Titel:
kein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach zuvor durch Täuschung erschlichenen Titels
Normenketten:
BayVwVfG Art. 48
AufenthG § 25b Abs. 1 S. 1, S. 2
Leitsätze:
1. Bei durch Täuschung erlangten (auch unbefristeten) Aufenthaltstiteln besteht in der Regel ein gewichtiges öffentliches Interesse an deren Rücknahme. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Mit der rückwirkenden Rücknahme der Aufenthaltstitel entfällt deren rechtsgestaltende Wirkung im Hinblick auf die Herstellung eines im Sinne der Vorschrift des § 25b Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AufenthG „erlaubten“ (erlaubten, gestatteten oder geduldeten) Aufenthalts. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Rücknahme von durch Täuschung erschlichenen Aufenthaltstiteln, Ermessen, Aufenthaltserlaubnis für gut integrierte Ausländer, Rücknahme von Aufenthaltstiteln, Aufenthaltserlaubnis, intendiertes Ermessen, Täuschung
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 26.07.2022 – M 4 K 19.357
Fundstelle:
BeckRS 2023, 4258
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,-- Euro festgesetzt.
Gründe
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Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen die Rücknahme von Aufenthaltstiteln sowie auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis weiter.
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Dem Kläger, der 1996 im Alter von 29 Jahren erstmals in das Bundesgebiet eingereist war, wurden nach erfolglosem Abschluss seines Asylverfahrens aufgrund seiner Behauptung, afghanischer Staatsangehöriger zu sein, am 3. Mai 2000, 27. April 2001, 26. April 2002 und 29. Juli 2003 befristete Aufenthaltsbefugnisse sowie am 13. Juli 2004 eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung, die später als Niederlassungserlaubnis fort galt, erteilt. Nachdem der Kläger Anfang Januar 2016 erstmals unter Berichtigung seiner Identität mitgeteilt hatte, nicht afghanischer, sondern pakistanischer Staatsangehöriger zu sein, nahm die Beklagte mit dem angegriffenen Bescheid vom 25. Februar 2019 alle Aufenthaltstitel mit Wirkung für die Vergangenheit zurück und wies den Kläger aus dem Bundesgebiet aus. Hiergegen erhob der Kläger Klage und begehrte zugleich hilfsweise die Verpflichtung der Beklagten, ihm eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG zu erteilen bzw. hierüber eine Ermessensentscheidung zu treffen. Während des gerichtlichen Verfahrens hat die Beklagte die Ausweisung des Klägers aufgehoben. Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom 26. Juli 2022 im Übrigen ab.
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Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, die Rücknahme der dem Kläger erteilten Aufenthaltstitel sei rechtmäßig und verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Aufenthaltstitel seien rechtswidrig, weil der Kläger in Wirklichkeit pakistanischer Staatsangehöriger und nicht – wie bei der Beantragung der Aufenthaltstitel behauptet und durch die Vorlage eines unrichtigen afghanischen Passes belegt – afghanischer Staatsangehöriger. Die Rücknahme sei ermessensgerecht erfolgt. Insbesondere habe die Beklagte bei ihrer Ermessensentscheidung den langjährigen Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet sowie seine wirtschaftliche Integration berücksichtigt. Vor dem Hintergrund, dass der Aufenthalt im Wesentlichen auf einer Täuschung beruhe und der Kläger sonst keine wesentlichen Integrationsleistungen erbracht habe, habe sie dies gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Herstellung rechtmäßiger Zustände jedoch zu Recht als weniger gewichtig angesehen. Zu Recht sei die Beklagte auch davon ausgegangen, dass dem Kläger, der in Pakistan aufgewachsen sei, eine Rückkehr dorthin zumutbar sei. Die Beklagte habe berücksichtigt, dass sich die Rücknahme auf die Anrechnung von Voraufenthaltszeiten für eine in Betracht kommende Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG auswirke und auch geprüft, ob der Kläger einen Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG habe, dies aber zutreffend verneint. Der Kläger sei nicht nachhaltig integriert. Durch die rechtmäßige Rücknahme der Aufenthaltstitel für die Vergangenheit fehle es an dem in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG geforderten ununterbrochenen, geduldeten, gestatteten oder erlaubten Voraufenthalt von mindestens acht Jahren. Auch habe sich der Kläger bislang nicht i.S.d. § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekannt. Die gleichwohl anzustellende Gesamtbetrachtung