nachweise sei völlig unklar, wie sich die Erkrankung darstelle. Die zu begutachtenden Fragestellungen seien ausreichend bestimmt und angemessen. Auch habe die Antragsgegnerin ihr Entschließungsermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt und dem Antragsteller vor der Beibringungsanordnung Gelegenheit gegeben, die Zweifel durch Vorlage ärztlicher Dokumente auszuräumen.
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Zur Begründung der hiergegen eingereichten Beschwerde, der die Antragsgegnerin entgegentritt, lässt der Antragsteller ausführen, die Anordnung des Gutachtens sei rechtswidrig. Die Fragestellungen seien zu weit gefasst. Aus der Gutachtensanordnung gehe nicht hervor, dass nur zu Depressionserkrankungen gutachterlich ermittelt werden solle. Beim Antragsteller sei eine Depression diagnostiziert worden. Für weitere psychische Erkrankungen gebe es keinerlei Hinweise. Außerdem werde im Urteil des Landgerichts München I aufgrund der Aussagen des den Antragsteller behandelnden Arztes Dr. R. ausgeführt, Wahnvorstellungen oder andere Erkrankungen hätten nicht vorgelegen. Es habe daher keine Veranlassung bestanden, über die Depression hinaus zu anderen Erkrankungen ermitteln zu lassen, die in Nr. 7 der Anlage 4 zur FeV genannt seien (insbesondere Manien, schizophrene Psychosen, Altersdemenz oder schwere Intelligenzstörungen). Zudem seien die Hinweise auf eine möglicherweise schwere Depression zum Anordnungszeitpunkt bereits mehrere Jahre alt gewesen. Aus den Urteilsgründen des Landgerichts München I ergebe sich, dass der Antragsteller wieder in der Lage gewesen sei, am täglichen Leben teilzunehmen und insbesondere auch einer regelmäßigen Arbeitstätigkeit nachzugehen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
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Die Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Aus den in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern oder aufzuheben wäre.
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Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis ist der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung maßgeblich (vgl. BVerwG, U.v. 11.4.2019 – 3 C 14.17 – BVerwGE 165, 215 Rn. 11; U.v. 4.12.2020 – 3 C 5.20 – NJW 2021, 1970 Rn. 12 m.w.N.). Da der Antragsteller gegen den Bescheid vom 16. September 2022 Widerspruch eingelegt und die Widerspruchsbehörde darüber noch nicht entschieden hat, kommt es hier somit auf die Sach- und Rechtslage im gegenwärtigen Zeitpunkt an.
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1. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310, 919), zuletzt geändert durch das zum 1. Januar 2023 in Kraft getretene Gesetz vom 20. Dezember 2022 (BGBl I S. 2752), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), zuletzt geändert durch die zum 1. Juni 2022 in Kraft getretene Verordnung vom 18. März 2022 (BGBl I S. 498), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 3 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 2 Abs. 8 StVG, § 46 Abs. 3 FeV). Bei Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung, insbesondere bei Hinweisen auf eine Erkrankung oder einen Mangel nach Anlage 4 oder 5 zur FeV, kann die Fahrerlaubnisbehörde nach § 11 Abs. 2 FeV die Beibringung eines ärztlichen Fahreignungsgutachtens anordnen. Nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV darf sie bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen, wenn dieser sich weigert, sich untersuchen zu lassen, oder wenn er das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht beibringt. Der Schluss aus der Nichtvorlage eines angeforderten Fahreignungsgutachtens auf die fehlende Fahreignung ist jedoch nur dann gerechtfertigt, wenn die Anordnung formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig war (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – BVerwGE 156, 293 Rn. 19 m.w.N.). Da die Anordnung zur Beibringung eines Fahreignungsgutachtens nicht isoliert anfechtbar ist, stellt die Rechtsprechung an sie strenge Anforderungen, die im Falle einer Folgemaßnahme (hier die Entziehung der Fahrerlaubnis) inzident zu prüfen sind.
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2. Hiervon ausgehend hat der Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid vom 16. September 2022 nach derzeitigem Erkenntnisstand keine Aussicht auf Erfolg. Der Schluss aus der Nichtvorlage des angeforderten ärztlichen Gutachtens auf die fehlende Fahreignung erweist sich als gerechtfertigt. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Gutachtensanordnung (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016, a.a.O. Rn. 14) lagen hinreichende Anhaltspunkte für eine fahreignungsrelevante Erkrankung vor, die die Aufforderung zur Beibringung eines ärztlichen Fahreignungsgutachtens rechtfertigten. Auch die Fragestellung in der Beibringungsanordnung ist nicht zu beanstanden.
