Inhalt

VGH München, Beschluss v. 27.02.2023 – 19 CE 22.1955
Titel:

Nachholung eines Visumverfahrens eines nicht sorgeberechtigten sonstigen Familienangehörigen zur Familienzusammenführung mit seinem minderjährigen Kind

Normenketten:
AufenthG § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, S. 2, § 29 Abs. 2 Nr. 2, § 36 Abs. 2 S. 1, § 60a Abs. 2 S. 1
EMRK Art. 8
GG Art. 6 Abs. 1
Leitsätze:
1. Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG ist es grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Allein das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft führt ebenso wenig dazu, regelmäßig von der Unzumutbarkeit der Einhaltung des Visumverfahrens auszugehen, wie der Umstand, dass ein kleines Kind betroffen ist, da es im Verantwortungsbereich des Ausländers liegt, die Ausreisemodalitäten und den Ausreisezeitpunkt in Absprache mit der zuständigen Ausländerbehörde so familienverträglich wie möglich zu gestalten (BayVGH BeckRS 2019, 22542). (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
3. Resultiert die prognostizierte Dauer des Visumverfahrens maßgeblich auf der völligen Weigerungshaltung des Ausländers zur Mitwirkung, wird ihm und seinen Kindern die dadurch begründete längere Trennungszeit zumutbar sein. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Zumutbarkeit Nachholung, Visumverfahren, Mitwirkungsverweigerung, Reisefähigkeit, Beschwerde, Nachholung des Visumverfahrens, Prognose der Trennungszeit, Familiennachzug, Vater-Kind-Beziehung, Duldung, Erkrankung, sonstiger Familienangehöriger, Äthiopien, Deutsche Botschaft Addis Abeba, Lebensunterhaltssicherung
Vorinstanz:
VG Würzburg, Beschluss vom 11.08.2022 – W 7 E 22.1074
Rechtsmittelinstanz:
BVerfG Karlsruhe, Beschluss vom 02.11.2023 – 2 BvR 441/23
Fundstelle:
BeckRS 2023, 4244

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250 Euro festgesetzt.
IV. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung der Prozessbevollmächtigten für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe

1
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
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Die Prüfung der für die Begründetheit der Beschwerde streitenden Gründe ist im Grundsatz auf das in der Beschwerdebegründung Dargelegte beschränkt (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO). Danach ergibt sich nicht, dass der Antragsgegner entgegen der Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten wäre, alle aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegenüber dem am 12. September 1984 geborenen, am 27. September 2012 ins Bundesgebiet eingereisten, im Asyl(folge) verfahren erfolglosen (Asylantrag vom 22.10.2012; ablehnender Asylbescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 29.1.2015; klageabweisendes verwaltungsgerichtliches Urteil vom 21.7.2016 <W 3 K 15.30107>; den Antrag auf Zulassung der Berufung ablehnender Beschluss des BayVGH vom 22. März 2017 <21 ZB 16.30876>; Asylfolgeantrag vom 26.6.2018; ablehnender Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 28.9.2018; klageabweisendes verwaltungsgerichtliches Urteil vom 15.7.2019 <Az. W 3 K 18.32100>; den Antrag auf Zulassung der Berufung ablehnender Beschluss des BayVGH vom 17.10.2021 <23 ZB 19.33385>), vom 6. Dezember 2021 bis 11. Mai 2022 wegen fehlender Reisepapiere geduldeten (Vorlage eines am 1.3.2022 ausgestellten äthiopischen Reisepasses am 6.4.2022), ledigen, das Sorgerecht für seine am 30. April 2015 (im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) und am 13. Januar 2021 geborenen (befindet sich noch im Asylverfahren) Töchter gemeinsam mit der vom Antragsteller getrennt lebenden und eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG besitzenden Kindsmutter (bei deren weiterer Tochter ebenfalls die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist) innehabenden Antragsteller, einem äthiopischen Staatsangehörigen, zu unterlassen.
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Zur Begründung der Antragsablehnung führt das Verwaltungsgericht aus, der Antragsteller habe keinen Anspruch auf die beantragte Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG im Hinblick auf den verfassungsrechtlich gewährleisteten Schutz der Familie nach Art. 6 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK glaubhaft gemacht. Eine Ausreise des Antragstellers zum Zweck der Nachholung des Visumverfahrens zum Familiennachzug erweise sich nicht aus Gründen des Schutzes einer bestehenden familiären Bindung des Antragstellers zu seinen Kindern gemäß Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK als rechtlich unmöglich. Dass die Abschiebung aus sonstigen tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht möglich wäre, sei weder vorgetragen noch ersichtlich. Es bestünden vorliegend keine Anhaltspunkte, dass ein Familiennachzug nach §§ 27 ff. AufenthG nicht möglich wäre. Der Antragsteller habe nach der Einreise ohne das erforderliche Visum und nach erfolglosem Abschluss des Asylverfahrens grundsätzlich – nicht anders als andere Ausländer – ein Sichtvermerksverfahren im Heimatland durchzuführen, um einen asylunabhängigen Aufenthaltstitel zu erlangen. Insofern stehe anlässlich der Nachholung des Visumverfahrens grundsätzlich lediglich eine vorübergehende Trennung des Antragstellers von seinen Kindern im Raum. Dem Gericht sei dabei nach Aktenlage auch eine Prognose darüber möglich, welcher Trennungszeitraum zu erwarten sei. Ausweislich des Internetauftritts der Deutschen Botschaft Addis Abeba sei mit Blick auf die Terminvergabe lediglich mit kurzen Wartezeiten von etwa 2 Wochen zu rechnen. Die Bearbeitungszeit für ein Visum zur Familienzusammenführung betrage mindestens 6 Monate. Wie sich aus der Auskunft der Deutschen Botschaft vom 11. Februar 2022 ergebe, die die Zentrale Ausländerbehörde in ihrer E-Mail an den Bevollmächtigten vom 24. Juni 2022 zitiert habe, sei die Dauer des Visumverfahrens dabei vor allem auf die i.d.R. durchzuführende kooperationsanwaltliche Überprüfung der Personenstandsurkunden zurückzuführen. Die Dauer der Überprüfung sei abhängig von der Ausstellungsregion der Urkunden und könne nicht genauer beziffert werden. I.d.R. liege die Dauer nach der Auskunft bei 2 bis 3 Monaten. Auch aus dem Merkblatt der Botschaft zur Überprüfung äthiopischer Urkunden im Wege der Amts- oder Rechtshilfe ergebe sich, dass die Bearbeitungszeit eines Überprüfungsverfahrens im Regelfall mit bis zu 3 Monaten anzusetzen sei. Für Urkunden, die in von der Hauptstadt Addis Abeba weit entfernten Landesteilen ausgestellt worden seien, könne danach die Bearbeitung mitunter länger als 3 Monate dauern. Letztere sei auch abhängig von der aktuellen Sicherheitslage in Äthiopien. Hinzu kämen die Post- und Kurierlaufzeiten für die Übersendung von mindestens 2 Wochen pro Strecke. Das Gericht gehe deshalb auf Grundlage der ihm zur Verfügung gestellten Informationen davon aus, dass der Antragsteller bei vollständig unterbleibender Vorbereitung vom Inland aus etwa 6 ½ Monate von seiner Familie getrennt wäre. Anhaltspunkte für eine längere Trennungszeit seien vorliegend nicht ersichtlich oder vorgetragen. Diese Trennungszeit sei im vorliegenden Einzelfall nicht unzumutbar. Dies folge auch nicht daraus, dass das Bundesamt mit Bescheid vom 28. September 2018 die Frist für das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung festgesetzt habe. Auch diese Frist, die bei einer Abschiebung des Antragstellers nach Äthiopien greife, stelle keine unzumutbar lange Zeitdauer der Trennung von seinen Kindern dar. Auch insoweit sei die Trennung über einen längeren Zeitraum zumutbar, zumal der Antragsteller auch vom Ausland aus oder über seinen Bevollmächtigten einen Antrag auf Verkürzung der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 4 AufenthG stellen könnte. Der Antragsteller sei bereits nicht auf das Angebot eines Beratungsgesprächs zur Nachholung des Visumverfahrens eingegangen. Dass der Antragsteller einen Termin bei der Deutschen Botschaft Addis Abeba vereinbart oder etwa die Durchführung eines Urkundenüberprüfungsverfahrens von Deutschland aus beantragt habe, sei weder vorgetragen noch ersichtlich. Da der Antragsteller bislang keine Schritte zur Nachholung des Visumverfahrens unternommen habe, überwiege das öffentliche Interesse an der Beachtung des Visumverfahrens die schutzwürdigen Interessen des Antragstellers und seiner im Bundesgebiet lebenden Bezugspersonen. Dem Antragsteller könne zugemutet werden, sich für das Sichtvermerkverfahren in das Heimatland zu begeben, ohne dass die Grenze des § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG erreicht würde. Es liege allein in der Einflusssphäre des Antragstellers, den vorliegenden Trennungszeitraum durch ihm mögliche und zumutbare Mitwirkungshandlungen auf etwa zwei bis drei Monate zu verkürzen, insbesondere indem er bereits in Deutschland einen Termin bei der Auslandsvertretung beantragt oder das Urkundenüberprüfungsverfahren vom Bundesgebiet aus in die Wege leitet. Um dies zu ermöglichen, habe der Antragsgegner auch mit Schreiben vom 29. Juni 2022 im Rahmen des Vergleichsvorschlags für den Fall der freiwilligen Ausreise zur Nachholung des Visumverfahrens erklärt, dem Antragsteller eine Duldung nebst Beschäftigungserlaubnis für 6 Monate bzw. für die Dauer der Vorbereitung zur freiwilligen Ausreise zu erteilen. Bei – wie vorliegend – unterbliebener Mitwirkung im Verfahren zur Nachholung des Visumverfahrens geböten Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK jedoch nicht, das öffentliche Interesse an der Einhaltung des Sichtvermerkverfahrens gänzlich zurückzustellen, denn dies bedeutete keinen schonenden Ausgleich der familiären