der Integration des Klägers falle zu seinen Lasten aus. Zwar sei er wirtschaftlich gut integriert, habe aber nicht vorgetragen, dass er darüber hinaus besondere Integrationsleistungen, wie etwa ein herausgehobenes soziales Engagement, erbracht habe. Er verfüge über keinen Schulabschluss oder eine berufliche Ausbildung. Die Sprachkenntnisse gingen nicht über die Mindestanforderung hinaus, schriftlich habe der Kläger das Niveau A1 nicht erreicht. Ohne dass es hierauf entscheidungserheblich ankomme, sei beim Kläger darüber hinaus auch deshalb eine nachhaltige Integration im Sinne des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu verneinen, weil der größte Teil der Integrationsleistungen bis zur Offenlegung der wahren Identität des Klägers mit Schreiben vom 5. Januar 2016 unter Täuschung über die Identität und Staatsangehörigkeit erbracht worden sei. Die Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG bzw. auf eine entsprechende Ermessenentscheidung der Beklagten sei jedenfalls unbegründet.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich weder ein Verfahrensfehler im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO (1.) noch ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (2.) noch eine Abweichung von obergerichtlicher Rechtsprechung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO (3.).
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1. Ein Verfahrensfehler im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO liegt nicht vor.
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Soweit das Zulassungsvorbringen der Sache nach einen Verstoß gegen die Hinweispflicht des Gerichts rügt, wird ein Verfahrensfehler – etwa ein Verstoß gegen die gerichtliche Hinweispflicht aus § 86 Abs. 3 VwGO oder gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör – nicht dargelegt. Nach ständiger Rechtsprechung besteht keine, auch nicht aus Art. 103 Abs. 1 GG abzuleitende, generelle Pflicht des Gerichts, die Beteiligten vorab auf seine Rechtsauffassung oder die mögliche Würdigung des Sachverhalts hinzuweisen, weil sich die tatsächliche oder rechtliche Einschätzung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Entscheidungsfindung nach Schluss der mündlichen Verhandlung ergibt. Das Verwaltungsgericht wäre lediglich verpflichtet gewesen, entsprechende Hinweise zu erteilen, wenn es seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten oder sonst hervorgetretenen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt hätte stützen und damit dem Rechtsstreit eine Wendung hätte geben wollen, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens auch unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchten, und die Beteiligten sich dazu nicht äußern konnten (stRspr, vgl. BVerwG, B.v. 29.11.2021 – 8 B 15.21 – juris Rn. 7). Wenn der Kläger insofern vorträgt, in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht sei es zu § 25b AufenthG nur um die notwendigen Aufenthaltszeiten im Sinne von § 25 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG, nicht aber um die Voraussetzungen des § 25 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG gegangen, wird ein Verfahrensfehler nicht aufgezeigt. Denn der anwaltlich vertretenen Kläger musste auch ohne richterlichen Hinweis damit rechnen, dass das Vorliegen sämtlicher in § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG ausdrücklich aufgeführter Tatbestandsvoraussetzungen relevant sein würde. Unabhängig davon kommt es auf das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG nicht entscheidungserheblich an (dazu sogleich).
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2. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
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Solche Zweifel bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Das ist vorliegend nicht der Fall.
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a) Dies gilt zunächst für die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Rücknahme der Aufenthaltstitel des Klägers sei rechtmäßig,
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Gemäß Art. 48 Abs. 1 BayVwVfG kann ein rechtswidriger, begünstigender Verwaltungsakt zurückgenommen werden, wobei gemäß Art. 48 Abs. 3 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und Satz 4 BayVwVfG der Betroffene sich nicht auf schutzwürdiges Vertrauen berufen kann, wenn er den Verwaltungsakt durch Angaben erwirkt hat, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren; in diesem Fall wird der Verwaltungsakt in der Regel mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen.
