Titel:
Unzulässiges Ablehnungsgesuch und erfolglose Anhörungsrüge
Normenketten:
VwGO § 54 Abs. 1, § 152a
GG Art. 103 Abs. 1
Leitsätze:
1. Eine erstmals im Rahmen einer Anhörungsrüge gem. § 152a VwGO geäußerte Richterablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit ist unzulässig. (Rn. 2) (redaktioneller Leitsatz)
2. Einwände gegen die tatrichterliche Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind grundsätzlich dem materiellen Recht zuzuordnen und können daher die Annahme eines Gehörsverstoßes regelmäßig nicht begründen. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ablehnungsgesuch, Anhörungsrüge, Befangenheit, Sachverhaltswürdigung, Beweiswürdigung, Gehörsverstoß
Vorinstanz:
VGH München, Beschluss vom 15.02.2023 – 10 AS 23.94
Fundstelle:
BeckRS 2023, 4256
Tenor
I. Das gegen die Mitglieder des 10. Senats des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs in der Besetzung des angegriffenen Beschlusses vom 15. Februar 2023 (10 AS 23.94) gerichtete Ablehnungsgesuch wird verworfen.
II. Die Anhörungsrüge der Antragstellerin wird zurückgewiesen.
III. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
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1. Das Ablehnungsgesuch der Antragstellerin nach § 54 Abs. 1 VwGO ist unzulässig und − unter Mitwirkung der abgelehnten Richter und der abgelehnten Richterin in der Besetzung des angegriffenen Beschlusses vom 15. Februar 2023 (10 AS 23.94) − zu verwerfen.
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a) Eine erstmals im Rahmen einer Anhörungsrüge gemäß § 152a VwGO geäußerte Richterablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit ist unzulässig. Der Zulässigkeit eines solchen Ablehnungsgesuchs steht entgegen, dass in dieser prozessualen Situation das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen – die Anhörungsrüge hemmt den Eintritt der Rechtskraft nicht − und damit unanfechtbar ist (vgl. § 152a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwGO), mit der Folge, dass eine weitere richterliche Streitentscheidung in der Sache nicht mehr erforderlich ist. Des Weiteren stehen die Funktion des Anhörungsrügeverfahrens und der Prüfungsmaßstab der Anhörungsrügenentscheidung einer Zulässigkeit des Ablehnungsgesuchs entgegen, da nach § 152a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VwGO das Gericht die unanfechtbare Entscheidung ausschließlich im Hinblick auf die dargelegte Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör prüft (vgl. BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 10 CE 20.2350 u. 10 S 20.2351 – Rn. 1; B.v. 19.2.2018 – 10 ZB 18.406 – juris Rn. 2; B.v. 7.11.2016 – 10 BV 16.962 – juris Rn. 6 ff.; OVG Bremen, B.v. 16.3.2021 – 1 B 117/21 – juris Rn. 1; ThürOVG, B.v. 2.6.2017 – 3 SO 79/17 – juris Rn. 1; SächsOVG, B.v. 11.10.2016 – 3 D 83/16 – juris Rn. 3; VGH BW, B.v. 8.6.2016 – 1 S 783/16 – juris Rn. 3 ff. m.w.N.).
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b) So liegt der Fall hier. Der Beschluss des Senats vom 15. Februar 2023 hat das Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO rechtskräftig gemäß § 152 Abs. 1 VwGO abgeschlossen (vgl. BA S. 15), und die Antragstellerseite macht die Richterablehnung erstmals im Anhörungsrügenverfahren geltend.
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2. Die am 28. Februar 2023 erhobene und am 3. März 2023 vertiefte Anhörungsrüge der Antragstellerin gegen den nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbaren Beschluss des Senats vom 15. Februar 2023, der ihr am 20. Februar 2023 zugestellt wurde, sowie der gleichzeitig gestellte Antrag auf Erlass einer Zwischenentscheidung in Form eines Hängebeschlusses haben keinen Erfolg.
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a) Der vorgenannte Beschluss des Senats verletzt die Antragstellerin nicht im Sinne von § 152a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VwGO in entscheidungserheblicher Weise in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör.
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aa) Nach § 152a Abs. 1 Satz 1 VwGO ist auf die Rüge eines durch eine gerichtliche Entscheidung beschwerten Beteiligten das Verfahren fortzuführen, wenn ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist (Nr. 1) und das Gericht den Anspruch dieses Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat (Nr. 2). Die Anhörungsrüge stellt keinen Rechtsbehelf zur Überprüfung der inhaltlichen Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung dar.