Belange des Ausländers und der gegenläufigen öffentlichen Interessen mehr. Dass die durch die Nachholung des Visumverfahrens einhergehende Trennung des Antragstellers von seinen Kindern einen längeren Zeitraum als die reine Bearbeitungszeit des Visumverfahrens beanspruche, die bei Durchführung eines Urkundenüberprüfungsverfahrens vom Bundesgebiet aus verkürzt werden könnte, beruhe allein auf der eigenverantwortlichen Entscheidung des Antragstellers, die ihm grundsätzlich mögliche und zumutbare Mitwirkung im Visumverfahren zu verweigern. Er habe deshalb hieraus gegebenenfalls resultierende längere Trennungszeiten grundsätzlich hinzunehmen. Einen Anspruch darauf, dass die Erteilung des Visums innerhalb eines genau definierbaren Abwesenheitszeitraums erfolge (wie im Schriftsatz vom 5.7.2022 im Hinblick auf den Vergleichsvorschlag gefordert), habe der Antragsteller nicht, zumal dies die Erkenntnisfähigkeit der Behörden und Gerichte überfordern würde. In Anbetracht dessen, dass der Antragsteller nicht das in seiner Sphäre Liegende beitrage, um das Verfahren zu betreiben und zu einem zeitnahen Abschluss zu bringen, trage er selbst die Verantwortung für damit einhergehende zeitliche Verzögerungen, was ein Absehen von der Durchführung des Visumverfahrens im vorliegenden Fall nicht zu rechtfertigen vermöge. Zwar verkenne das Gericht nicht, dass der Antragsteller ausweislich der Erklärung der Kindsmutter vom 2. November 2021 mehrmals in der Woche bei ihr und den Kindern sei und sich um sie kümmere, so dass sich das Lebensumfeld insbesondere der Kinder nicht unerheblich ändern würde. Auf die Sicht der Kinder unter Berücksichtigung ihres Alters abstellend, könne insbesondere das ältere der Kinder – das jüngere zumindest in einem altersgerechten Umfang – mittlerweile aber auch Kontaktaufnahmen über moderne Telekommunikationsmittel erfassen und auf eine begrenzte Trennungszeit in Präsenz vorbereitet werden, sodass sie die Trennung als lediglich vorübergehend erfahren würden. Bei der Abwägung sei weiter in den Blick zu nehmen, dass es sich vorliegend um einen vergleichsweise überschaubaren Trennungszeitraum von etwa 6 ½ Monaten handle. Der Umstand, dass der Antragsteller eine vorübergehende Trennung von seinen Kindern für die Dauer des Visumverfahrens hinnehmen müsse, stehe daher vorliegend auch bei Berücksichtigung des Schutzgehalts aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK einer Abschiebung nicht entgegen, es liege keine rechtliche Unmöglichkeit vor. Ein Anordnungsanspruch liege auch nicht in Form einer sogenannten Verfahrensduldung (bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis) vor. Der Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis habe vorliegend keine Fiktionswirkung gemäß § 81 Abs. 3 Satz 1 oder Abs. 4 AufenthG. Der Antragsteller habe daher grundsätzlich auch für die Dauer des gerichtlichen Verfahrens auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis keinen Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung. Ein im Rahmen einer einstweiligen Anordnung zu sichernder Anspruch auf Erteilung einer Verfahrensduldung bestehe für den Antragsteller nach summarischer Prüfung nicht. Der Antragsteller habe keinen Anspruch auf Erteilung der beantragten Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG. Beim Antragsteller handle es sich bereits nicht um einen geduldeten Ausländer i.S.d. § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Er sei weder Inhaber einer Duldung, noch habe er einen Anspruch auf Erteilung. Auch aus § 25 Abs. 5 AufenthG könne der Antragsteller keinen zu sichernden Anspruch auf Erteilung einer Verfahrensduldung herleiten. Es fehle vorliegend bereits an den besonderen Erteilungsvoraussetzungen, denn eine (freiwillige) Ausreise des vollziehbar ausreisepflichtigen Antragstellers stelle sich nicht im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG aus rechtlichen (oder tatsächlichen) Gründen als unmöglich dar, weil es mit dem verfassungsrechtlichen Schutz der Familie nach Art. 6 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK im konkreten Fall vereinbar sei, den Antragsteller selbst angesichts etwaig bestehender „einfachrechtlicher Ungewissheiten“ auf die Einholung des erforderlichen Visums zu verweisen; eine insoweit zutage getretene fehlende Bereitschaft zur Mitwirkung in einem Visumverfahren und dadurch bedingte längere Wartezeiten bei der Deutschen Auslandsvertretung in Äthiopien, die zwangsläufig auch eine längere Trennungszeit bedeuten würden, ginge angesichts des gesetzlichen Ausschlussgrunds gemäß § 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG zulasten des Antragstellers. Zudem fehle es jedenfalls an der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung der Nachholung des Visumverfahrens in § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Ausreichende Gründe für ein Absehen hiervon im Wege einer Ermessenreduzierung auf Null seien vorliegend nicht glaubhaft gemacht.
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Zur Begründung seiner Beschwerde lässt der Antragsteller vortragen, der angegriffene Beschluss sei rechtswidrig und verletze ihn in seinen Rechten. Strittig sei zunächst, ob die Ausreise zur Durchführung des Visumverfahrens zu einer unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der familiären Lebensgemeinschaft mit den Kindern sowie der Berücksichtigung des Kindeswohles unzumutbaren Trennung dieser Gemeinschaft führe. Das Verwaltungsgericht umgehe bereits das Kernproblem, nämlich die Frage, ob überhaupt die Erteilung eines Visums erfolge. Trotz entsprechenden Vortrags meine das Verwaltungsgericht lediglich, es beständen keine Anhaltspunkte dafür, dass ein Familiennachzug gem. §§ 27 ff. AufenthG nicht möglich wäre. Allerdings sei bereits im behördlichen Verfahren im Schriftsatz vom 16. Juni 2022 darauf hingewiesen worden, dass dies mindestens zweifelhaft sei. Die Entscheidung über die Visumerteilung erfolge schon nicht durch den Antragsgegner, sondern durch die Bundesrepublik Deutschland, namentlich die Botschaft in Addis Abeba. In Anbetracht des Alters der Kinder – das kleine sei am 13. Januar 2021 geboren worden – wäre eine auch nur vorübergehende Trennung für ein Visumverfahren unzumutbar, da zum einen die Entfremdung bei kleinen Kindern extrem schnell eintrete und zum zweiten die Dauer des Visumverfahrens aus rechtlichen Gründen (kein gesetzlicher Anspruch) sowie aufgrund der tatsächlichen Gegebenheiten in Äthiopien nicht abzusehen wäre. Der Verweis auf ein Visumverfahren würde unter den gegebenen Umständen die Kinder des Antragstellers mit größter Wahrscheinlichkeit mindestens über mehrere Jahre hinweg zu Halbwaisen machen. Die Botschaft in Addis Abeba sei an eine etwaige – hier übrigens nicht einmal konkret in Aussicht gestellte – Vorabzustimmung nicht gebunden. Andere Anspruchsgrundlagen als § 36 Abs. 2 AufenthG seien nicht ersichtlich. Die Annahme einer „außergewöhnlichen Härte“ i.S. des § 36 Abs. 2 AufenthG sei vorliegend keineswegs selbstverständlich. Man könnte es nämlich schon als Wertungswiderspruch sehen, den Nachzug eines Elternteils zu einem anerkannten Flüchtling auf der Grundlage des § 36 Abs. 2 AufenthG auch dann zu gewähren, wenn sich der weitere Elternteil schon in Deutschland befinde, wenn der Gesetzgeber gerade für diese Konstellation den Anspruch auf Nachzug in § 36 Abs. 1 AufenthG ausgeschlossen habe. Zudem ziele die Rechtsprechung des zuständigen OVG Berlin-Brandenburg zur Auslegung des Tatbestandsmerkmales der „außergewöhnlichen Härte“ auf eine dringende Angewiesenheit des hier lebenden Familienmitgliedes auf die Lebenshilfe durch den/die Visumsantragstellerin ab (z.B. OVG Berlin-Brandenburg, 21.10.2021, OVG3 S 43/21). Daran könnte man im Hinblick auf die hier lebende Mutter begründete Zweifel hegen. Darüber hinaus setze auch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 36 Abs. 2 AufenthG das Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen voraus, also u.a. Wohnraum und Sicherung des Lebensunterhaltes (OVG Berlin-Brandenburg, 5.12.2018, OVG 3 B 8.18). Eben dies wäre durch einen Auslandsaufenthalt von unbestimmter Dauer oder auch nur einer Dauer von mehreren Monaten gefährdet – abgesehen davon, dass der Antragsgegner derzeit dem Antragsteller die Beschäftigungsgenehmigung entzogen habe. Dem Antragsteller könne nicht für mehrere Monate oder gar auf unbestimmte Zeit ein Arbeitsplatz freigehalten werden. Selbst bei der – eben nicht hinreichend sicheren – Annahme seiner erneuten Einstellung wäre als fraglich, ob das Einkommen (ca.1.600,00 EUR netto) angesichts der Wohnkosten (358,00 EUR) im Hinblick auf die Unterhaltsansprüche seiner beiden Kinder seitens der Botschaft als ausreichend angesehen werde, da sich ein Leistungsbetrag unterhalb des Regelbetrages der Düsseldorfer Tabelle (424,00 EUR) errechnen würde. Der Antragsteller könne seine Wohnung nicht weiter finanzieren, so dass deren Verlust drohe, mithin fehle es am erforderlichen Wohnraum. Selbst wenn man die Annahme einer außergewöhnlichen Härte sowie das Vorliegen und Fortbestehen der weiteren notwendigen Erteilungsvoraussetzungen (hinreichendes Einkommen, Wohnraum) oder eine diesbezügliche Ermessensausübung der Botschaft zu Gunsten des Antragstellers unterstellen würde, wäre damit lediglich das Erteilungsermessen des § 36 Abs. 2 AufenthG eröffnet. Hier verbleibe der Botschaft ein rechtlich nur eingeschränkt zu kontrollierender Ermessensspielraum. Das Vorliegen der – sehr hohen – Tatbestandsvoraussetzungen beinhalte also gerade nicht bereits eine positive Ermessensentscheidung. Käme es zur Abschiebung des Antragstellers, stände außerdem die mit Bescheid des BAMF vom 28. September 2018 auf 