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Bei der gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit eines Bescheids, durch den ein Aufenthaltstitel zurückgenommen oder widerrufen wird, ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder der Entscheidung des Tatsachengerichts bzw. im Falle eines Antrags auf Zulassung der Berufung im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs zugrunde zu legen (BVerwG, U.v. 13.4.2010 – 1 C 10.09 – juris Leitsatz 1).
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Der Zulassungsantrag zieht nicht in Zweifel, dass die dem Kläger erteilten Aufenthaltstitel rechtswidrig i.S.d. Art. 48 Abs. 1 BayVwVfG waren und im Sinne von Art. 48 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 BayVwVfG mittels arglistiger Täuschung durch den Kläger erwirkt wurden. Die erhobenen Einwände wenden sich ausschließlich gegen die Ausführungen des Erstgerichts zur Ermessensausübung der Beklagten. Sie greifen im Ergebnis nicht durch.
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aa) Zunächst hat die Beklagte entgegen der Behauptung im Zulassungsantrag kein „intendiertes Ermessen“ ausgeübt, indem sie das öffentliche Interesse, insbesondere im Aufenthaltsrecht Täuschungshandlungen entgegenzuwirken als gegenüber den privaten Interessen des Klägers gewichtiger eingeschätzt hat. Der Kläger sieht hierin die Ausübung eines intendierten Ermessens, das es nach der Rechtsprechung im Rahmen des Art. 48 Abs. 1 BayVwVfG nicht gebe. Dieser Einwand greift nicht durch. Als intendiertes Ermessen bezeichnet man eine Ermessensbetätigung, bei der die Ausübung des Ermessen durch eine gesetzgeberische Wertung in eine bestimmte Richtung vorgezeichnet ist (vgl. etwa BVerwG, U.v. 5.7.1985 – 8 C 22/83 – BVerwGE 72, 1 – juris Rn. 22). Die Behörde hat sich bei der Ausübung dieses Ermessens an der Intention des Gesetzgebers auszurichten (vgl. § 114 Satz 1 VwGO). Ein Ermessensfehler kann in diesem Zusammenhang darin bestehen, dass die Behörde ein intendiertes Ermessen verkennt oder zu Unrecht von einem intendierten Ermessen ausgeht. Beides ist vorliegend nicht der Fall. Allein der Umstand, dass eine Behörde bestimmte Interessen bei der Ermessensbetätigung höher gewichtet als andere, spricht auch dann nicht für die Annahme, dass sie (zu Unrecht) von einem intendierten Ermessen ausgeht, wenn diese Gewichtung regelmäßig zu einem bestimmten Ergebnis führt.
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bb) Zu Unrecht rügt das Zulassungsvorbringen, die Beklagte habe den Schutz des Privatlebens nach Art. 8 EMRK lediglich im Hinblick auf die Ausweisung des Klägers, nicht aber im Rahmen der Betätigung des Rücknahmeermessen im Rahmen des Art. 48 Abs. 1 BayVwVfG berücksichtigt. Auch hat das Verwaltungsgericht – entgegen der Rüge des Klägers – ein Gesamtwürdigung der Lebensumstände des Klägers vorgenommen.
