Inhalt

VG Bayreuth, Urteil v. 20.03.2023 – B 3 K 16.369
Titel:

Erstattungsanspruch, gesetzliche Vermutung, Vollbeweis

Normenketten:
SGB X § 104
OEG § 1 Abs. 1 S. 1
BVG § 25a Abs. 2 S. 1
Leitsatz:
Die gesetzliche Vermutung des § 25a Abs. 1 Satz 1 BVG ist widerlegt, wenn die Kausalität zwischen der Schädigung und der Notwendigkeit der Leistung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bzw. ohne vernünftigen Zweifel zu verneinen ist.
Schlagworte:
Erstattungsanspruch, gesetzliche Vermutung, Vollbeweis
Fundstelle:
BeckRS 2023, 42225

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch den Beklagten durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 v.H. des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 v.H. des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

1
Die Beteiligten streiten über die Frage, ob der Kläger gegen den Beklagten als Träger der Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz – OEG) i.V.m. dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz – BVG) einen Anspruch auf Erstattung bzw. Übernahme der Kosten hat, die der Kläger für den Leistungsempfänger Herrn … (A.) aus Mitteln der Sozialhilfe aufgewendet hat. Zudem beantragt der Kläger, den Beklagten zu verurteilen, beim Leistungsempfänger die Diagnose „leichte Intelligenzminderung mit deutlicher Verhaltensstörung an der Grenze zur Lernbehinderung“ als Folge einer Schädigung im Sinne des OEG anzuerkennen.
2
Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass A., geboren am …, im Kindesalter in den Jahren 1991/1992 von seinen Eltern vernachlässigt und sexuell missbraucht wurde.
3
Mit Bescheid vom 27.09.2005 wurde vom Zentrum Bayern Familie und Soziales als Folge einer Schädigung nach dem OEG ab dem 01.04.2005 eine „rezidivierende depressive Störung, mittelgradige Episode, somatoforme autonome Funktionsstörung mehrerer Organe und Systeme“ anerkannt. Es wurde eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H. festgestellt und aus diesem Grund eine Versorgungsrente zugesprochen. Der Bescheid wurde unter anderem damit begründet, das A. mit dem 5. bzw. 6. Lebensjahr Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 OEG geworden sei. Die anerkannte Gesundheitsstörung sei Folge dieser Schädigung.
4
Nach dem ärztlichen Bericht zur Einleitung von Maßnahmen/Hilfen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII als Vorlage beim Sozialhilfeträger vom 27.03.2007 lagen bei A. die hilfebedarfsbegründenden Diagnosen ICD 10 F70.1 (leichte Intelligenzminderung mit deutlicher Verhaltensstörung) und ICD 10 F93.9 (emotionale Störung des Kindesalters) vor. Aus ärztlicher Sicht wurden unter anderem vollstationäre Leistungen der Eingliederungshilfe (z.B. Heimunterbringung) und berufliche Maßnahmen (z.B. WfbM, Förderlehrgänge, Berufsausbildung, etc.) für erforderlich gehalten.
5
A. wurde am 02.05.2007 im … Stift, …, aufgenommen.
6
Mit am 31.05.2007 beim Kläger eingegangenem Schreiben hat die Betreuerin von A. beim Kläger die Übernahme der Unterbringungskosten für A. im … Stift, …, beantragt und dabei angegeben, dass A. aufgrund sexuellen Missbrauchs an einer seelischen Behinderung leide.
7
Mit Schreiben vom 20.12.2007 an die Beklagtenvertreterin machte der Kläger als nachrangiger Leistungsträger für die von ihm gewährten Sozialleistungen (Eingliederungshilfe, Hilfe zum Lebensunterhalt, Barbetrag und Bekleidungsbeihilfe) Kostenerstattung gemäß § 104 SGB X geltend. Zugleich wurde „vorsorglich“ ein Antrag nach § 95 SGB XII gestellt, falls A. die o.g. Leistungen noch nicht selbst beantragt habe.