15 Monate befristete Wiedereinreisesperre i.S. des § 11 Abs. 1 AufenthG der Visumerteilung entgegen. Soweit das Verwaltungsgericht meine, auch eine Trennung von 15 Monaten sei unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohlgebotes möglich, sei dies offensichtlich rechtswidrig, da auf der Hand liege, dass nicht nur die Abwesenheit des Vaters für einen solchen Zeitraum für die Kinder einen Schaden darstelle, sondern auch, dass es bei allen drei Kindern zu einer weitgehenden, wenn nicht völligen Entfremdung vom Vater komme (zum psychischen Selbstschutz kommen müsse). Über einen Antrag auf Verkürzung der genannten Frist entscheide die Ausländerbehörde im freien Ermessen (§ 11 Abs. 4 AufenthG). Es sei nicht absehbar, wie dieses Ermessen ausgeübt werde, zumal die Befristung der Sperrfrist auf 15 Monate in Kenntnis des für das erste Kind bestehenden und ausgeübten Sorgerechts des Antragstellers erfolgt sei. Es sei offenkundig, dass selbst ein zunächst bloßes Verzögern des Visumverfahrens aufgrund von rechtlichen Unklarheiten und Bedenken um wenige Monate zugleich zur weiteren Erschwerung des Rechts auf Visumerteilung, ja zu seinem völligen Verlust führe. Mit dem Zeitablauf drohten nämlich Grundlagen für die Visumerteilung, wie Einkommen, Wohnung und vor allen Dingen auch die Beziehung der Kinder zu ihrem Vater, vernichtet zu werden. Das Gericht könne auch nicht darauf verweisen, der Antragsteller könne sich ja, wenn sich die Botschaft nicht an die seitens des Gerichts unterstellte Rechtsauffassung halte, des gerichtlichen Eilrechtsschutzes durch das zuständige Verwaltungsgericht Berlin bedienen. Denn dieses bzw. das zuständige OVG Berlin-Brandenburg verneine in aller Regel aufgrund der Vorwegnahme der Hauptsache das Vorliegen eines Anordnungsgrundes in Visaverfahren (OVG Berlin-Brandenburg, 28.4.2017, 3 S 23/17, juris, Rn 5 m.w.N. auch auf BVerfG, 25.10.1988, 2 BvR 745/88, Rn 27). Der Antragsteller verfüge über keine verwandtschaftlichen Bindungen mehr in Äthiopien. Er wäre dort auf sich gestellt, was angesichts der bekannten wirtschaftlichen Notlage des Landes und der praktisch in allen Regionen herrschenden Konflikte (vgl. nur die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes, Stand 22.8.2022) ernste Alltagsprobleme mit sich brächte (Unterkunft finden und bezahlen, Lebensunterhalt, behördliche Hilfe für notwendige Papiere (Ausweis), u.a.). Auch das könne unverschuldet ebenso zu weiteren Verzögerungen führen wie die Folgen einer allgemein erwarteten, erneuten Corona-Welle. Sei das Ob der Visumerteilung schon unsicher, gelte das notwendigerweise auch für den Zeitraum der Abwesenheit. Hinsichtlich der Bemessung des zumutbaren Zeitraumes sei auf die Lage der Kinder abzustellen. Der Antragsteller wohne zwar nicht mit der Mutter der Kinder zusammen. Er halte sich aber regelmäßig bei der Familie auf, bringe die Kinder ins Bett, kümmere sich um sie, kaufe Essen und koche mit, hole das größte Kind von der Schule ab und dergleichen mehr. Die Dauer der Trennung wäre auf einen Zeitraum von unter vier Wochen durch eine entsprechende Zusage der Botschaft zu begrenzen. Es seien zwei Kinder, eines davon sehr klein. Eine zwischenzeitliche Besuchsreise nach Äthiopien sei nicht nur aus rechtlichen Gründen ausgeschlossen, sondern auch schon angesichts der derzeitigen Lage in diesem Lande nicht möglich. Es werde ergänzend, insbesondere auch zum Verhältnis des Antragstellers zur Halbschwester seiner beiden Kinder, auf die beigefügte fachliche Stellungnahme des Heilpädagogen H.W. Bezug genommen. Schon die Trennung/Ausreise als solche wäre im konkreten Fall für alle drei Kinder, auch die Stieftochter, ein starker Schock. Ängste seien alleine durch eine vertrauensbildende, stabile Umgebung zu mindern bzw. abzufangen. Dies sei aber seitens der Eltern in der gegebenen Situation nicht zu schaffen. Diese hätten selbst Angst, was ihnen angesichts der Unwägbarkeiten (und des Verhaltens des Antragsgegners, Verwaltungshandeln ohne jegliche Mitteilung u.a.) nicht verübelt werden könne. Den Kindern könne nicht zur Last gelegt werden, wenn ihre Eltern in einer vermeintlich aufenthaltsrechtlich dafür nicht geeigneten Situation eine Familie gegründet hätten. Aber auch den Eltern könne man die Wahrnehmung dieses menschlichen Urrechts nicht entgegenhalten – jenseits der weiteren Frage, ob eine entsprechende negative Wertung der damaligen Aufenthaltsrechte der Eltern (Aufenthaltsgestattung) möglich, sinnvoll und rechtlich zulässig wäre. Die Trennung ließe sich in ihren Folgen durch den Gebrauch elektronischer Kommunikationsmittel (durch ein 1 ½ Jahre altes Kind?) nicht mildern. Einmal abgesehen von der außergewöhnlich mäßigen Dichte des Telekommunikationsnetzes bzw. der sehr geringen Internetnutzung in Äthiopien sei ein kindgerechter, vertrauensbildender Kontakt auf diesem Wege in einer notgedrungen von Verlustängsten geprägten Lage gerade nicht möglich. Unter dem Vorzeichen der akut bestehenden Trennung vermittelten solche Kontakte jedenfalls immer auch die Tatsache der erzwungenen Abwesenheit einer Person. Kurz: Die Mutter habe dann nachher die weinenden Kinder auf dem Schoß. Ein Besuch der – als Flüchtlinge anerkannten oder im Asylverfahren stehenden – Kinder beim Vater in Äthiopien sei jenseits aller praktischen Erwägungen nicht möglich. Die Angaben des Gerichtes zur allgemeinen Dauer des Visumverfahrens seien unzutreffend. Die Visaabteilung der Deutschen Botschaft in Addis Abeba sei – wie die praktisch aller deutschen Botschaften – stark überlastet. Der Unterzeichner habe derzeit fünf Visumverfahren bei der Deutschen Botschaft in Addis Abeba laufen. In jedem der Fälle handle es sich um Anspruchsvisa, also anders als hier um einfache Angelegenheiten. Die bisherigen Verfahrensdauern betrügen in einem Fall 10 Monate, in zwei Fällen 7 Monate, in zwei weiteren Fällen 6 ½ Monate. Nur in einem einzigen dieser Fälle (7 bisherige Monate Verfahrensdauer) zeichne sich die Visumerteilung ab, bei allen weiteren sei eine Visumerteilung bisher nicht absehbar. Davon unabhängig wäre auch eine Trennung von ca. 6 ½ Monaten unter den genannten Bedingungen nicht mehr zumutbar. Selbst eine Trennung von ca. 6 ½ Monaten sei nicht zumutbar, dieser Zeitraum sei für die noch kleinen Kinder – es handele sich dabei um ein Drittel der bisherigen Lebenszeit der jüngeren Tochter – noch keine erfassbare Größe. Der Antragsteller würde selbstverständlich alles dafür tun, eine Abwesenheitszeit zu verkürzen. Allerdings dürfte es rechtlich nicht zulässig sein, in die Begründung der Entscheidung – wie das Verwaltungsgericht wiederholt – darauf zu stützen, dass der Antragsteller einem vorgeschlagenen Vergleich nicht zugestimmt habe (schon gar nicht, wenn sich die Gegenseite nicht zu der diesseitigen Stellungnahme zum Vergleich geäußert habe). Die geschilderten Unwägbarkeiten hinderten den Antragsteller vernünftigerweise und durchaus auch im Interesse der Kinder daran, dem genannten Vergleich zuzustimmen. Beredt sei im Hinblick auf diese Unwägbarkeiten daher auch das Schweigen des Antragsgegners auf die seitens des Antragstellers geäußerte Forderung ihrer Minimierung, namentlich nach Zusagen der zuständigen Ausländerbehörde zur Erteilung einer Vorabzustimmung sowie der Botschaft zur Visumerteilung. Es sei nicht zu erklären, warum sich der Antragsgegner nicht darum bemühe, solche Äußerungen auf dem Dienstweg bzw. dem Wege der Amtshilfe zu erhalten. Diese Mittel zur Klärung stünden dem Antragsteller nicht offen. Unabhängig davon beständen Zweifel, ob eine vermeintlich fehlende Kooperation des Antragstellers bei der Bemessung der Zumutbarkeit der Trennung überhaupt eine Rolle spielen könne. Denn es gehe um die Zumutbarkeit aus der Sicht der Kinder. Ließen sich wie vorliegend die Frage, ob ein Visum erteilt werde und ggf. innerhalb welchen Zeitraumes nicht hinreichend sicher klären, würde dies die Erkenntnismöglichkeiten des Gerichtes bzw. der Behörde überschreiten, dann bleibe der Trennungszeitraum ungewiss und sei damit nicht mehr zuzumuten. Es entspreche nicht der Rechtslage, durch Entzug der Duldung die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 25b AufenthG zu verhindern und dadurch wiederum den Anspruch auf Verfahrensduldung auszuschließen. Das Bundesverwaltungsgericht habe genau diese Konstellation behandelt und sei dabei von der Möglichkeit der Verfahrensduldung ausgegangen. Der „bayerische Kniff“ verfange nicht, wenn, wie hier, die materiellen Voraussetzungen des § 25b AufenthG im Wesentlichen mit Ausnahme des Passes bereits vor dem Entzug der Duldung gegeben seien. In diesem Falle werde dem Betroffenen die Erfüllung einer Anspruchsvoraussetzung (Passvorlage) als Ausschlussgrund entgegengehalten. Das könnte in den Bereich der unzulässigen Rechtsausübung durch die Behörde fallen. Auf diesem Wege werde außerdem in das Belieben des Antragsgegners gelegt, mit der Bescheidung des Antrages auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis i.S.d. § 25b AufenthG trotz Entscheidungsreife im Übrigen solange zu warten, bis der von der selben Behörde geschaffene Ausschlussgrund vorliege. Diese ständige Praxis sei rechtswidrig. Denn der Antragsgegner könnte durchaus auch vor Vorlage des – amtsbekannt beantragten – Passes den Antrag bescheiden. Es stehe im Ermessen der Behörde, von der Erteilungsvoraussetzung des Passbesitzes vorübergehend abzusehen (§ 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Angesichts der im Wesentlichen bereits erfolgten Identitätsklärung und dem laufenden Passerteilungsverfahren sowie der ansonsten nach Lesart des Antragsgegners offenkundigen Anspruchsvernichtung wäre hier von einer Ermessensreduktion auszugehen.