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Nach der Rechtsprechung des EGMR (vgl. bspw. U.v. 27.10.2005 – Nr. 32231/02 – juris Rn. 57 ff.; U.v. 24.11.2009 – Nr. 182/08 – juris; U.v. 25.3.2010 – Nr. 40601/05 – juris Rn. 54 ff.; U.v. 20.9.2011 – Nr. 25021/08 – juris Rn. 57 ff.) kommt eine den Schutz des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK auslösende Verbindung mit der Bundesrepublik Deutschland als Aufenthaltsstaat danach für solche Ausländer in Betracht, die auf Grund eines Hineinwachsens in die hiesigen Verhältnisse mit gleichzeitiger Entfremdung von ihrem Heimatland so eng mit der Bundesrepublik Deutschland verbunden sind, dass sie gewissermaßen deutschen Staatsangehörigen gleichzustellen sind, während sie mit ihrem Heimatland im Wesentlichen nur noch das formale Band ihrer Staatsangehörigkeit verbindet. Entscheidend ist, ob sich der Ausländer erfolgreich in dem betreffenden Vertragsstaat persönlich, wirtschaftlich und sozial integriert hat und aufgrund seiner Entwicklung und des Hineinwachsens in die hiesigen Lebensverhältnisse die Merkmale eines sog. „faktischen Inländers“ ohne deutsche Staatsangehörigkeit aufweist („Verwurzelung“) und ihm wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug hat, nicht zugemutet werden kann (BayVGH, B.v. 4.3.2019 – 10 ZB 18.2195 – juris Rn. 10; BayVGH, B.v. 3.7.2017 – 19 CS 17.551 – juris Rn. 10). Stellt eine Aufenthaltsbeendigung einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK dar, so sind in einer Güterabwägung unter Berücksichtigung der Verhältnisse des Einzelfalls das öffentliche Interesse an einer geordneten Einwanderung und der Rückkehr ausreisepflichtiger Ausländer mit dem Schutz auf Privatleben abzuwägen (vgl. EGMR, U.v. 8.11.2016 – Nr. 56971/10 – juris; BVerwG, B.v. 14.12.2010 – 1 B 30.10 – juris Rn. 3; U.v. 27.6.2006 – 1 C 14.05 – juris Rn. 17; BayVGH, B.v. 3.2.2017 – 19 CS 17.551 – juris Rn. 9 ff.).
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Gemessen daran weist die Rücknahmeentscheidung der Beklagten kein Ermessensdefizit im Hinblick auf Art. 8 EMRK auf. Dem Kläger ist zuzugeben, dass die Beklagte Art. 8 ERMK bei der Begründung des Rücknahmeermessens zunächst nicht ausdrücklich als Prüfungsmaßstab genannt hat. Die Beklagte hat aber die maßgeblichen Kriterien, die Integration als Verwurzelung des Klägers in die hiesigen Verhältnisse und die Entwurzelung aus den pakistanischen Verhältnissen, in ihrer Begründung der Ausübung des Rücknahmeermessens der Sache nach ausführlich gewürdigt (S. 5 bis 9 des angegriffenen Bescheids). Dabei ist sie insbesondere auf die Aufenthaltsdauer, die wirtschaftliche und soziale Integration, die Sprachkenntnisse und die persönlichen Bindungen des Klägers im Bundesgebiet eingegangen. Damit ist den Anforderungen des Art. 8 EMRK an die Ermessenausübung grundsätzlich genüge getan. Einer ausdrücklichen Nennung von Art. 8 EMRK bedurfte es insoweit nicht, zumal die Beklagte ihre Ermessensbetätigung im Bescheid anhand des Vorbringens im Anhörungsverfahren im Grunde noch einmal überprüft hat (S. 9 bis 10 des angegriffenen Bescheids). Dabei hat sie auch ausgeführt, der Kläger habe einen Verstoß gegen Art. 8 ERMK gerügt, der Sache nach aber „keine weiteren Gesichtspunkte vorgebracht, welche nicht bereits an den entsprechenden Stellen dieses Bescheids berücksichtigt“ worden seien.
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Dabei hat die Beklagte die Integrationsleisten nicht fehlgewichtet. Wenn der Kläger dazu rügt, seine Integrationsleistungen seien in diesem Zusammenhang nicht ausreichend berücksichtigt worden, zeigt er letztlich keinen konkreten Ermessensfehler der Beklagten auf, sondern setzt lediglich seine Gewichtung und Abwägung an die Stelle der rechtlich nicht zu beanstandenden Erwägungen der Beklagten. Insbesondere durfte die Beklagte berücksichtigen, dass der langjährige Aufenthalt und die dabei erbrachten Integrationsleistungen Folge von durch arglistige Täusche erschlichenen Aufenthaltstiteln waren. Dabei kommt es auf die vom Zulassungsvorbringen angegriffene Erwägung des Verwaltungsgerichts, dass Art. 8 EMRK nur eine Verwurzelung während eines rechtmäßigen Aufenthalts schütze, letztlich nicht entscheidungserheblich an. Denn eine erhebliche indizielle Wirkung für auf eine mangelnde Integration in die Rechts- und Gesellschaftsordnung ist bei nachhaltigen Täuschungshandlungen regelmäßig – und auch hier – anzunehmen. Die weitere Annahme der Beklagten, dass bei durch Täuschung erlangten (auch unbefristeten) Aufenthaltstiteln in der Regel ein gewichtiges öffentliches Interesse an deren Rücknahme besteht, steht in Einklang mit der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BVerwG, U.v. 13.4.2010 – 1 C 10.09 – juris Rn. 22).