8
Mit Schreiben vom 30.01.2008 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass der Anspruch nicht anerkannt werde.
9
Mit Bescheiden vom 26.03.2008, 04.04.2008, 08.05.2008, 28.05.2009, 16.06.2009, 16.09.2010, 18.05.2011 und 18.04.2012 gewährte der Kläger die notwendigen Sozialhilfeleistungen für die Unterbringung von A. in der Einrichtung Wohnheim … Stift, …, …, ab dem 02.05.2007 laufend und die Beschäftigung in der Einrichtung Förderstätte … Stift, …, …, vom 01.07.2010 bis 31.03.2012. Ausweislich der im Klageverfahren vorgelegten Kostenaufstellung des Klägers sind hierfür im Zeitraum vom 02.05.2007 bis 31.03.2013 insgesamt Kosten in Höhe von 341.865,76 € angefallen.
10
Mit Schreiben vom 04.04.2008 erinnerte der Kläger an den Erstattungsanspruch vom 20.12.2007 und bat um Übernahme des Falles in eigener Zuständigkeit. Darüber hinaus wurde darauf hingewiesen, dass A. seelisch behindert sei, die Schädigung (30%) könne auf den sexuellen Missbrauch zurückzuführen sein.
11
Mit Bescheid vom 06.11.2008 wurde vom Zentrum Bayern Familie und Soziales bei A. eine Schwerbehinderung mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 60 festgestellt. Der Bescheid wurde damit begründet, dass eine Gesundheitsstörung in Form einer „seelischen Störung, somatoforme Störung, Beeinträchtigung der Gehirnfunktion“ vorliege.
12
Mit Schreiben vom 30.05.2011 teilte das Zentrum Bayern Familie und Soziales Region Oberbayern dem Kläger mit, dass Ursache für die Unterbringung in der Einrichtung eine leichte Intelligenzminderung mit deutlicher Verhaltensstörung an der Grenze zur Lernbehinderung sei. Hierbei handle es sich laut psychiatrischer versorgungsärztlicher Stellungnahme um die schädigungsfremden Folgen einer frühkindlichen Deprivation bzw. eines Milieuschadens. Ein wirtschaftlicher Zusammenhang liege somit nicht vor. Dem Antrag auf Kostenerstattung könne aus diesem Grund nicht entsprochen werden.
13
Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 15.04.2013, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht München am 17.04.2013, Klage erhoben (B 3 K 13.375) und beantragt,
1.
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 341.865,76 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5% über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zahlen.
2.
Der Beklagte wird verurteilt,
a) bei Herrn A. …, geb. …, die Diagnose „leichte Intelligenzminderung mit deutlicher Verhaltensstörung an der Grenze zur Lernbehinderung“ als Folge einer Schädigung i.S.d. OEG anzuerkennen und
b) die Kosten des hierauf beruhenden Bedarfs gemäß §§ 1 Abs. 1 Satz 1 OEG, 25, 25b Abs. 1 Nr. 10, 27d BVG, 54 SGB XII, 55 SGB IX ab 01.04.2013 zu übernehmen.
3. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die unter Antrag 2.b) genannten Kosten zu erstatten, soweit diese durch den Kläger bereits gezahlt worden sind.
14
Zur Begründung wird insbesondere angeführt, dass A. unstreitig Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 OEG geworden sei. Wer infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten habe, erhalte gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Nach § 25 Abs. 1 BVG erhielten Beschädigte Leistungen der Kriegsopferfürsorge zur Ergänzung der übrigen Leistungen nach dem BVG als besondere Hilfen im Einzelfall gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 2 SGB I. Hierunter würden gemäß §§ 25b Abs. 1 Nr. 10, 27d Abs. 1 Nr. 3 BVG auch Maßnahmen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung nach den §§ 53 ff. SGB XII fallen, wie sie im vorliegenden Fall vom Kläger erbracht worden seien.