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a) Dem Urteil des Landgerichts München I vom 28. April 2021 ist zu entnehmen, dass beim Antragsteller Ende des Jahres 2018 erste Symptome einer Depression aufgetreten sind, die sich im Laufe des Jahres 2019 deutlich verschlechtert und eine endogene Depression mit vermehrten Suizidgedanken begründet haben. Dies stellt der Antragsteller nicht in Abrede.
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aa) Bei sehr schweren Depressionen ist die Fahreignung nicht gegeben (Nr. 7.5.1 der Anlage 4 zur FeV). Nach Abklingen der relevanten Symptome einer sehr schweren Depression ist die Fahreignung für die (hier relevanten) Klassen A und B erst wieder gegeben, wenn – ggf. unter medikamentöser Behandlung – nicht mit einem Wiederauftreten gerechnet werden muss, wozu regelmäßige Kontrollen angeordnet werden können (Nr. 7.5.2 der Anlage 4 zur FeV). Bei mehreren sehr schweren depressiven Phasen mit kurzen Intervallen setzt die Wiedererlangung der Fahreignung nach Abklingen der Phasen voraus, dass die Krankheitsaktivität geringer ist und mit einer Verlaufsform in der vorangegangenen Schwere nicht mehr gerechnet werden muss, wozu ebenfalls regelmäßige Kontrollen angeordnet werden können (Nr. 7.5.3 und 7.5.4 der Anlage 4 zur FeV).
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Nach Nr. 3.12.4 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung (Stand 1.6.2022), die nach Anlage 4a zur FeV Grundlage für die Eignungsbeurteilung sind, sind die für das Kraftfahren notwendigen psychischen Fähigkeiten für die Fahrerlaubnisklassen der Gruppe 1 (u.a. Klassen A und B) bei jeder sehr schweren Depression, die z.B. mit depressiv-wahnhaften, depressiv-stuporösen Symptomen oder mit akuter Suizidalität einhergeht, so erheblich herabgesetzt, dass ein ernsthaftes Risiko verkehrswidrigen Verhaltens bestehe. Wenn die relevanten Symptome einer sehr schweren Depression nicht mehr vorhanden seien und – ggf. unter regelmäßig kontrollierter medikamentöser Prävention – mit ihrem Wiederauftreten nicht mehr gerechnet werden müsse, sei in der Regel von einem angepassten Verhalten bei Teilnahme am Straßenverkehr mit einem Kraftfahrzeug auszugehen. Auswirkungen der antidepressiven Pharmakotherapie seien zu berücksichtigen, insbesondere in den ersten Tagen nach rascher Dosissteigerung. Wenn mehrere manische oder sehr schwere depressive Phasen mit kurzen Intervallen eingetreten seien und deshalb der weitere Verlauf nicht absehbar sei, sei nicht von einem angepassten Verhalten bei Teilnahme am Straßenverkehr mit einem Kraftfahrzeug auszugehen, auch wenn zur Zeit keine Störungen nachweisbar seien. Ein angepasstes Verhalten könne nur dann wieder angenommen werden, wenn – ggf. durch eine medikamentöse Prävention – die Krankheitsaktivität geringer geworden sei und mit einer Verlaufsform in der vorangegangenen Schwere nicht mehr gerechnet werden müsse. Dies müsse durch regelmäßige psychiatrische Kontrollen belegbar sein.
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bb) Die Beibringungsanordnung setzt nicht voraus, dass eine Erkrankung oder ein Mangel im Sinne von § 11 Abs. 2 Satz 2 FeV bereits feststeht (stRspr vgl. BayVGH, B.v. 18.8.2021 – 11 CS 21.1727 – juris Rn. 19 m.w.N.). Es genügt der Hinweis auf eine Erkrankung nach Anlage 4 zur FeV (§ 11 Abs. 2 Satz 1 und 2 FeV) bzw. ein „Anfangsverdacht“ (vgl. BVerwG, U.v. 5.7.2001 – 3 C 13.01 – NJW 2002, 78 = juris Rn. 22; U.v. 14.11.2013 – 3 C 32.12 – BVerwGE 148, 230 = juris Rn. 17), also – wie es in § 152 Abs. 2 StPO umschrieben wird – das Bestehen zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte. Zwar darf die Beibringung des Gutachtens nur aufgrund konkreter Tatsachen, nicht auf einen bloßen Verdacht „ins Blaue hinein“ bzw. auf Mutmaßungen, Werturteile, Behauptungen oder dergleichen hin verlangt werden (vgl. BVerwG, U.v. 5.7.2001, a.a.O. Rn. 26). Ob die der Behörde vorliegenden Tatsachen ausreichen, ist nach den gesamten Umständen des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen.