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Das prozessuale Grundrecht des Anspruchs auf rechtliches Gehör, das verfassungsrechtlich in Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 91 Abs. 1 BV sowie einfachgesetzlich in § 108 Abs. 2 VwGO garantiert ist, sichert den Beteiligten das Recht, mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (vgl. BVerfG, B.v. 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02 – BVerfGE 107, 395 <409> = juris Rn. 42). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte das entgegengenommene Vorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Die Gerichte sind nicht verpflichtet, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu bescheiden. Es ist verfehlt, aus der Nichterwähnung einzelner Elemente des Vorbringens in einem sehr umfangreichen Verfahren zu folgern, das Gericht habe sich mit den darin enthaltenen Argumenten nicht befasst (vgl. BVerwG, B.v. 9.7.2019 – 1 B 51.19 – juris Rn. 2 m.w.N.). Ein Gehörsverstoß liegt deshalb nur vor, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist, ohne dass es unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert war (vgl. BVerfG, B.v. 19.5.1992 – 1 BvR 986/91 – BVerfGE 86, 133 <146> = juris Rn. 39; B.v. 22.11.2005 – 2 BvR 1090/05 – juris Rn. 26; B.v. 29.10.2015 – 2 BvR 1493/11 – juris Rn. 45).
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Einwände gegen die tatrichterliche Sachverhalts- und Beweiswürdigung in Bezug auf den ermittelten Sachverhalt können die Annahme eines Gehörsverstoßes hingegen nicht begründen. Dahinter steht die Erwägung, dass diese grundsätzlich dem materiellen Recht zuzuordnen ist (vgl. BVerwG, B.v. 15.5.2014 – 9 B 14.14 – juris Rn. 8). Das prozessuale Grundrecht des Anspruchs auf rechtliches Gehör vermittelt keinen Schutz davor, dass ein Gericht dem Vorbringen von Beteiligten nicht folgt beziehungsweise dieses aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts nicht weiter aufnimmt (vgl. BVerfG, B.v. 21.4.1982 – 2 BvR 810/81 – BVerfGE 60, 305 <310> = juris Rn. 15).
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Art. 103 Abs. 1 GG statuiert auch keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Gerichts. Das Gericht ist grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet. Auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, muss daher ein Verfahrensbeteiligter grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen. Eine Überraschungsentscheidung liegt nur dann vor, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit welcher ein gewissenhafter und kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfG, B.v. 19.5.1992 – 1 BvR 986/91 – BVerfGE 86, 133 <144 f.> = juris Rn. 36; B.v. 5.3.2018 – 1 BvR 1011/17 – juris Rn. 16; B.v. 29.5.1991 – 1 BvR 1383/90 – BVerfGE 84, 188 <190> = juris Rn. 7; B.v. 25.1.1984 – 1 BvR 272/81 – BVerfGE 66, 116 <147> = juris Rn. 77).
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Gemäß § 152a Abs. 2 Satz 5 VwGO ist das Vorliegen der in § 152a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VwGO genannten Voraussetzungen, mithin eine entscheidungserhebliche Verletzung des Gehörsanspruchs, darzulegen. Die Rüge eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist nur dann hinreichend substantiiert, wenn dem Vorbringen entnommen werden kann, was der Betroffene bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs vorgetragen hätte, denn nur dann kann geprüft und entschieden werden, ob die angegriffene Entscheidung auf dem Gehörsverstoß beruht (vgl. BVerfG, B.v. 14.4.1987 – 1 BvR 332/86 – BVerfGE 75, 201 <216> = juris Rn. 48).
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bb) Gemessen daran hat die Antragstellerin eine Gehörsverletzung in Bezug auf den genannten Beschluss des Senats nicht dargelegt.
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(1) Nicht durchdringen kann die Antragstellerin mit der Rüge, der Senat habe, indem er ohne vorherigen richterlichen Hinweis entschieden habe, dass die von ihr geltend gemachten veränderten Umstände, der Übergang des Eigentums an den Hunden, nicht hinreichend dargetan seien, eine Überraschungsentscheidung erlassen. Die Antragstellerin hätte den von dem Senat angeführten Widerspruch in ihrem Vortrag, bei dem es sich um eine offensichtliche Unrichtigkeit gehandelt hätte, die offensichtlich auf einem redaktionellen Versehen beruht hätte, auf einen richterlichen Hinweis hin beheben können. Ohne einen richterlichen Hinweis habe die Antragstellerin davon ausgehen müssen, dass die anwaltliche Versicherung des Bevollmächtigten von Herrn N* … in der vorgelegten E-Mail ausreichend sei.