15
Gemäß § 25a Abs. 1 BVG würden Leistungen der Kriegsopferfürsorge erbracht, wenn und soweit die Beschädigten infolge der Schädigung nicht in der Lage seien, den nach den nachstehenden Vorschriften anzuerkennenden Bedarf aus den übrigen Leistungen nach diesem Gesetz und dem sonstigen Einkommen und Vermögen zu decken. Zwischen den Folgen der Schädigung und der Notwendigkeit, die Leistungen der Kriegsopferfürsorge in Anspruch zu nehmen, müsse eine „wirtschaftliche Kausalität“ bestehen, die nach Ansicht des Klägers vorliege. Gemäß § 25a Abs. 2 Satz 1 BVG werde ein Zusammenhang zwischen der Schädigung und der Notwendigkeit der Leistung vermutet, sofern nicht das Gegenteil offenkundig oder nachgewiesen sei. Bei dieser Regelung handele es sich um eine gesetzliche Vermutung, die weder durch Offenkundigkeit noch durch einen Nachweis widerlegt sei.
16
Mit Beschluss vom 13.05.2013 hat das Bayerische Verwaltungsgericht München sich für örtlich nicht zuständig erklärt und den Rechtsstreit an das örtlich zuständige Bayerische Verwaltungsgericht Bayreuth verwiesen.
17
Mit Schriftsatz vom 17.09.2013 hat die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
18
Zur Begründung bezieht sich die Beklagte auf die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 09.09.2013. Bei A. seien hirnorganische Veränderungen und Entwicklungsdefizite ab dem Kleinkindalter nachgewiesen. Die vorliegenden Verhaltens- und Orientierungsstörungen hätten keinen Bezug zu den erlittenen Gewalttaten, sondern seien vielmehr im Rahmen der schädigungsfremden Hirnleistungsstörung zu sehen. Die Unterbringung im Wohnheim und in der Förderstätte des … Stifts sei auf die schädigungsunabhängigen und bereits vor den Gewalttaten vorliegenden hirnorganischen Veränderungen zurückzuführen. Auch ohne die Anerkennung von Schädigungsfolgen nach dem OEG sei A. auf die stationären Leistungen der Eingliederungshilfe angewiesen. Der wirtschaftliche Zusammenhang nach § 25a BVG sei damit nicht gegeben.
19
Mit Schriftsatz vom 25.09.2013 teilte der Kläger mit, dass „die versorgungsärztliche Stellungnahme nach Aktenlage“ vom 09.09.2013 nicht geeignet sei, die Vermutung des § 25a Abs. 2 Satz 1 BVG zu widerlegen. Sie stehe unter anderem im Widerspruch zur Stellungnahme vom 13.09.2005, nach welcher die Diagnose „leichte Intelligenzminderung und Lernbehinderung auf eine frühkindliche Deprivation bzw. einen Milieuschaden“ zurückzuführen sei.
20
Mit Schriftsatz vom 10.10.2013 teilte der Beklagte mit, dass die Anerkennung von Schädigungsfolgen in den Zuständigkeitsbereich der Versorgungsämter falle. Die Klageschrift sei bereits an das Versorgungsamt der Regionalstelle Oberbayern gegeben worden.
21
Mit Schriftsatz vom 29.10.2013 beantragte der Kläger das Verfahren ruhend zu stellen bis das Versorgungsamt über den weitergeleiteten Antrag entschieden habe. Mit Schriftsatz vom 31.10.2013 stimmte der Beklagte diesem Ruhensantrag zu. Mit Beschluss vom 05.11.2013 ordnete das Bayerische Verwaltungsgericht Bayreuth das Ruhen des Verfahrens an.