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cc) Schließlich wird mit dem Zulassungsvorbringen auch nicht substantiiert dargelegt, dass im Rahmen der Prüfung der Ermessensbetätigung der Beklagten ernstliche Zweifel an der Annahme des Verwaltungsgerichts bestünden, der Kläger erfülle nicht die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG.
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Unabhängig von der Frage, ob das Bestehen eines Anspruchs auf die Erteilung einer (befristeten) Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG bei der Rücknahme der zuletzt erteilten (unbefristeten) Niederlassungserlaubnis maßgebliches Gewicht für die Ermessenentscheidungen zukommen kann (BVerwG, U.v. 13.4.2010 – 1 C 10.09 – juris Rn. 18 spricht insofern von einem „gleichwertigen“ Aufenthaltstitel), legt das Zulassungsvorbringen nicht dar, dass beim Kläger die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 25b AufenthG erfüllt wären.
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Nach § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG in der für die Entscheidung des Senats maßgeblichen (s.o.), seit dem 21. Dezember 2022 geltenden Fassung des Gesetzes zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts (BGBl. I S. 2847) kann einem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich nachhaltig in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland integriert hat. Dies setzt gemäß § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG regelmäßig voraus, dass der Ausländer die dort unter Nr. 1 bis 5 aufgezählten konkreten Voraussetzungen erfüllt. Da diese Voraussetzungen nur „regelmäßig“ gegeben sein müssen, kann von einer nachhaltigen Integration im Einzelfall auch dann auszugehen sein, wenn sie nicht vollständig erfüllt werden, der Ausländer aber besondere Integrationsleistungen von vergleichbarem Gewicht erbracht hat oder einzelne benannte Integrationsvoraussetzungen „übererfüllt“, und dadurch das nicht vollständig erfüllte „Regel-Merkmal“ kompensiert wird. In derartigen Fällen ist grundsätzlich eine Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls vorzunehmen (BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – BVerwGE 167, 211 – juris Rn. 32).
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Die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Kläger erfülle aufgrund der Rücknahme der Aufenthaltstitel nicht die Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG im Hinblick auf einen mindestens sechsjährigen (zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht: achtjährigen) erlaubten, gestatteten oder geduldeten Aufenthalt, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Mit der rückwirkenden Rücknahme der Aufenthaltstitel entfällt deren rechtsgestaltende Wirkung im Hinblick auf die Herstellung eines im Sinne der Vorschrift „erlaubten“ Aufenthalts (OVG SH, B.v. 3.5.2022 – 4 MB 5/22 – juris Rn. 25). Dies gilt ungeachtet der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Rücknahmebescheid (§ 84 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG).