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Diese Rügen greifen nicht durch.
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1. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, der Antragsteller habe keinen Anspruch auf die beantragte Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG im Hinblick auf den verfassungsrechtlich gewährleisteten Schutz der Familie nach Art. 6 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK glaubhaft gemacht, ist nicht zu beanstanden.
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Weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK gewähren einen unmittelbaren Anspruch auf einen Aufenthalt im Bundesgebiet. Die in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach der der Staat Ehe und Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiäre Bindung des den Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d.h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Es ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (BVerfG, B.v. 31.8.1999 – 2 BvR 1523/99 – juris Rn. 7 m.w.N., B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 45).
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Bei aufenthaltsrechtlichen, den Umgang mit einem Kind berührenden Entscheidungen, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Die Belange des Elternteils und des Kindes sind dabei umfassend zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 48). Eine Eltern-Kind-Beziehung unterfällt dem Schutzbereich des Art. 6 GG dann, wenn eine verantwortungsvoll gelebte, dem Schutzzweck des Art. 6 GG entsprechende Eltern-Kind-Gemeinschaft besteht (BVerfG, B.v. 10.5.2007 – 2 BvR 304/07 – juris Rn. 31), die sich jedoch nicht allein quantitativ etwa nach Daten und Uhrzeiten des persönlichen Kontakts oder genauem Inhalt der einzelnen Betreuungshandlungen bestimmen lässt. Die Entwicklung eines Kindes wird nicht nur durch quantifizierbare Betreuungsbeiträge der Eltern, sondern auch durch die geistige und emotionale Auseinandersetzung geprägt (BVerfG, B.v. 8.12.2005- 2 BvR 1001/04 – juris Rn. 21). Dies erfordert eine Untersuchung im Einzelfall, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Es ist zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für eine gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte (BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 14). In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen (BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 48). Für das Recht auf Achtung des Familienlebens aus Art. 8 EMRK gilt insoweit nichts anderes, da auch insoweit ein tatsächlich gelebtes Näheverhältnis zwischen den Familienmitgliedern vorausgesetzt wird (EGMR, U.v. 13.6.1979 – Marckx/Belgien, Nr. 6833/74 – EuGRZ 1979, 454 Rn. 31).
9
Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG ist es grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen. Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland begehrt, regelmäßig hinzunehmen (BVerfG, B.v. 22.12.2021 – 2 BvR 1432/21 juris Rn. 43; B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris LS 2a, Rn. 47 m.w.N.). Allein das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft führt ebenso wenig dazu, regelmäßig von der Unzumutbarkeit der Einhaltung des Visumverfahrens auszugehen, wie der Umstand, dass ein kleines Kind betroffen ist, da es im Verantwortungsbereich des Ausländers liegt, die Ausreisemodalitäten und den Ausreisezeitpunkt in Absprache mit der zuständigen Ausländerbehörde so familienverträglich wie möglich zu gestalten (vgl. BayVGH, B.v. 3.9.2019 – 10 C 19.1700 – juris Rn. 5 m.w.N.; B.v. 19.6.2018 – 10 CE 18.994 – juris Rn. 5).
10
Ist von einer persönlichen Verbundenheit zwischen Elternteil und Kind auszugehen, ist eine Prognose anzustellen, mit welcher Trennungszeit bei Nachholung eines Visumverfahrens voraussichtlich tatsächlich zu rechnen wäre. Von einer Prognose der Trennungszeit kann abgesehen werden, wenn es im konkreten Fall mit Art. 6 Abs. 1 und 2 GG vereinbar ist, dem Ausländer und seinem Kind die Lebensgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland auf Dauer zu verwehren, etwa weil die Familiengemeinschaft auch außerhalb der Bundesrepublik Deutschland in zumutbarer Weise gelebt werden kann (BVerfG, B.v. 10.5.2008 – 2 BvR 588/08 – juris; B.v. 27.8.2003 – 2 BvR 1064/03 – juris Rn. 6 f.) oder weil die dauerhafte Trennung der Familie ausnahmsweise zumutbar ist (BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 52).
11
In die Prognose der Trennungszeit ist insbesondere die zu erwartende Dauer des Visumverfahrens (einschließlich einer möglicherweise durchzuführenden Urkundenüberprüfung) einzubeziehen, über die ebenfalls eine Prognose anzustellen ist. In den Blick zu nehmen ist insoweit, wie lange ein Visumverfahren bei korrekter Sachbehandlung und gegebenenfalls unter zu Hilfenahme einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO voraussichtlich dauern würde und welche Auswirkungen ein derartiger Auslandaufenthalt des Ausländers für die Familie hätte (vgl. BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 15.12 – juris Rn. 26). Diesbezüglich muss die Dauer des Visumverfahrens absehbar und insbesondere auch geklärt sein, ob die grundsätzliche Möglichkeit der Visumerteilung besteht (vgl. BayVGH, U.v. 7.12.2021 – 10 BV 21.1821 – Rn. 40 m.w.N.; OVG SH, B.v. 3.1.2022 – 4 MB 68/21 – juris). Einfachrechtliche Unwägbarkeiten bzw. Ungewissheiten über den Ausgang des Visumverfahrens (im vom Bundesverfassungsgericht zugrundeliegenden Fall die „hohen Hürden“ nach § 36 Abs. 2 AufenthG) müssen ebenso Eingang in die anzustellende Prognose finden (BVerfG, B.v. 22.12.2021 – 2 BvR 1432/21 – juris Rn. 51; B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 53 ff.) wie eine eventuell fehlende Mitwirkung des Betroffenen im Visumverfahren (BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 59). Denn die tatsächliche Dauer des Visumverfahrens hängt entscheidend von der Mitwirkung des Ausländers ab. Eine fehlende Mitwirkung kann daher auch längere Wartezeiten rechtfertigen. Zudem würde es die Erkenntnisfähigkeit von Behörden und Gerichten überfordern, bei der Prognose über die Dauer des Visumverfahrens und der damit verbundenen Trennung des Ausländers von seinem in Deutschland aufenthaltsberechtigten Kind eine präzise Vorstellung davon zu entwickeln, mit welcher Trennungszeit tatsächlich im Falle der Duldungsversagung zu rechnen wäre, wenn der Ausländer nicht das in seiner Sphäre Liegende beiträgt, um das Verfahren zu betreiben und zu einem zeitnahen Abschluss zu bringen (BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 59). Im Rahmen der Prognose der voraussichtlichen tatsächlichen Trennungszeit ist darüber hinaus wegen des erforderlichen Antrags auf Erteilung eines Visums die Wartezeit auf einen Termin zur Antragstellung ebenso zu berücksichtigen (BVerfG B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 60) wie ein möglicherweise infolge der Abschiebung eintretendes Einreise- und Aufenthaltsverbot.
12
Im Rahmen der Abwägungsentscheidung (ob eine vorübergehende Trennung in Anbetracht der prognostischen Trennungszeit zumutbar ist) ist zu berücksichtigen, dass die Regelungen in § 5 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 und 2 AufenthG dem Schutz wichtiger öffentlicher Interessen dienen. Die Pflicht zur Einreise mit dem erforderlichen Visum soll gewährleisten, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug vor der Einreise geprüft werden können, um die Zuwanderung von Personen, die diese Voraussetzung nicht erfüllen, von vornherein zu verhindern. Die (nachträgliche) Einholung des erforderlichen Visums zum Familiennachzug ist auch nicht als bloße Förmlichkeit anzusehen. Dabei dürfen auch generalpräventive Aspekte Berücksichtigung finden, damit das Visumverfahren seine Funktion als wichtiges Steuerungsinstrument der Zuwanderung wirksam erfüllen kann. § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG wirkt dem Anreiz entgegen, nach illegaler Einreise Bleibegründe zu schaffen mit der Folge, dieses Verhalten mit einem Verzicht auf das vom Ausland durchzuführende Visumverfahren zu honorieren. Die bewusste Umgehung des Visumverfahrens darf nicht folgenlos bleiben, um dieses wichtige Steuerungsinstrument der Zuwanderung nicht zu entwerten. Ausnahmen von der Visumpflicht nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG sind daher prinzipiell eng auszulegen (BVerwG, U.v. 10.12.2014 – 1 C 15/14, U.v. 11.1.2011 – 1 C 23.09 – jeweils juris). Die Folgen einer vorübergehenden Trennung haben im Rahmen der Abwägungsentscheidung jedoch insbesondere ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 48). Zulasten des Ausländers können sich in der Abwägungsentscheidung auswirken, dass er Einfluss darauf hat, rechtzeitig einen Termin bei der Auslandsvertretung zu vereinbaren, die Vorabzustimmung zu erreichen und durch freiwillige Ausreise dem Einreise- und Aufenthaltsverbot zu entgehen bzw. auf dessen Verkürzung nach § 11 Abs. 4 AufenthG hinzuwirken (BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 61).