22
Mit Schriftsatz vom 11.05.2016 bat der Kläger darum, das Verfahren wiederaufzunehmen, da der Antrag auf Anerkennung der weiteren Schädigungsfolge „leichte Intelligenzminderung mit deutlicher Verhaltensstörung an der Grenze der Lernbehinderung“ durch die beauftragte Regionalstelle Oberbayern abgelehnt worden sei und dadurch der Grund, das Verfahren ruhen zu lassen, weggefallen sei.
23
Das Verfahren wurde daraufhin wiederaufgenommen (B 3 K 16.369).
24
In Abstimmung mit den Beteiligten erließ das Gericht am 23.02.2017 einen Beweisbeschluss zur Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens durch Herrn Dr. med. …, Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, Facharzt für öffentliches Gesundheitswesen, zertifizierter Gutachter Psychiatrie und Psychotherapie (DGNB), Sexualmedizin (DGfS). Danach war im Gutachten zu folgenden Fragen Stellung zu nehmen:
1. Würde bei A. auch ohne die in den Jahren 1991/1992 erlittene Gewalttat (sexueller Missbrauch) der bislang angefallene und, soweit prognostizierbar, der künftig anfallende Bedarf an Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (Unterbringung in der Wohn- und Förderstätte … Stift, …, …*) mit Sicherheit bestehen?
2. Sollte die Frage eins nicht mit einem „Ja“ beantwortet werden können:
a) Mit welchem Grad an Wahrscheinlichkeit würde ohne die erlittene Gewalttat bei A. der gegenwärtige Hilfebedarf bestehen?
b) Wäre A. auch ohne die erlittene Gewalttat heute auf andere Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen angewiesen? Wenn ja, auf welche und mit welchem Grad an Wahrscheinlichkeit? Jeweils mit Schriftsatz vom 12.10.2017 teilten die Parteien mit, dass mit einem Ruhendstellen des Verfahrens bis zum Vorliegen des Gutachtens Einverständnis besteht. Mit Beschluss vom 19.10.2017 ordnete das Bayerische Verwaltungsgericht Bayreuth das Ruhen des Verfahrens an.
25
Mit Schreiben vom 21.03.2019 übersandte Dr. med. … das von ihm erstellte psychiatrische Sachverständigengutachten. Laut dem Gutachten ist von folgenden Gesundheitsstörungen des psychiatrischen Fachgebiets auszugehen: Leichtgradige Intelligenzminderung mit eindeutiger Verhaltensstörung, betreuungs- und behandlungsbedürftig (ICD10:F70.1), organische emotional labile Störung (ICD10:F06.6), rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert (ICD10:F33.4).
26
Die Beweisfragen des Gerichts wurden wie folgt beantwortet:
1. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist davon auszugehen, dass bei A. auch ohne die in den Jahren 1991/1992 erlittene Gewalttat (sexueller Missbrauch) der bislang angefallene und, soweit prognostizierbar, der künftig anfallende Bedarf an Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (Unterbringung in der Wohn- und Förderstätte … Stift) besteht.
2. Entfällt, da Frage 1. bejaht wird.
27
Mit Schriftsatz vom 17.04.2019 teilte der Kläger mit, dass laut dem Gutachten nicht „mit Sicherheit“ davon auszugehen sei, dass der Geschädigte auch ohne die in der Vergangenheit erlittene Gewalttat auf Eingliederungshilfe angewiesen wäre, sodass die Fragestellung des Gerichts nicht hinreichend beantwortet sei. Der Vollbeweis des Gegners sei nach Ansicht des Klägers somit nicht gelungen.
28
Das Verfahren wurde daraufhin wiederaufgenommen (zunächst B 3 K 19.367 dann B 10 K 19.367).
29
Mit gerichtlichen Schreiben vom 24.05.2019 wurde der Gutachter um eine kurze Stellungnahme gebeten, ob bewusst der Begriff der „hohen Wahrscheinlichkeit“ anstatt „mit Sicherheit“ gewählt worden sei, wie der Unterschied zwischen den beiden Begriffen qualifiziert werde oder ob nicht doch auch „mit Sicherheit“ gerechtfertigt werden könne.