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Auch wenn das Urteil des Landgerichts München I ausführt, dass die im November 2019 aufgenommene psychotherapeutische Behandlung des Antragstellers bei Dr. R. zu einer erheblichen Verbesserung der Situation geführt habe, dass Wahnvorstellungen oder Psychosen nicht aufgetreten seien und weitere Erkrankungen nicht vorlägen, bestanden im Zeitpunkt der Beibringungsanordnung der Antragsgegnerin ausreichende Anhaltspunkte für eine gutachterliche Abklärung der Fahreignung. Dem Urteil zufolge handelte es sich nicht um eine kurzzeitige depressive Phase, sondern bis zum Behandlungsbeginn um eine bereits ein Jahr andauernde endogene Depression mit deutlicher Verschlechterung bis hin zu vermehrten Suizidgedanken. Die Eignungsbedenken sind hier weder durch Zeitablauf noch durch die behauptete, aber vom Antragsteller trotz Aufforderung nicht belegte erfolgreiche Behandlung ausgeräumt. Ziel der gutachterlichen Abklärung ist insoweit auch die Notwendigkeit einer Dauerbehandlung, die bei einer endogenen Depression im Raum steht, die insoweit gebotene Medikation und deren Nebenwirkung sowie die Compliance und Krankheitseinsicht des Antragstellers.
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Ohne Vorlage eines ärztlichen Fahreignungsgutachtens kann die Antragsgegnerin nicht beurteilen, ob und inwieweit die Depression des Antragstellers dessen Fahreignung beeinträchtigt. Näheres über den Verlauf der Erkrankung und ihre Behandlung ergibt sich aus dem Urteil des Landgerichts München I nicht. Dies gilt auch für die zur Begründung der Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung getroffene Feststellung, der Antragsteller habe seine Erkrankung mittlerweile durch eine intensive Therapie weitgehend überwunden. Von der Bindungswirkung des § 3 Abs. 4 Satz 1 StVG, die einer abweichenden Einschätzung der Antragsgegnerin entgegenstehen könnte, sind diese Ausführungen nicht erfasst. Auf den geschilderten positiven Behandlungsverlauf hat das Landgericht München I lediglich seine Prognose gestützt, der Antragsteller werde künftig ein straffreies Leben führen. Mit der vom Landgericht München I bejahten charakterlichen Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen, die nicht Gegenstand der Beibringungsanordnung der Antragsgegnerin ist, stehen diese Feststellungen zum Krankheitsverlauf nicht in Zusammenhang.
19
Die Antragsgegnerin hatte den Antragsteller vor Erlass der Beibringungsanordnung zweimal aufgefordert, eine Bescheinigung seines behandelnden Arztes bzw. Psychotherapeuten vorzulegen. Die Möglichkeit dieser bei entsprechender Fallgestaltung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit gebotenen Vorabklärung (vgl. BayVGH, B.v. 23.112020 – 11 CS 20.1780 – juris Rn. 21; 7.2.2022 – 11 CS 21.2385 – juris Rn. 18 m.w.N.; Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Auflage 2023, § 11 FeV Rn. 24b) hat der Antragsteller nicht genutzt. Damit bestand für die Antragsgegnerin ausreichender Anlass, den Antragsteller zur Klärung der nicht ausgeräumten Fahreignungszweifel durch Vorlage eines ärztlichen Gutachtens aufzufordern.
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b) Auch die Fragestellung in der Beibringungsanordnung vom 4. Mai 2022 begegnet keinen Bedenken. Sie erweist sich insbesondere als hinreichend bestimmt i.S.d. § 11 Abs. 6 Satz 1 FeV. Danach legt die Fahrerlaubnisbehörde unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls und unter Beachtung der Anlagen 4 und 5 in der Anordnung zur Beibringung des Gutachtens fest, welche Fragen im Hinblick auf die Eignung des Betroffenen zum Führen von Kraftfahrzeugen zu klären sind.