13
Nach diesen Maßgaben ist es im vorliegenden Fall mit dem verfassungsrechtlichen Schutz der Familie nach Art. 6 GG (bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK) vereinbar, den Antragsteller selbst „angesichts der bestehenden einfachrechtlichen Ungewissheiten“ (vgl. dazu BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 50) auf die Einholung des erforderlichen Visums zu verweisen.
14
1.1 Da das Verwaltungsgericht vorliegend ausgehend von den Ausführungen der Kindsmutter in ihrer schriftlichen Bestätigung gegenüber der Ausländerbehörde vom 2.11.2021 (der Antragsteller hole die ältere Tochter regelmäßig von der Schule ab, kümmere sich um die Kinder, komme mehrfach in der Woche zu ihnen, kaufe Essen ein und esse zusammen mit ihnen) von einer persönlichen Verbundenheit des Antragstellers zu seinen beiden Töchtern und damit von schützenswerten Vater-Kind-Beziehungen ausgegangen ist (ohne jedoch insoweit weitere Ausführungen im angegriffenen Beschluss zu machen) und diese Einschätzung vom Antragsgegner im Beschwerdeverfahren auch nicht in Zweifel gezogen wird, geht der Senat im Rahmen seiner Beschwerdeentscheidung (mangels entgegenstehenden Vorbringens) ebenfalls von einer solchen aus.
15
1.2 Unter Berücksichtigung der Ausgestaltung der Vater-Kind-Beziehungen erweist sich eine Nachholung des Visumverfahrens vorliegend als zumutbar.
16
1.2.1 Das Verwaltungsgericht hat zutreffend (wenn auch ohne vertiefte Begründung) die grundsätzliche Möglichkeit eines Familiennachzugs nach §§ 27 ff. AufenthG bejaht.
17
Vorliegend kommt ein Aufenthaltstitel aufgrund der Auffangnorm des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Betracht. Danach kann sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Eine außergewöhnliche Härte in diesem Sinne setzt grundsätzlich voraus, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann (BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 15/12 – juris Rn. 12; BVerfG, B.v. 20.6.2016 – 2 BvR 748/13 – juris Rn. 13). Ein entsprechendes Angewiesen-Sein kann sich auch für kleine Kinder ergeben, die auf Grund ihres Alters ständiger Pflege und Betreuung und deshalb der Einbindung in die familiäre Lebensgemeinschaft bedürfen (OVG LSH, B.v. 3.1.2022 – 4 MB 68/21 – juris Rn. 20). Ob dies der Fall ist, kann nur unter Berücksichtigung aller im Einzelfall relevanten, auf die Notwendigkeit der Herstellung oder Erhaltung der Familiengemeinschaft bezogenen konkreten Umstände festgestellt werden. Dabei sind zwar Bedeutung und Tragweite von Art. 6 Abs. 1 GG zu berücksichtigen. Die Schutzwirkungen dieses Grundrechts werden aber durch das jeweilige Gewicht der familiären Bindungen beeinflusst, wobei alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind (BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 53 f. m.w.N.).
18
Der Antragsgegner geht in Kenntnis davon, dass der Nachzug sonstiger Familienangehöriger auf Fälle einer außergewöhnlichen Härte, das heißt auf seltene Ausnahmefälle beschränkt ist, in denen die Verweigerung des Aufenthaltsrechts und damit der Familieneinheit im Lichte des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 EMRK grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen widerspräche, also schlechthin unvertretbar wäre (vgl. BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 15.12 – juris Rn. 11), ausweislich seiner Ausführungen im Beschwerdeverfahren selbst vom Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte i.S.d. § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG im vorliegenden Fall aus.
19
Das Beschwerdevorbringen enthält insoweit keine durchgreifenden Einwände, die diese Auffassung des Antragsgegners in Zweifel ziehen könnten, selbst in Anbetracht des Umstands, dass die Erteilung eines Visums gem. § 6 Abs. 3 i.V.m. § 36 Abs. 2 AufenthG grundsätzlich an (wie oben dargelegt) hohe Hürden gebunden ist (vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 53). Soweit der Antragsteller vortragen lässt, man könnte es als Wertungswiderspruch sehen, den Nachzug eines Elternteils zu einem anerkannten Flüchtling auf der Grundlage des § 36 Abs. 2 AufenthG auch dann zu gewähren, wenn sich der weitere Elternteil schon in Deutschland befinde, wenn der Gesetzgeber gerade für diese Konstellation den Anspruch auf Nachzug in § 36 Abs. 1 AufenthG ausgeschlossen habe, vermag der Senat diesen Wertungswiderspruch nicht zu erkennen. Der Antragsteller (dem – zwischen den Beteiligten unstreitig – ein Anspruch aus § 36 Abs. 1 AufenthG aufgrund des Aufenthalts der ebenfalls sorgeberechtigten Kindsmutter im Bundesgebiets nicht zusteht) ist im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG sonstiger Familienangehöriger seiner leiblichen Töchter, denn er ist als nicht mit der Mutter der Kinder verheirateter Vater keinem der sonst in Betracht kommenden Tatbestände des Familiennachzugs zuzuordnen (BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 15.12 – juris Rn. 14). Folglich kann bei Annahme einer außergewöhnlichen Härte auch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG in Betracht kommen. Die Kinder des Antragstellers (insbesondere seine im Januar 2021 geborene Tochter) benötigen – zwischen den Beteiligten unstreitig – aufgrund ihres Alters ständiger Pflege und Betreuung. Da der älteren Tochter des Antragstellers die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden und sie im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist, wird ihr eine Herstellung der Familiengemeinschaft im (gemeinsamen) Heimatland nicht zuzumuten sein. Ihr Aufenthalt (und folglich auch nicht der der Kindsmutter und der weiteren Töchter) wird auf absehbare Zeit folglich auch nicht beendet werden.
20
Auch weitere „einfachrechtliche Unwägbarkeiten“ wie die im Rahmen des § 36 Abs. 2 AufenthG erforderlichen allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG oder das in § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG normierte Wohnraumerfordernis (vgl. dazu BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 55) vermindern die Wahrscheinlichkeit, dass dem Antragsteller tatsächlich ein Visum nach § 36 Abs. 2 AufenthG erteilt werden wird, nicht entscheidend.
21
Die vom Antragsteller benannte Unwägbarkeit im Hinblick auf das Wohnraumerfordernis des § 29 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG dürfte im vorliegenden Fall keine Rolle spielen, da der Antragsteller derzeit allein eine Wohnung bewohnt (er lebt von der Kindsmutter getrennt) und daher kein Wohnraum für die gesamte Familie erforderlich ist. Zudem ist angesichts der überschaubaren Abwesenheitsdauer des Antragstellers nicht zwingend davon auszugehen, dass er seine derzeitige Wohnung aus finanziellen Gründen aufgeben müsste.
22
Auch die vom Antragsteller benannte Unwägbarkeit im Hinblick auf die Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG besteht nach Auffassung des Senats nicht. Unabhängig davon, ob aufgrund der Beschäftigung des Antragstellers im Bundesgebiet die Prognose zur Lebensunterhaltssicherung bereits positiv ausfallen könnte (der Heilpädagoge und Diplom-Theologe H.W. erklärte in seiner Stellungnahme vom 18.8.2022, der Antragsteller sei in der Arbeit sehr geschätzt gewesen und der Arbeitgeber würde ihn sofort wieder anstellen), gilt die Regelerteilungsvoraussetzung der Unterhaltssicherung nicht in atypischen Ausnahmefällen. Zwar ist in einem Fall, in dem die in § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG mit der hohen Hürde der „außergewöhnlichen Härte“ zum Ausdruck kommenden einwanderungspolitischen Belange (vgl. BT-Drs. 15/420 S. 84) durch Art. 6 GG zurückgedrängt werden und sich das Ermessen der Ausländerbehörde verdichtet, nicht automatisch auch eine Ausnahme von dem Regelerfordernis der Lebensunterhaltssicherung vorgezeichnet (BVerwG, U.v. 18.4.2013 – 10 C 10.12 – juris Rn. 39). Ein atypischer Ausnahmefall ist aber anzunehmen, wenn sich – wie hier – ergeben sollte, dass die Verweigerung eines Aufenthaltstitels eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 AufenthG darstellt, weil die Fortführung der Familieneinheit im Ausland unzumutbar wäre und deshalb eine Verletzung von Art. 6 GG, Art. 8 EMRK anzunehmen wäre (BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 15.12 – juris Rn. 22).
23
Mit Blick auf den Vorrang und die Bindungswirkung des verfassungsrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie greift der erhobene Einwand, die zuständige Auslandsvertretung würde hier gegebenenfalls die Erteilungsvoraussetzungen nicht bejahen oder aber von ihrem Ermessensspielraum nicht zu Gunsten des Antragstellers Gebrauch machen und somit letztlich verfassungswidrig handeln sowie ein effektiver zeitnaher Rechtsschutz durch das in diesem Fall zuständige Verwaltungsgericht Berlin sei nicht zu erlangen (zu dieser Problematik vgl. auch BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 15.12 – juris Rn. 25), nicht durch. Insbesondere kann dies nicht im Ergebnis dazu führen, dass deshalb – abweichend von der gesetzgeberischen Wertung in § 5 Abs. 2 und § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG – der Aufenthaltstitel regelmäßig bereits im Inland durch die hier zuständige Ausländerbehörde erteilt werden müsste (vgl. BayVGH, U.v. 7.12.2022 – 10 BV 21.1821 – juris Rn. 46).