30
Mit Schreiben vom 03.06.2019 teilte der Gutachter unter anderem mit, dass sich aus medizinischer Sicht ein höherer Grad der Aussage wie „mit Sicherheit“ nicht begründen lasse. Der Begriff der „hohen Wahrscheinlichkeit“ sei bewusst gewählt worden. Er bedeute im forensisch-psychiatrischen Sprachgebrauch, dass noch Zweifel bestünden, die nicht „rein theoretischer Art“ seien und andere Möglichkeiten offenblieben, die nicht nur gedanklicher Art seien und als „völlig abseits“ liegend außer Betracht bleiben dürften. Bei dem Begriff „mit Sicherheit“ sei im forensisch psychiatrischen Sprachgebrauch gemeint, dass keinerlei Zweifel mehr bestünden. Letzteres könne im vorliegenden Falle nicht festgestellt werden, da hierzu die Datenlage nicht eindeutig genug gewesen sei.
31
Mit Schriftsatz vom 18.06.2019 teilte der Kläger erneut mit, dass der Vollbeweis des Gegners nicht gelungen sei.
32
Mit Schriftsatz vom 21.06.2019 teilte der Beklagte mit, dass die im Opferentschädigungsrecht begründenden, hier widerlegenden, Tatsachen grundsätzlich im Vollbeweis, das heiße mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein müssten. Für diesen Beweisgrad sei es nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststünden.
33
Mit Schreiben vom 03.11.2021 bat das Gericht auf Anregung des Beklagten den Sachverständigen um ergänzende Stellungnahme, ob „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit/ohne vernünftigen Zweifel“ davon auszugehen ist, dass bei A. auch ohne die in den Jahren 1991/1992 erlittene Gewalt (sexueller Missbrauch) der bislang angefallene, und soweit prognostizierbar, der künftig anfallende Bedarf an Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (Unterbringung in der Wohn- und Förderstätte … Stift) bestehen würde.
34
Im Rahmen der ergänzenden psychiatrischen Stellungnahme vom 12.04.2022 kam der Sachverständige zum Ergebnis, dass die im Gutachten gezogene Schlussfolgerung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit/ohne vernünftigen Zweifel gezogen werden könne. Bei A. bestehe der bislang angefallene und, soweit prognostizierbar, der künftig anfallende Bedarf an Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen auch ohne die in den Jahren 1991/1992 erlittene Gewalttat.
35
Jeweils mit Schriftsatz vom 25.04.2022 erklärten sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
36
Das Verfahren wird seit 16.08.2022 von der nach der Geschäftsverteilung des VG Bayreuth zuständigen 8. Kammer bearbeitet (B 8 K 19.367).
37
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird gemäß § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

38
Die zulässige Klage, über die das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist unbegründet.
39
1. Die Klage ist zulässig.
40
1.1 Der Verwaltungsrechtsweg für die Entscheidung über den geltend gemachten Erstattungsanspruch gemäß § 104 SGB X ist eröffnet. Nach § 114 Satz 1 SGB X ist für einen Erstattungsanspruch nach den §§ 102 ff. SGB X derselbe Rechtsweg wie für den Anspruch auf die Sozialleistung gegeben, wobei gemäß § 114 Satz 2 Alt. 2 SGB X in den Fällen der §§ 103 bis 105 SGB X der Anspruch gegen den erstattungspflichtigen Leistungsträger maßgebend ist. Der Kläger stützt sein Klagebegehren darauf, dass die an den Kläger bereits erbrachten und noch zu erbringenden Leistungen der Eingliederungshilfe aufgrund des sexuellen Missbrauchs den Leistungen des OEG unterfallen, welches in § 1 Abs. 1 OEG Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG – vorliegend der Kriegsopferfürsorge nach §§ 25 ff. BVG, insbesondere § 27d Abs. 1 BVG – vorsieht. Gemäß § 7 Abs. 2 OEG ist, soweit die Versorgung in der Gewährung von Leistungen besteht, die den Leistungen der Kriegsopferfürsorge nach den §§ 25 bis 27h BVG entsprechen, der Verwaltungsrechtsweg gegeben. Auch soweit für die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen das SGB IX entsprechend Anwendung findet, § 27d Abs. 3 Satz 1 BVG, bleiben für den in §§ 25 bis 27j BVG geregelten Bereich der Kriegsopferfürsorge die Verwaltungsgerichte rechtswegzuständig, § 51 Abs. 1 Nr. 6 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
41
1.2 Das Verwaltungsgericht Bayreuth ist an den Verweisungsbeschluss des Verwaltungsgerichts München vom 13.05.2013, welcher die örtliche Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts Bayreuth ausspricht, gemäß § 83 Satz 1 i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG gebunden.