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Hinsichtlich des genauen Grades der Konkretisierung, die die von der Fahrerlaubnisbehörde festzulegende und mitzuteilende Fragestellung aufweisen muss, kommt es auf die besonderen Umstände des Einzelfalls an. Eine präzise Angabe der entsprechenden Nummer oder Unternummer der Anlage 4 in der Beibringungsanordnung ist nicht in jedem Fall erforderlich und kann insbesondere dann entbehrlich sein, wenn sich die vom Gutachter zu klärende Frage mit hinreichender Deutlichkeit den Gründen entnehmen lässt, mit denen die Behörde ihre Eignungsbedenken dargelegt hat (BVerwG, B.v. 5.2.2015 – 3 B 16.14 – NJW 2016, 179 = juris Rn. 9; BayVGH, B.v. 31.3.2016 – 11 ZB 16.61 – juris Rn. 10; B.v. 18.3.2019 – 11 CS 19.387 – juris Rn. 17; B.v. 17.2.2020 – 11 CS 19.2394 – juris Rn. 23; B.v. 5.1.2022 – 11 CS 21.2692 – juris Rn. 20).
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Dies ist hier auch ohne weitere Differenzierung innerhalb der Nr. 7 der Anlage 4 der Fall. Der Gutachtensanordnung ist zweifelsfrei zu entnehmen, dass die Begutachtung primär die endogene Depression des Antragstellers zum Gegenstand haben soll. Dies geht aus den Ausführungen in der Beibringungsanordnung mit hinreichender Deutlichkeit hervor, wo ausgeführt wird: „Sinn und Zweck der medizinischen Untersuchung ist es, aufzuklären, ob sich die Zweifel an der Fahreignung bezüglich der endogenen Depression bestätigen lassen, oder ob die Erkrankung bereits für die Fahreignung in ausreichendem Maße behandelt wird, so dass eine potentielle Gefährdung Dritter nicht zu befürchten ist.“ Es ist daher unschädlich, dass die Antragsgegnerin die Fragestellung allgemein auf psychische Störungen im Sinne von Nr. 7 der Anlage 4 der Fahrerlaubnis-Verordnung erstreckt hat, auch wenn einige hiervon umfasste Eignungsmängel (z.B. schwere Altersdemenz und schwere Persönlichkeitsveränderungen durch pathologische Alterungsprozesse, Nr. 7.3 oder schwere Intelligenzstörungen/geistige Behinderung, Nr. 7.4) im Fall des Antragstellers ausscheiden. Durch die zur Begründung angegebene Depression ist die Fragestellung hinreichend klar auf diesen Fahreignungsmangel fokussiert.
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c) Schließlich vermag der Antragsteller die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung und die dort getroffene Interessenabwägung auch mit dem Vorbringen, er sei auf die Fahrerlaubnis angewiesen, nicht in Zweifel zu ziehen. Da nach § 11 Abs. 8 FeV davon auszugehen ist, dass ihm die Fahreignung fehlt, ist die daran anknüpfende Entziehung der Fahrerlaubnis zum Schutz von Leben und Gesundheit der anderen Verkehrsteilnehmer zwingend und verhältnismäßig. Im Hinblick auf den hohen Rang dieser Rechtsgüter haben das Mobilitätsbedürfnis des Antragstellers und die Bedeutung der Fahrerlaubnis für seine Lebensführung dahinter zurückzustehen.
24
d) Zur Verpflichtung, den Führerschein abzugeben (Nr. 2 des Bescheids, vgl. § 47 Abs. 1 FeV), zur Zwangsgeldandrohung (Nr. 3 des Bescheids, vgl. Art. 29 Abs. 2 Nr. 1, Art. 31, Art. 36 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 5 VwZVG) und zur Kostenentscheidung (Nr. 5 und 6 des Bescheids) enthält die Beschwerdebegründung keine Ausführungen. Dies hat zur Folge, dass die Beschwerde insoweit unzulässig und zu verwerfen ist (§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 4 VwGO).
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 47, § 52 Abs. 1 i.V.m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, 46.1 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
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4. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).