24
In Anbetracht der obigen Ausführungen und der Ausführungen des Antragsgegners im Beschwerdevorbringen geht der Senat davon aus, dass das Einreise- und Aufenthaltsverbot im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 28.September 2018 auf einen entsprechenden Antrag des Antragstellers hin dahingehend abgeändert wird, dass eine Wiedereinreise zeitnah nach Abschluss des Visumverfahrens möglich ist (das Verwaltungsgericht hat selbst eine aufgrund des bestehenden Einreise- und Aufenthaltsverbots mögliche 15-monatige Trennungszeit des Antragstellers von seinen Kindern als zumutbar angesehen). Dass der Antragsteller insoweit tätig geworden ist oder die zuständige Behörde eine Abänderung abgelehnt hätte, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
25
2.2.2 Die konkrete Berechnung der prognostischen Dauer des Visumverfahrens des Antragstellers im Herkunftsland durch das Verwaltungsgericht (etwa 2 Wochen Wartezeit und 6 Monate Bearbeitungszeit des Visumantrags; daher Trennungszeit von etwa 6 ½ Monaten) unter Heranziehung des online-Buchungssystems der Deutschen Botschaft Addis Abeba, der Informationen auf deren Internetauftritt und der Auskunft der Botschaft vom 11. Februar 2022 hat der Antragsteller nicht substantiiert angegriffen. Soweit er jedoch sinngemäß geltend macht, die in den Quellen genannten Angaben seien nicht belastbar, weil die Visaabteilung der Deutschen Botschaft in Addis Abeba – wie die praktisch aller deutschen Botschaften – stark überlastet sei und die fünf derzeit bei der Deutschen Botschaft in Addis Abeba laufenden Visumverfahren seines Prozessbevollmächtigten (die alle Anspruchsvisa beträfen und somit einfachere Angelegenheiten darstellten als die Frage der Erteilung eines Visums an den Antragsteller) alle bereits mehr als 6 ½ Monate dauern und lediglich in einem Fall eine Visumerteilung absehbar sei, vermag er die verwaltungsgerichtliche Auffassung dadurch nicht in Zweifel zu ziehen. Aufgrund dieses Beschwerdevorbringens ist es nicht überprüfbar, welche Gründe in den vom Prozessbevollmächtigten des Antragstellers betreuten Visumverfahren für die Bearbeitungszeit verantwortlich sind und ob diese Fälle mit dem des Antragstellers vergleichbar sind. Das Verwaltungsgericht hat unter Heranziehung der Auskunft der Deutschen Botschaft vom 11. Februar 2022 ausgeführt, dass die Bearbeitungszeit des Visumverfahrens vor allem auf die i.d.R. durchzuführende kooperationsanwaltliche Überprüfung der Personenstandsurkunden zurückzuführen sei, die Dauer der Überprüfung abhängig von der Ausstellungsregion der Urkunden sei und diese nicht genauer beziffert werden könne. Sie liege i.d.R. bei 2 bis 3 Monaten. Das Verwaltungsgericht hat zudem ergänzend ausgeführt, dass auch im Merkblatt der Botschaft zur Überprüfung äthiopischer Urkunden im Wege der Amts- oder Rechtshilfe von einer Bearbeitungszeit im Überprüfungsverfahren im Regelfall von bis zu 3 Monaten ausgegangen werde. Für Urkunden, die in von der Hauptstadt Addis Abeba weit entfernten Landesteilen ausgestellt worden seien, könne danach die Bearbeitung mitunter länger als 3 Monate dauern. Letztere sei auch abhängig von der aktuellen Sicherheitslage in Äthiopien. Wie der Antragsgegner zurecht anführt, ist die Identität des Antragstellers aufgrund seines gültigen äthiopischen Reisepasses (daher sind weitere Verzögerungen – wie vom Antragsteller behauptet – wegen „behördlicher Hilfe für notwendige Papiere (Ausweis)“ nicht naheliegend) geklärt. Dieser wurde ihm auf seinen Antrag vom 29. Dezember 2021 (unter Vorlage seiner Geburtsurkunde) bereits am 1. März 2022 (und damit wohl ohne Probleme) erteilt. Zudem ist er in der südlich des Tanasees gelegenen Stadt Merawi geboren, in der ca. 35.000 Einwohner wohnen, die die Hauptstadt der Region Amhara im Nordwesten Äthiopiens ist und wo sich auch der Sitz der Verwaltung von Mecha Woreda befindet. Laut den Angaben des Antragstellers in seiner Anhörung im Asylverfahren am 5. Februar 2014 hat er dort auch gelebt. Von einer entlegenen Gegend Äthiopiens, die auf ein eher längeres Überprüfungsverfahren schließen ließe, ist daher insoweit nicht auszugehen. Zwar wird von Seiten des Auswärtigen Amtes von Reisen in Teile des Gebietes der Region Amhara gewarnt („in das Grenzgebiet (ca. 30 km) der Region (…) Amhara zu Tigray“ und „in der Amhara-Region das Grenzgebiet zu Sudan“: vgl. Äthiopien: Reise- und Sicherheitshinweise (Teilreisewarnung), Stand: 23.02.2023; https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/aethiopiensicherheit/209504, zuletzt abgerufen am 23.2.2023), jedoch liegt Merawi nicht in diesen Gebieten.
26
Soweit der Antragsteller weitere Verzögerungen „wie die Folgen einer allgemein erwarteten, erneuten Corona-Welle“ geltend macht, sind solche in Anbetracht der derzeitigen Corona-Lage weder substantiiert dargetan noch ersichtlich.
27
2.2.3 Ebenso ist die verwaltungsgerichtliche Auffassung, die Trennungszeit von etwa 6 ½ Monaten sei im vorliegenden Einzelfall nicht unzumutbar, nicht zu beanstanden.
28
Das Verwaltungsgericht hat dabei nicht verkannt, dass der Antragsteller ausweislich der Erklärung der Kindsmutter vom 2. November 2021 mehrmals in der Woche bei ihr und den Kindern ist und sich um sie kümmert, so dass sich das Lebensumfeld insbesondere der Kinder nicht unerheblich ändern würde. Auch wenn der Senat davon ausgeht, dass eine Trennung für die Kinder des Antragstellers (und vermutlich auch für die weitere Tochter der Kindsmutter) eine erhebliche Belastung darstellt, ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller nicht bei seinen Kindern wohnt und die Kinder daher grundsätzlich gewohnt sind, dass sich der Antragsteller regelmäßig räumlich von ihnen entfernt und dann zu gegebener Zeit wieder erscheint. Jedenfalls die mittlerweile fast achtjährige ältere Tochter des Antragstellers (und auch die mind. 5 ½ jährige weitere Tochter der Kindsmutter, auf die es jedoch nicht maßgeblich ankommt) kann erfassen, dass es sich bei der Abwesenheit des Antragstellers zur Nachholung des Visumverfahrens um eine nur vorübergehende Abwesenheit handelt. Zudem ist aufgrund der unterschiedlichen Wohnsitze auch bereits jetzt davon auszugehen, dass der Antragsteller mit seinen Kindern auch mittels moderner Kommunikationsmittel in Kontakt steht. Ein gegenteiliger Vortrag ist nicht erfolgt. Dieser wäre – aufgrund der unterschiedlichen Wohnsitze – wohl auch als lebensfremd anzusehen. Folglich ist davon auszugehen, dass die Kinder des Antragstellers (auch die mittlerweile zweijährige Tochter) den Kontakt mit ihrem Vater auch mit modernen Kommunikationsmitteln gewöhnt sind. Der Senat verkennt insoweit nicht, dass ein solcher Kontakt keinen körperlichen Kontakt ersetzen kann. Er verhindert aber, dass die Kinder die vorübergehende Trennung als endgültigen Verlust erfahren. Insoweit ist vom Antragsteller zu erwarten und zu fordern, dass er im Herkunftsland den Kontakt mit den Kindern über diese Kommunikationsmittel nochmals intensiviert, um jegliche weitere Beeinträchtigung der Kinder zu vermeiden. Soweit der Antragsteller im Beschwerdevorbringen „von der außergewöhnlich mäßigen Dichte des Telekommunikationsnetzes bzw. der sehr geringen Internetnutzung in Äthiopien“ spricht, ist dieser Vortrag (insbesondere bezogen auf die unterschiedlichen Regionen und die möglicherweise bestehenden Unterschiede in städtischen und ländlichen Regionen in Äthiopien) schon nicht substantiiert. Vielmehr gesteht der Antragsteller durch seinen Vortrag die grundsätzliche Internetnutzungsmöglichkeit in Äthiopien zu. Es ist auch insoweit vom Antragsteller zu erwarten und zu fordern, dass er alle Anstrengungen unternimmt, um mit seinen Kindern – zu deren Wohle – kommunizieren zu können, zumal es sich um einen vergleichsweise überschaubaren Trennungszeitraum von etwa 6 ½ Monaten handelt.
29
Außerdem wirkt sich zulasten des Antragstellers in der Abwägungsentscheidung aus, dass er – entgegen seines Vortrags – eben nicht an der Verkürzung der Dauer des Visumverfahrens mitwirkt und es vielmehr unterlassen hat, rechtzeitig einen Termin bei der Auslandsvertretung zu vereinbaren und eine Vorabzustimmung zu beantragen, sowie er auch keinerlei Anstalten unternommen hat, durch eine freiwillige Ausreise dem Einreise- und Aufenthaltsverbot zu entgehen. Seine Aussage im Beschwerdevorbringen, er „würde selbstverständlich alles dafür tun, eine Abwesenheitszeit zu verkürzen“, spiegelt sich in seinem Verhalten nicht wieder. Vielmehr erhofft er sich durch die Mitwirkungsverweigerung, dass sich die Trennungszeit von seinen Kindern verlängert und als unzumutbar einzustufen ist. Dem Antragsteller wurde im Vergleichswege die Erteilung einer (verlängerbaren) Duldung und einer Beschäftigungserlaubnis für den Geltungszeitraum der Duldung angeboten, wenn er sich bereit erklärt, das Visumverfahren nachzuholen und alle notwendigen Schritte in die Wege zu leiten (Beantragung einer Vorabzustimmung gem. § 31 Abs. 3 AufenthV und Dokumentenprüfung, Terminvereinbarung zur Visumbeantragung bei der Auslandsvertretung). Dieser im erstinstanzlichen Verfahren unterbreitete Vergleichsvorschlag des Antragsgegners zielte erkennbar auf eine Realisierung des Familiennachzugs und darauf, die Trennungszeit für die Nachholung des Visumverfahrens auf ein Minimum zu verkürzen. Diesen Vergleichsvorschlag hat der Antragsteller nicht angenommen. Allein das pauschale Bestreiten einer Realisierbarkeit der aufgezeigten Möglichkeiten und die Behauptung, aus Gründen des Kindeswohls habe der Antragsteller nicht auf den angebotenen Vergleich eingehen können, vermag die gänzliche Verweigerung der Mitwirkung, zu der der Antragsteller gesetzlich verpflichtet ist, nicht zu rechtfertigen.