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Soweit der Kläger insofern einwendet, das Verwaltungsgericht habe dabei übersehen, dass er in der Zeit zwischen der Mitteilung, er sei pakistanischer Staatsangehöriger (Januar 2016), und dem Ende der Überprüfung seines pakistanischen Passes durch das Landeskriminalamt (August 2017) nicht habe abgeschoben werden können und deshalb einen Anspruch auf eine Duldung gehabt habe, greift dies nicht durch. Ungeachtet der Frage, ob solche hypothetischen Erwägungen überhaupt beachtlich sein können, vermag diese Überlegung allenfalls einen (hypothetischen) Duldungsanspruch bis August 2017 zu begründen. § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG setzt seinem eindeutigen Wortlaut nach jedoch einen ununterbrochenen (vgl. Röcker in Bergmann/Dienelt, AufenthG, 14. Aufl. 2022, § 25b Rn. 12; Kuth in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand 1.10.2022, § 25b AufenthG Rn. 15) Zeitraum von sechs Jahren voraus. Zwischen August 2017 und der Entscheidung des Senats ist ein Duldungsanspruch nicht ersichtlich. Für eine Berücksichtigung der Zeiten nach der Rücknahme der Aufenthaltstitel, in denen der Aufenthalt des Klägers zwar rechtswidrig, die Ausreisepflicht aber noch nicht vollziehbar war, besteht – entgegen der Auffassung des Klägers – keine normative Grundlage. Vielmehr bringt § 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG zum Ausdruck, dass solche Zeiten bei der Berechnung von Zeiten eines rechtmäßigen Aufenthalts bis zur Aufhebung des die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beendenden Verwaltungsaktes unberücksichtigt bleiben.
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Auch im Übrigen zieht das Zulassungsvorbringen die aufgrund der Nichterfüllung der Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG erforderliche Gesamtbetrachtung des Verwaltungsgerichts zur Frage der nachhaltigen Integration des Klägers nicht ernstlich in Zweifel. Insbesondere verfängt der Einwand, das Erstgericht habe die wirtschaftliche Integration und den langen Aufenthalt des Klägers zu wenig berücksichtigt, nicht. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr ausdrücklich ausgeführt, dass der Umstand, dass der Kläger seit 1997 seinen Lebensunterhalt selbst sichert und viele Jahre beim gleichen Arbeitgeber beschäftigt war, dazu führen könne, die Regelvoraussetzung des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG als „übererfüllt“ anzusehen (zum Argument des Klägers, er sei als „Küchenchef“ beschäftigt, merkt der Senat an, dass der Kläger auch nach vielen Jahren der Beschäftigung offenbar lediglich mit dem Mindestlohn vergütet wird). Gleichwohl hat das Verwaltungsgericht angesichts der sonstigen sehr geringen Integrationsleitungen des Klägers in sprachlicher und gesellschaftlicher Hinsicht und des Umstandes, dass der Kläger maßgebliche Zeiten der wirtschaftlichen Integration nur aufgrund der Täuschung über seine Identität und Staatsangehörigkeit erbringen konnte, zu Recht festgestellt, dass dem Kläger eine nachhaltige Integration nicht gelungen sei. Der Kläger hat lediglich mündliche Deutschkenntnisse im Mindestumfang des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AufenthG, schriftliche Kenntnisse überhaupt nicht nachgewiesen. Ein besonderes soziales oder gesellschaftliches Engagement ist nicht ersichtlich und mit dem Zulassungsvorbringen, das lediglich auf „viele Freunde“ verweist, auch nicht dargelegt. Auch in diesem Zusammenhang kann dahinstehen, ob – wie das Verwaltungsgericht meint – Integrationsleistungen, die auf langjährigen Falschangaben zur Identität beruhen, bei der Gesamtbetrachtung im Rahmen von § 25b Abs. 1 AufenhtG grundsätzlich unberücksichtigt zu bleiben haben (so möglicherweise BayVGH, B.v. 15.10.2019 – 19 CS 18.164 – juris Rn. 13). Nachhaltigen Täuschungshandlungen kommt jedenfalls regelmäßig – und auch hier – eine nicht unerhebliche indizielle Wirkung für eine mangelnde Integration in die Rechts- und Gesellschaftsordnung zu.
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Vor diesem Hintergrund fällt der Umstand, dass der Kläger während des Zulassungsverfahrens ein schriftliches Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung (vgl. § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG) abgegeben hat, für die Gesamtwürdigung nicht mehr maßgeblich ins Gewicht. Gleiches gilt im Hinblick darauf, dass der Kläger bislang keine Nachweise über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet vorgelegt hat, sodass dahinstehen kann, inwieweit er aufgrund einer Erkrankung oder seines Bildungsgrades dazu nicht in der Lage ist.