42
1.3 Ziffer 1 des Klageantrags ist als Leistungsklage statthaft.
43
Hinsichtlich Ziffer 2a) des Klageantrags kann offenbleiben, ob es sich um einen Leistungsantrag handelt (so der Verweisungsbeschluss des VG München, B.v. 13.05.2013 – M 18 K 13.1668) oder ob der Kläger vielmehr in gesetzlicher Prozessstandschaft für A. nach § 95 Satz 1 SGB XII einen Verpflichtungsantrag zur Feststellung der Schädigungsfolge gestellt hat. Ebenso kann hinsichtlich der Klageanträge Ziffer 2b) und Ziffer 3 dahingestellt bleiben, ob sie entweder als Leistungsantrag/Feststellungsantrag des Klägers in Prozessstandschaft für A. oder als Erstattungsantrag im Wege der Leistungsklage statthaft sind und inwieweit sie hilfsweise voneinander abhängig sein sollten.
44
Bezüglich des Antrags nach § 95 SGB XII steht dem Kläger ein Rechtsschutzbedürfnis zur Seite, da er – nach Auslegung seiner Anträge gemäß § 88 VwGO – die über den Erstattungsantrag in Ziffer 1 hinausgehende künftige Kostenübernahme durch den Beklagten begehrt. Einen entsprechenden Antrag hat er am 20.12.2007 beim Beklagten gestellt.
45
1.4 Der Kläger ist gemäß § 42 Abs. 2 VwGO analog klagebefugt. Ein möglicher Anspruch auf die begehrten Leistungen ergibt sich aus § 104 SGB X bzw. § 95 SGB XII.
46
2. Die Klage hat jedoch keinen Erfolg.
47
2.1 Der Kläger hat keinen Anspruch gegen den Beklagten auf Kostenerstattung in Bezug auf die im Zeitraum 02.05.2007 bis 31.03.2013 bewilligten Leistungen für die Unterbringung, bzw. Beschäftigung des A. (Ziff. 1 des Klageantrags).
2.1.1
48
Der maßgebliche Zeitpunkt für die rechtliche Beurteilung des Anspruchs des Klägers ergibt sich aus dem materiellen Recht, hier dem streitgegenständliche Leistungszeitraum. Denn der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch gemäß § 104 SGB X knüpft an einen ganz bestimmten Zeitraum an, nämlich den streitgegenständlichen Leistungszeitraum vom 02.05.2007 bis 31.03.2013, in dem die Tatbestandsvoraussetzungen des Gesetzes in der damaligen Fassung vorliegen müssen (vgl. Kopp/Schenke, 24. Auflage, 2018, VwGO, § 113, Rn. 217 ff.; Polzin: Der maßgebliche Zeitpunkt im Verwaltungsprozess, JuS 2004, S. 211).
2.1.2
49
Die Anspruchsvoraussetzungen von § 104 SGB X in der Fassung der Bekanntmachung vom 18.01.2001 (BGBl. I S. 130) liegen nicht vor.