30
Soweit der Antragsteller ausführt, die zuständige Auslandsvertretung sei ja gar nicht an eine ausgesprochene Vorabzustimmung der zuständigen Ausländerbehörde gebunden, so ist dies insoweit zutreffend, als die Auslandsvertretung die Erteilung des beantragten Visums trotz Vorabzustimmung mit eigenständigen Erwägungen zu den aufenthaltsrechtlichen Maßstäben in eigener Zuständigkeit nach § 71 Abs. 2 AufenthG ablehnen kann (vgl. BVerwG, B.v. 15.3.1985 – 1 A 6/85 − juris Rn. 3 f.; NdsOVG, B.v. 13.3.2006 − 11 ME 313/05 – juris Rn. 13). Allerdings besteht in der Praxis zwischen Auslandsvertretung und Ausländerbehörde insoweit regelmäßig Übereinstimmung (vgl. Nr. 6.4.3.2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz v. 26.10.2009: „Eine abschließende Entscheidung über die Erteilung nationaler Visa, bei der die Ausländerbehörde nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthV beteiligt worden ist, soll grundsätzlich im Einvernehmen getroffen werden.“; vgl. BayVGH, B.v. 10.3.2021 – 10 CE 2030 – juris Rn. 27). Konkrete Anhaltspunkte, die ausnahmsweise eine derartige Abweichung von dem für den Regelfall vorgesehenen Einvernehmen im vorliegenden Fall nahelegen würden, sind weder substantiiert vorgetragen noch ersichtlich. Zwar verlangt der Antragsteller im Rahmen seiner Beschwerdebegründung eine Zusage der zuständigen Ausländerbehörde zur Erteilung einer Vorabzustimmung und kann er sich nicht erklären, „warum sich der Antragsgegner nicht darum bemüht“, eine solche Äußerung „auf dem Dienstwege bzw. dem Wege der Amtshilfe zu erhalten“, er selbst stellt aber einen Antrag auf Vorabzustimmung nicht, obwohl er im Beschwerdevorbringen vortragen lässt, er „würde selbstverständlich alles dafür tun, eine Abwesenheitszeit zu verkürzen“.
31
Nachdem auch eine eventuell erforderliche Urkundenüberprüfung mittlerweile im Inland stattfinden kann (da die zuständige Ausländerbehörde befugt ist, die Überprüfung der Personenstandsurkunden selbst zu veranlassen), hätte es der Antragsteller in der Hand gehabt, die Zeit des Aufenthalts in Äthiopien bei entsprechender Mitwirkung bereits um mindestens die Hälfte der Zeit zu verkürzen. Die prognostische Trennungszeit ist daher zu einem maßgeblichen Teil auf die in der Einflusssphäre des Antragstellers liegende unzureichende Mitwirkung zurückzuführen.
32
Bei verweigerter Mitwirkung im Visumverfahren gebietet es Art. 6 Abs. 1 GG nicht, das öffentliche Interesse an der Einhaltung des Sichtvermerkverfahrens gänzlich zurückzustellen, da dies keinen schonenden Ausgleich der familiären Belange des Ausländers und der gegenläufigen öffentlichen Interessen mehr bedeuten würde (vgl. BayVGH, U.v. 7.12.2021 – 10 BV 21.1821 – juris Rn. 42; B.v. 30.7.2021 – 19 ZB 21.738 – juris Rn. 21 m.w.N.; OVG Berlin-Bbg, B.v. 8.7.2019 – OVG 3 N 147.17 – juris Rn. 8). Wenn die durch die Nachholung des Visumverfahrens einhergehende Trennung des Antragstellers von seinen Kindern nunmehr (ohne entsprechende Mitwirkung) einen längeren Zeitraum beansprucht als wenn der Antragsteller mitgewirkt hätte, so beruht dies (und eine dadurch etwaig eintretende bzw. stärkere Beeinträchtigung des Kindeswohls) vorliegend auf der eigenverantwortlichen Entscheidung des Antragstellers, zumutbare Mitwirkungshandlungen nicht zu erfüllen. In einem solchen Fall kann dies trotz des Kleinkindalters der jüngeren Tochter des Antragstellers längere Trennungszeiten zumutbar machen. Verweigert sich ein Ausländer von vornherein jeglicher Bereitschaft und Mitwirkung, ein Visumverfahren nachzuholen, vermag die daraus resultierende längere Bearbeitungsdauer ihn nicht dergestalt zu privilegieren, einen Aufenthaltstitel ohne Durchführung des erforderlichen Visumverfahrens zu erhalten. Der Antragsteller hätte es vorliegend durch Bekundung der Bereitschaft zur Nachholung des Visumverfahrens und die Einleitung der von der Behörde aufgezeigten Schritte selbst in der Hand gehabt, wesentliche Verfahrensabschnitte (Dauer bis zur Terminvergabe, Urkundenüberprüfungsverfahren) im Bundesgebiet absolvieren zu können. Resultiert die prognostizierte Dauer mithin maßgeblich auf der völligen Weigerungshaltung des Antragstellers zur Mitwirkung, wird ihm und seinen Kindern die dadurch begründete längere Trennungszeit zumutbar sein.
33
Festzuhalten ist zudem, dass derartige Konstellationen der Lebenswirklichkeit vieler Eltern (z.B. Seeleute, Fernfahrer, Entwicklungshelfer, Soldaten im Auslandseinsatz) entsprechen, ohne dass eine Kindeswohlgefährdung anzunehmen wäre (vgl. auch Dietz, NVwZ-Extra 2022, 1 ff.). Es liegt letztlich in der Verantwortung des visumpflichtigen Elternteils (das sich insoweit verweigert hat und verweigert), zusammen mit der Kindsmutter seine Abwesenheit familien- und kindeswohltauglich zu gestalten. Insoweit ist auch in den Blick zu nehmen, dass der Antragsteller familiäre Beziehungen aufgrund seiner freien (und insoweit nicht zu beanstandenden) Entscheidung begründet hat. Wegen der Gründung familiärer Beziehungen auf aufenthaltsrechtlich ungesicherter Basis konnte er aber nicht schutzwürdig darauf vertrauen, eine familiäre Lebensgemeinschaft werde sich ohne gewisse verfahrensrechtliche Anstrengungen und Problemstellungen allein dadurch herstellen lassen, dass Fakten geschaffen werden.
34
Selbst im Falle von Verzögerungen vor Ort wäre im Übrigen auch eine längere Trennung (durchaus auch im Einzelfall wenige Monate insbesondere in Anbetracht der Mitwirkungsversäumnisse und weiter bestehender Kontaktmöglichkeiten zum Beispiel über moderne Kommunikationsmittel) zumutbar. Unvorhergesehenen längeren Verzögerungen könnte auch durch die Erteilung von Besuchsvisa begegnet werden. Eine vom Antragsteller befürchtete „möglicherweise Jahre währende Dauer der Trennung der Familie“ erscheint jedenfalls als fernliegend.
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2. Die Auffassung der Antragsteller, im stünden derzeit aufgrund seiner Erkrankung Duldungsgründe zur Seite, trifft nicht zu.
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Ein Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gem. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist u.a. dann gegeben, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers durch die Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert, und wenn diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann. Diese Voraussetzungen können nicht nur erfüllt sein, wenn und solange der Ausländer ohne Gefährdung seiner Gesundheit nicht transportfähig ist (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn), sondern auch, wenn die Abschiebung als solche – außerhalb des Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bewirkt (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinn; vgl. BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – juris Rn. 13). In Betracht kommen damit nur inlandsbezogene Abschiebungsverbote. Das dabei in den Blick zu nehmende Geschehen beginnt regelmäßig bereits mit der Mitteilung einer beabsichtigten Abschiebung gegenüber dem Ausländer. Besondere Bedeutung kommt sodann denjenigen Verfahrensabschnitten zu, in denen der Ausländer dem tatsächlichen Zugriff und damit auch der Obhut staatlicher deutscher Stellen unterliegt. Hierzu gehören das Aufsuchen und Abholen in der Wohnung, das Verbringen zum Abschiebeort sowie eine etwaige Abschiebungshaft ebenso wie der Zeitraum nach Ankunft am Zielort bis zur Übergabe des Ausländers an die Behörden des Zielstaats. In dem genannten Zeitraum haben die zuständigen deutschen Behörden von Amts wegen in jedem Stadium der Abschiebung etwaige Gesundheitsgefahren zu beachten. Diese Gefahren müssen sie entweder durch ein (vorübergehendes) Absehen von der Abschiebung mittels einer Duldung oder aber durch eine entsprechende tatsächliche Gestaltung des Vollstreckungsverfahrens mittels der notwendigen Vorkehrungen abwehren (BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 939/14 – juris Rn. 13).