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b) Nach alledem begegnet auch die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG bzw. auf eine entsprechende Ermessenentscheidung der Beklagten sei jedenfalls unbegründet, keinen ernstlichen Richtigkeitszweifeln.
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3. Auch eine Abweichung des erstinstanzlichen Gerichts von obergerichtlicher Rechtsprechung (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) ist nicht hinreichend dargelegt und liegt auch nicht vor.
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Die Darlegung einer Divergenz erfordert, dass ein inhaltlich bestimmter, die angefochtene Entscheidung tragender Rechts- oder Tatsachensatz bezeichnet wird, mit dem die Vorinstanz von einem in der Rechtsprechung eines übergeordneten Gerichts aufgestellten ebensolchen entscheidungstragenden Rechts- oder Tatsachensatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift abgewichen ist. Die divergierenden Sätze sind einander so gegenüberzustellen, dass die Abweichung erkennbar wird (stRspr, vgl. BayVGH, B.v. 22.3.2019 – 10 ZB 18.2598 – juris Rn. 18; B.v. 18.4.2019 – 10 ZB 18.2660 – juris Rn. 9 m.w.N.). Es genügt nicht, wenn in der angegriffenen Entscheidung ein in der Rechtsprechung der übergeordneten Gerichte aufgestellter Grundsatz lediglich übersehen, übergangen oder in sonstiger Weise nicht richtig angewandt worden ist (BVerwG, B.v. 20.7.2016 – 6 B 35.16 – juris Rn. 12 m.w.N).
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Gemessen daran zeigt das Zulassungsvorbringen eine entscheidungserhebliche Divergenz nicht auf.
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Soweit der Kläger der Sache nach rügt, die Anwendung von Art. 48 Abs. 4 Satz 2 BayVwVfG, wonach die Jahresfrist des Art. 48 Abs. 4 Satz 1 BayVwVfG für die Rücknahmeentscheidung in Fällen arglistiger Täuschung nicht gilt, verstoße gegen die vom Bundesverfassungsgericht (B.v. 16.12.1981 – 1 BvR 898/79 – juris Rn. 58 und 62) aufgestellten Rechtssätze, dass „(d) ie grundsätzliche Möglichkeit, gegenüber einer Rücknahme oder einem Widerruf begünstigender Verwaltungsakte Vertrauensschutz geltend zu machen, also eine Abwägung der einander entgegenstehenden Allgemein- und Individualinteressen herbeizuführen, (…) zu den im Rechtsstaatsprinzip verfassungskräftig verankerten Geboten“ gehöre und „(a) uch für die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte (…) nach § 48 VwVfG, den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts und dem im Rechtsstaatsprinzip enthaltenen Grundsatz des Vertrauensschutzes (gelte), dass in jedem Falle das Vertrauen des Begünstigten auf den Bestand des Verwaltungsaktes gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme abzuwägen ist“, zeigt er eine entscheidungserheblich Divergenz nicht auf. Denn anders als das Zulassungsvorbringen meint, führt die Anwendung von Art. 48 Abs. 4 Satz 2 BayVwVfG gerade nicht dazu, dass Vertrauensschutzerwägungen ausgeschlossen wären. Art. 48 Abs. 4 Satz 2 BayVwVfG hat lediglich zur Folge, dass in Fällen arglistiger Täuschung auch nach Jahresfrist noch eine Abwägung von Vertrauensschutz einerseits und öffentlichem Rücknahmeinteressen andererseits vorgenommen werden kann. Dass das Verwaltungsgericht das Vertrauen des Klägers in den Fortbestand seiner Aufenthaltstitel allein durch die Anwendung von Art. 48 Abs. 4 Satz 2 BayVwVfG als von vornherein nicht schützenswert behandelt hätte, trifft demnach nicht zu.
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Soweit sich der Kläger dabei gegen die konkrete Abwägung des Verwaltungsgerichts wendet, macht er der Sache nach lediglich erneut Richtigkeitszweifel im Gewande der Divergenzrüge geltend.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).