50
Gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X a.F. ist der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat und – wie hier – weder die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X a.F. vorliegen noch der (vorrangige) Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat.
51
Ein Erstattungsanspruch nach diesen Bestimmungen setzt damit voraus, dass Leistungspflichten (mindestens) zweier Leistungsträger nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren, wobei die Verpflichtung eines der Leistungsträger der Leistungspflicht des anderen nachgehen muss (BVerwG, U.v. 09.02.2012 – 5 C 3/11 – juris, Rn. 26).
52
Diese Voraussetzung ist vorliegend nicht gegeben. Zwar sind Leistungen der Sozialhilfe, die der Kläger als überörtlicher Träger der Sozialhilfe im streitgegenständlichen Zeitraum an A. geleistet hat, gemäß § 2 Abs. 1 SGB XII grundsätzlich nachrangig gegenüber anderen Sozialleistungen. Eine daneben ebenfalls bestehende (vorrangige) Leistungspflicht des Beklagten nach § 1 Abs. 1 OEG in der Fassung vom 01.01.2005 (BGBl. I S. 1950) auf Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe in entsprechender Anwendung der Vorschriften der §§ 25 bis 27h BVG in der Fassung vom 01.01.2005 (BGBl. I S. 818) bestand, bzw. besteht im vorliegenden Fall jedoch nicht, weil deren Voraussetzungen nicht vorliegen. Insbesondere fehlt zwischen der anerkannten Schädigung des A. nach dem OEG und der Notwendigkeit der Hilfeleistungen der erforderliche kausale Zusammenhang.
53
Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
54
Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG a.F. erhält, wer im Geltungsbereich des OEG einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Damit muss der rechtswidrige Angriff kausal für die vorliegende Schädigung und die darauf beruhenden Leistungsansprüche sein.
55
Zwar wird nach § 25a Abs. 2 S. 1 BVG a.F. ein Zusammenhang zwischen der Schädigung und der Notwendigkeit der Leistung vermutet, soweit das Gegenteil nicht offenkundig oder nachgewiesen ist. Doch ist diese gesetzliche Vermutung durch das gerichtlich in Auftrag gegebene psychiatrische Sachverständigengutachten des Herrn Dr. med. … vom 16.03.2019 in Verbindung mit dessen ergänzenden psychiatrischen Stellungnahmen vom 12.04.2022 als widerlegt anzusehen.
56
Eine gesetzliche Vermutung ist nach allgemeinen Grundsätzen nur durch den vollen Beweis des Gegenteils widerlegbar; im Gegensatz zum Anscheinsbeweis reicht es daher nicht aus, dass die Vermutung nur erschüttert wird, um zur vollen Beweislast des Anspruchstellers zu gelangen, sondern die Unwahrheit der vermuteten Tatsache muss voll bewiesen werden (s. hierzu Reichold in Thomas/Putzo, ZPO, 34. Aufl. 2013, RdNr. 4 zu § 292; Kopp/Schenke, VwGO, 19. Aufl. 2013, RdNr. 12 zu § 108).
57
Dieser allgemeine Grundsatz wird in § 25a Abs. 2 Satz 1 BVG a.F. vom Gesetzgeber weiter präzisiert, indem Offenkundigkeit oder der Nachweis des Gegenteils gefordert werden. Sinn und Zweck derartiger Beweiserleichterungen ist regelmäßig, Beweisschwierigkeiten nicht zu Lasten für schutzwürdig erachtete Beteiligte wirken zu lassen (vgl. VG München, U.v. 10.12.2009 – M 15 K 09.42 – juris, Rn. 24, VG Augsburg, U.v. 04.11.2011 – Au 2 K 10.952 – juris, Rn. 28).