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Die Rüge betrifft bereits keinen entscheidungserheblichen Gesichtspunkt. Der Senat hat in dem angegriffenen Beschluss selbständig tragend darauf abgestellt, dass die von der Antragstellerin geltend gemachten nachträglichen Änderungen, die nach den mit Bescheid vom 29. November 2021 erlassenen Duldungsanordnungen ergangen sein sollen, die Erfolgsaussichten der erhobenen Klage nicht verbessern können, weil maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage der Erlasszeitpunkt ist (vgl. BA S. 9 f.). Dies greift die Antragstellerin auch nicht an. Abgesehen davon wendet sich die Antragstellerin gegen die Schlussfolgerungen, die der Senat aus den Unstimmigkeiten im Vortrag und in den vorgelegten Unterlagen der Antragstellerin gezogen hat (vgl. BA S. 10 f.), mithin gegen die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Senats. Dies kann die Annahme eines Gehörsverstoßes indes nicht begründen (s.o.). Im Übrigen obliegt es einem gewissenhaften Beteiligten, zumal in einem Eilverfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO, in dem er auf eine schnelle Entscheidung in Form eines Hängebeschlusses drängt, die geltend gemachten veränderten Umstände widerspruchsfrei und plausibel vorzutragen.
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(2) Gleiches gilt für die Rüge der Antragstellerin, der Senat habe, indem er ohne vorherigen richterlichen Hinweis entschieden habe, dass die Sicherstellung der Hunde nach Art. 7 LStVG ein relatives Verfügungsgebot ausgelöst habe, eine Überraschungsentscheidung erlassen. Die Antragstellerin hätte auf einen richterlichen Hinweis hin zu dem gutgläubigen Erwerb vorgetragen, dass sie von dem Verfügungsverbot keine Kenntnis gehabt hätte. Der Senat habe insoweit unzulässigerweise Vortrag der Antragstellerin antizipiert.
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Auch diese Rüge betrifft keinen entscheidungserheblichen Gesichtspunkt. Unabhängig von dem bereits genannten Aspekt des maßgeblichen Zeitpunktes (s.o.) hat der Senat die behaupteten veränderten Umstände, den Übergang des Eigentums an den Hunden, als nicht hinreichend dargetan angesehen (vgl. BA S. 10 f.). Die Ausführungen des Senats zu dem relativen Verfügungsgebot sind Erwägungen, die er hilfsweise angestellt hat (vgl. BA S. 11: „Selbst wenn …“). Außerdem hat der Senat bereits in seinem vorangehenden Beschluss vom 27. Dezember 2022 zu erkennen gegeben, dass er die mit Bescheid vom 27. Juli 2021 getroffenen Anordnungen der „Wegnahme und Unterbringung“ (samt Kostentragungspflicht) als Sicherstellungsanordnung qualifiziert, worauf er in dem angegriffenen Beschluss hingewiesen hat (vgl. BA S. 12). Insoweit ist auch auf die an dieser Stelle zitierten vorbildhaften Rechtsprechungs- und Literaturfundstellen zu verweisen. In Anbetracht dessen vermag der Senat nicht zu erkennen, dass für einen gewissenhaften Beteiligten, zumal in einem Eilverfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO, in dem er auf eine schnelle Entscheidung in Form eines Hängebeschlusses drängt, die Grenze zu einer Überraschungsentscheidung überschritten wäre. Das von der Antragstellerin als „antizipiert gewertete“ Vorbringen ist nicht entscheidungserheblich, weil sich der Senat auf den Rechtsstandpunkt gestellt hat, dass es für den gutgläubigen Erwerb von einem – aufgrund eines Verfügungsverbots – Nichtberechtigten auf die Kenntnis der tatsächlichen Umstände ankommt (vgl. BA S. 13).
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(3) Nicht zum Erfolg führt schließlich die ergänzende Rüge der Antragstellerin, aus dem Schreiben der Antragsgegnerin vom 3. März 2023 und der Anlage 1 zu dem Bescheid der Antragsgegnerin vom 16. Januar 2023 ergebe sich keine Sicherstellung, sondern nur eine behördliche Wegnahme der Hunde, wobei eine behördliche Wegnahme nicht mit einer Sicherstellung gleichzusetzen sei. Damit ist nicht aufgezeigt, welchen Prozessstoff der Senat in dem angegriffenen Beschluss zu Unrecht übergangen haben soll. Soweit sich die Antragstellerin damit gegen die Rechtsauffassung des Senats zu einer Sicherstellung und dem dadurch ausgelösten relativen Verfügungsverbot wendet, vermag dies eine Gehörsrüge ebenfalls nicht zu begründen (s.o.).
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b) Durch die Entscheidung über die Anhörungsrüge erledigt sich der Antrag auf Erlass einer Zwischenverfügung in Form eines Hängebeschlusses zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO entsprechend in Verbindung § 3 Abs. 2 GKG sowie Nr. 5400 KV. Einer Streitwertfestsetzung bedarf es demnach nicht.
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3. Dieser Beschluss ist nach § 152a Abs. 4 Satz 3 VwGO unanfechtbar.