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Nach dem mit Wirkung zum 17. März 2016 (Art. 2 Nr. 2 des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11.3.2016 – BGBl I S. 390 –) eingeführten § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird gesetzlich vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen, wenn nicht der Ausländer eine im Rahmen der Abschiebung beachtliche Erkrankung durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft macht. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten. Legt der Ausländer ärztliche Fachberichte vor, sind diese zum Beweis für ein Abschiebungshindernis nur geeignet, wenn sie nachvollziehbar die Befundtatsachen angeben, gegebenenfalls die Methode der Tatsachenerhebung benennen und nachvollziehbar die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes sowie die Folgen darlegen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich in Zukunft ergeben, wobei sich Umfang und Genauigkeit der erforderlichen Darlegung jeweils nach den Umständen des Einzelfalls richten. Insbesondere ist es dem Arzt, der ein Attest ausstellt, untersagt, etwaige rechtliche Folgen seiner fachlich begründeten Feststellungen und Folgerungen darzulegen oder sich mit einer rechtlichen Frage auseinanderzusetzen (vgl. BayVGH, B.v. 18.10.2013 – 10 CE 13.1890 – juris Rn. 21; VGH BW, B.v. 10.7.2003 – 11 S 2262/02 – juris Rn. 12). Ein Attest, dem nicht zu entnehmen ist, wie es zu den prognostizierten Folgerungen kommt und welche Tatsachen dieser Einschätzung zugrunde liegen, ist nicht geeignet, das Vorliegen eines Abschiebungsverbots wegen Reiseunfähigkeit zu begründen (vgl. BayVGH, B.v. 11.4.2017 – 10 CE 17.349 – juris Rn. 19; B.v. 5.1.2017 – 10 CE 17.30 – juris Rn. 7). Eine ärztliche Bescheinigung ist mithin nur dann i.S.v. § 60 Abs. 2c Satz 2 AufenthG als qualifiziert anzusehen und zur Glaubhaftmachung geeignet, wenn sie von der Ausländerbehörde in groben Zügen nachvollzogen werden kann. Erschließen sich die Gründe für die Reiseunfähigkeit des Ausländers nicht schon aus der Diagnose oder sonstigen Feststellungen in der ärztlichen Bescheinigung von selbst, muss das zur Glaubhaftmachung hierzu vorgelegte ärztliche Attest eine nachvollziehbare Begründung enthalten. Dies gilt vor allem bei diagnostizierten psychischen Erkrankungen oder Störungen, wenn das ärztliche Attest die Reiseunfähigkeit nur behauptet, aber nicht begründet, da die Reisefähigkeit in der Regel durch begleitende Maßnahmen (Verabreichung von Medikamenten, polizeiliche oder ärztliche Begleitung des gesamten Abschiebevorgangs, Übergabe an medizinisches Personal im Herkunftsland) sichergestellt werden kann (vgl. SächsOVG, B.v. 22.8.2019 – 3 B 394/18 – juris Rn. 12 f.).
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Zwar ließ der Antragsteller im Beschwerdeverfahren eine ärztliche Bescheinigung des Universitätsklinikums E. (Psychiatrische und Psychotherapeutische Klinik) vom 28. September 2022 vorlegen, wonach beim Antragsteller eine schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen (F32.3) diagnostiziert worden sei. Darin wird bestätigt, dass sich der Antragsteller seit 13. September 2022 in stationärer Behandlung befinde. Die stationäre Aufnahme sei bei schwerer depressiver Episode mit psychotischen Symptomen erfolgt, die momentan vorrangig medikamentös therapiert werde (Abschirmung mit Lorazepam, antipsychotische Medikation mit Risperidon, Escitalopram als Antidepressivum, Mirtazapin zur Verbesserung des Schlafs und zur Unterstützung der antidepressiven Wirkung). Es erfolgten regelmäßige Gespräche mit Ärzten und Psychologen auf Station. Die stationäre Behandlung werde voraussichtlich bis Ende September 2022 andauern. Nach Abschluss der stationären Behandlung werde eine ambulante psychiatrische Anbindung sowie eine psychotherapeutische Weiterbehandlung empfohlen. Dies erscheine notwendig, um einen Rückfall zu vermeiden, welcher mit handlungsorientierter Suizidalität im Rahmen der psychotischen Symptomatik einhergehen könnte. Der Antragsteller habe seine Suizidalität bei Aufnahme im Rahmen imperativer Stimmen geäußert, die ihm befohlen hätten, aus dem Fenster zu springen oder sich vor einen Bus oder eine Straßenbahn zu werfen. Die bei Aufnahme im Beisein eines Dolmetschers erhobenen Anamnesebefunde erschienen glaubhaft und stimmig. Im Rahmen der stationären Behandlung, insbesondere der medikamentösen Therapie, seien suizidale Gedanken und imperative Stimmen rückläufig gewesen. Es werde daher eine Fortsetzung der Behandlung im ambulanten Bereich empfohlen.
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Eine Reiseunfähigkeit des Antragstellers wird in der ärztlichen Stellungnahme aber nicht bescheinigt. Zwar hat der Antragsteller im Schriftsatz vom 13. Oktober 2022 (mit dem die ärztliche Bescheinigung vom 28.9.2022 vorgelegt worden ist) vortragen lassen, schon aufgrund der Kürze der Zeit sei es derzeit nicht möglich, eine ausführlichere fachärztliche Stellungnahme einzureichen. Die Klinik bzw. die dort behandelnden Ärzte könnten dies bereits aus Zeit- bzw. Kapazitätsgründen nicht. Eine Anschlussbehandlung habe noch nicht erfolgen können. Während des laufenden Beschwerdeverfahrens ist aber dem Senat kein aktuelles Attest zur Kenntnis gelangt. Ob der Antragsteller überhaupt derzeit behandelt wird, ist folglich nicht ersichtlich (daher kommt schon aus diesem Grund keine Ermessensduldung gem. § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG in Betracht). Von einer Reiseunfähigkeit des Antragstellers ist daher nicht auszugehen.
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3. Die verwaltungsgerichtliche Auffassung, ein Anordnungsanspruch liege auch nicht in Form einer sogenannten Verfahrensduldung (bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den am 30.4.2021 und – soweit ersichtlich – immer noch nicht verbeschiedenen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG) vor, weil er zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung nicht geduldeter Ausländer i.S.d. § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG sei und daher keinen Anspruch auf Erteilung der beantragten Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG habe, begegnet keinen durchgreifenden Bedenken.
41
Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der Voraussetzungen einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz. Das gilt grundsätzlich auch für die Voraussetzung, dass ein Antragsteller ein „geduldeter Ausländer“ bzw. (seit der ab 31.12.2022 gültigen Fassung des § 25b AufenthG nunmehr) „Ausländer, der geduldet ist“ sein muss (vgl. BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – juris Rn. 23). Ein Ausländer ist geduldet, wenn ihm eine rechtswirksame Duldung erteilt worden ist oder er einen Rechtsanspruch auf Duldung hat.
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Allein die Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG führt nicht zur Erteilung einer Verfahrensduldung. Sie löst für den Antragsteller mangels eines rechtmäßigen Aufenthalts keine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 AufenthG aus. Es widerspräche der durch §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 1 und 2, 81 Abs. 3 und 4 AufenthG vorgegebenen Systematik und Konzeption des Aufenthaltsgesetzes, denen zufolge für die Dauer eines Erteilungsverfahrens nur unter den in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG geregelten Voraussetzungen ein vorläufiges Bleiberecht besteht, darüber hinaus derartige „Vorwirkungen“ anzuerkennen und für die Dauer eines Erteilungsverfahrens eine Duldung vorzusehen (BayVGH, B.v. 26.11.2018 – 19 C 18.54 – juris Rn. 24; OVG NRW, B.v. 10.10.2018 – OVG 3 S 64.18 – juris Rn. 5). Auch kann sich der Antragsteller auf einen materiellen Duldungsanspruch wegen Unmöglichkeit der Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG) nicht berufen (siehe bereits die obigen Ausführungen).
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Der vom Antragsteller angeführte Einwand, der Antragsgegner hätte über den gestellten Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG doch vor der Vorlage des Reisepasses entscheiden und dabei von der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung der Passpflicht absehen können (von einer Ermessensreduktion sei insoweit auszugehen), greift insoweit aufgrund des Umstands, dass höchstrichterlich geklärt und letztendlich zwischen den Beteiligten unstreitig ist, zu welchem Zeitpunkt der Antragsteller ein „geduldeter Ausländer“ bzw. ein „Ausländer, der geduldet ist“ sein muss, und des Umstands, dass der Antragsteller eine frühere Verbescheidung nicht mit den ihm rechtlich zur Verfügung stehenden Mitteln durchgesetzt hat, nicht durch.
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Im Übrigen ist fernliegend, dass im Rahmen einer Entscheidung über das Absehen von der Passpflicht eine Ermessensreduzierung auf Null anzunehmen gewesen wäre, zumal der Antragsteller erst knapp drei Monate nach Beantragung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG die Ausstellung eines Reisepasses beantragt hat und der erfolgreiche Abschluss des Passverfahrens absehbar war. Letzteres bestätigt die sehr zeitnahe Ausstellung des Reisepasses – offenbar ohne größere Probleme – nach Beantragung des Passes. Auch der Auffassung, eine unzulässige Rechtsausübung wäre z.B. anzunehmen, wenn diejenige Behörde, die über die Erteilung der beantragten Aufenthaltserlaubnis gem. § 25b AufenthG und zugleich über die Erteilung/Verlängerung der Duldung zu entscheiden habe, die Verlängerung der Duldung – wie hier – zu einem Zeitpunkt versage (Zugang der Verfügung vom 7.6.2022), in dem die (Soll-)Erteilungsvoraussetzungen für die Aufenthaltserlaubnis bereits vorgelegen hätten, vermag der Senat nicht zu folgen. Sie greift schon deshalb nicht durch, weil es auf die (möglicherweise rechtswidrige) Ablehnung der Verlängerung der Duldung im Rahmen des § 25b AufenthG schon dann nicht ankommt, wenn der Ausländer einen Rechtsanspruch auf Duldung hat, da – wie bereits ausgeführt – ein Ausländer nicht nur geduldet ist, wenn ihm eine rechtswirksame Duldung erteilt worden ist, sondern auch, wenn er einen Rechtsanspruch auf Duldung hat.
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4. Eine Verfahrensduldung wegen eines möglichen Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG – wie vom Antragsteller wohl ausweislich seines mit Schriftsatz vom 1. Februar 2023 geäußerten Vergleichsvorschlags angenommen – scheidet schon deshalb aus, weil der Antragsteller bereits schon lange vor dem Stichtag des 31. Oktober 2022 kein geduldeter Ausländer war (siehe bereits die obigen Ausführungen) und daher die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG schon aus diesem Grund nicht gegeben sind.
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.
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6. Das Prozesskostenhilfegesuch für das Beschwerdeverfahren war abzulehnen, weil der Antragsteller keine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse eingereicht hat, insbesondere nicht das nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 117 Abs. 4 ZPO zwingend vorgeschriebene Formular. Abgesehen davon hat die Beschwerde – wie sich aus Vorstehendem ergibt – keine hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne des § 166 VwGO, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).