58
Nach § 25a Satz 1 BVG a.F. sind nur solche Tatsachen offenkundig, die von jedermann als feststehend angesehen werden. Nach dem Sinn und Zweck der Regelung sind auch an andere Alternativen, d.h. an den Nachweis des Gegenteils, hohe Anforderungen zu stellen. Der verlangte Nachweis ist deshalb nur geführt, wenn sich auf Grund von Tatsachen im Einzelfall oder aus allgemeinen Erfahrungssätzen die Überzeugung ergibt, dass das schädigende Ereignis weder allein noch im Zusammenwirken mit anderen Umständen die Notwendigkeit der Leistung verursacht hat (VG Augsburg, U.v. 04.11.2011 – Au 2 K 10.952 – a.a.O., Rn. 29). Die bloße Unwahrscheinlichkeit der Verursachung reicht zur Widerlegung der Vermutung noch nicht aus (vgl. BVerwG, U.v. 11.05.1956 – V C 24.54 – juris, Rn. 19).
59
Für den Beweisgrad des Vollbeweises muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüberhinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen. Die Tatsache muss in so hohem Grade wahrscheinlich sein, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. BayLSG, U.v. 14.05.2019 – L 15 VJ 9/17 – juris, Rn. 46 m.w.N.). Dabei reicht ein Wahrscheinlichkeitsgrad, der so hoch ist, dass hinsichtlich der Tatsache kein vernünftiger Zweifel mehr besteht (vgl. Petri-Kramer in Plagemann, Münchener Anwaltshandbuch Sozialrecht, 5. Auflage 2018, § 34 Rn. 94).
60
Letzteres liegt vor. Der beauftragte Sachverständige kommt im Rahmen seines Gutachtens zum Ergebnis, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bzw. ohne vernünftigen Zweifel davon auszugehen sei, dass bei A. – auch ohne die in den Jahren 1991/1992 erlittene Gewalttat (sexueller Missbrauch) – der bislang angefallene und, soweit prognostizierbar, der künftig anfallende Bedarf an Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (Unterbringung in der Wohn- und Förderstätte … Stift) besteht.
61
Damit ist nach Überzeugung des Gerichts und entsprechend der o.g. Erwägungen die gesetzliche Vermutung, dass ein Zusammenhang zwischen der Schädigung und der Notwendigkeit der Leistung besteht, widerlegt.
62
Zwar können nach § 25a Abs. 2 Satz 2 BVG a.F. Leistungen der Kriegsopferfürsorge auch erbracht werden, wenn ein Zusammenhang zwischen der Schädigung oder dem Verlust des Ehegatten oder Lebenspartners, Elternteils, Kindes oder Enkelkinds und der Notwendigkeit der Leistung nicht besteht, die Leistung jedoch im Einzelfall durch besondere Gründe der Billigkeit gerechtfertigt ist. Leistungen aus Billigkeit kommen jedoch nur in Betracht, wenn sich direkte Nachteile für den Betroffenen ergeben. Im Erstattungsverfahren ist dies jedoch nicht der Fall.
63
2.2 Über den geltend gemachten Zinsanspruch war mangels Vorliegens eines Leistungsanspruches nicht zu entscheiden.
64
2.3 Da nach dem Vorstehenden dem Kläger gemäß § 104 SGB X kein Anspruch gegen den Beklagten auf Erstattung von Leistungen der Eingliederungshilfe mangels Vorliegens der notwendigen Kausalität zusteht, bleiben denknotwendig auch die mit dem Antrag zu 2a) und b) begehrte Anerkennung einer Schädigung als Folge des rechtswidrigen Angriffs gegen A. und die Übernahme der Kosten ab dem 01.04.2013 ohne Erfolg. Gleiches gilt hinsichtlich des Leistungsantrags in Ziffer 3 in Berücksichtigung des insoweit inhaltlich gleichen § 104 Abs. 1 SGB X i.d.F. vom 23.12.2016.
65
3. Als unterlegene Partei trägt der Kläger die Kosten des Verfahren gemäß § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 167 Abs. 2, 173 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.