Titel:
Erfolgloser einstweiliger Rechtsschutz gegen aufenthaltsrechtliche Anordnungen aufgrund generalpräventiver Gründe
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, § 11 Abs. 1, § 53 Abs. 1, § 81 Abs. 4
StGB § 78 Abs. 3, § 78c Abs. 3 S. 2
BZRG § 46, § 51
Leitsätze:
1. Eine Ausweisung nach § 53 Abs. 1 AufenthG kann alleine auf generalpräventive Gründe gestützt werden. Vom maßgeblichen weiteren „Aufenthalt“ eines Ausländers, der eine Straftat begangen hat, kann auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen. (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine generalpräventiv gestützte Ausweisung kann indes nur an ein Ausweisungsinteresse anknüpfen, das noch aktuell, also zum Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung noch vorhanden ist; denn jedes generalpräventive Ausweisungsinteresse verliert mit zunehmendem Zeitabstand an Bedeutung und kann ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr herangezogen werden. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die für die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entwickelten Grundsätze sind insoweit auf die Ausweisung selbst zu übertragen. Für die generalpräventive Ausweisung bildet die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, eine untere Grenze. Die obere Grenze orientiert sich hingegen regelmäßig an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 S. 2 StGB, die grundsätzlich das Doppelte der einfachen Verjährungsfrist beträgt. Innerhalb dieses Zeitrahmens ist der Fortbestand des Ausweisungsinteresses anhand generalpräventiver Erwägungen zu ermitteln. (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
4. Bei abgeurteilten Straftaten bilden die Tilgungsfristen des § 46 BZRG zudem eine absolute Obergrenze, weil nach deren Ablauf die Tat und die Verurteilung dem Betroffenen im Rechtsverkehr nicht mehr vorgehalten werden dürfen (§ 51 BZRG). (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Einstweiliger Rechtsschutz gegen Einreise- und Aufenthaltsverbot im Falle der, Ausweisung, generalpräventives Ausweisungsinteresse, Ablehnung der Verlängerung eines Aufenthaltstitels ohne Fiktionswirkung, aktuelles Ausweisungsinteresse, generalpräventiv, Verjährung, Bundeszentralregister
Fundstelle:
BeckRS 2023, 42215
Tenor
1. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
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Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots, seine Ausweisung, eine Abschiebungsandrohung sowie die Ablehnung der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis.
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Der Antragsteller reiste am 24.12.1996 in das Bundesgebiet ein und stellte am 13.01.1997 einen Asylantrag. Im Rahmen des Asylverfahrens gab er an, dass seine Personalien …, geboren am …, seien und er die bhutanische Staatsangehörigkeit besitze. Mit Bescheid vom 26.09.1997 (Gesch.-Z.: …) lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag vollumfänglich ab. Die gegen den Bescheid erhobene Klage wurde mit Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 26.07.1999 (Az. M 29 K 97.53381) abgewiesen.
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In der Folgezeit wurde der weitere Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet geduldet. Eine Aufenthaltsbeendigung war nicht möglich, da der Antragsteller nach Überzeugung des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge nepalesischer und nicht bhutanischer Staatsangehöriger war, dieser aber weiterhin angab, die bhutanische Staatsangehörigkeit zu besitzen, sodass eine Beteiligung der nepalesischen Behörden zur Klärung der tatsächlichen Staatsangehörigkeit erforderlich wurde. Mit Schreiben vom 16.05.2000 teilte die Regierung von … mit, dass es sich bei dem Antragsteller nach Auffassung der nepalesischen Botschaft um einen nepalesischen Staatsangehörigen handele (Bl. 61 der Behördenakte). Der Antragsteller gab weiter an, bhutanischer Staatsangehöriger zu sein; auch würden ihm die nepalesischen Behörden keine Dokumente ausstellen und den Zugang zur Botschaft verwehren. Die Landeshauptstadt … als damals zuständige Ausländerbehörde veranlasste aufgrund dessen über die deutsche Botschaft N.-D. eine Prüfung, ob dem Antragsteller durch die bhutanischen Behörden ein Passdokument ausgestellt und er als bhutanischer Staatsangehöriger festgestellt werden könne. Am 04.04.2002 teilten die bhutanischen Behörden der deutschen Botschaft in Neu-Delhi mit, dass die seitens des Antragstellers gemachten Angaben nicht ausreichten, um dessen Staatsangehörigkeit zu überprüfen oder ein Passdokument auszustellen (Bl. 99 der Behördenakte).
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Mit Urteil des Amtsgerichts … vom 15.05.2002 (Az. …) wurde der Antragsteller zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, ausgesetzt zur Bewährung, wegen Urkundenfälschung in Tateinheit mit Betrug in fünf Fällen verurteilt (Bl. 106 der Behördenakte).
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Am 25.05.2007 wurde dem Antragsteller durch die Landeshauptstadt … eine bis zum 24.05.2008 befristete Aufenthaltserlaubnis gemäß § 23 Abs. 1 AufenthG als Ausweisersatz erteilt (Bl. 205 der Behördenakte). Grundlage für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis war der Bleiberechtsbeschluss der Innenministerkonferenz vom 17.11.2006. Die Aufenthaltserlaubnis wurde in der Folgezeit verlängert. Am 31.08.2007 wurde dem Antragsteller ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt, damit dieser bei der nepalesischen Botschaft in der Schweiz für die Klärung seiner Staatsangehörigkeit vorsprechen konnte (Bl. 220 der Behördenakte). Am 17.02.2011 legte der Antragsteller einen nepalesischen Reisepass bei der Landeshauptstadt … vor, aus dem sich neben der nepalesischen Staatsangehörigkeit auch die wahren Personalien ergaben (Bl. 344 der Behördenakte). Der Reisepass wurde am 25.03.2010 mit einer Gültigkeit für zehn Jahre ausgestellt (Bl. 343 der Behördenakte). Zuletzt wurde die Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers am 29.05.2018 bis zum 22.02.2020 durch die Stadt … verlängert (Bl. 796ff. der Behördenakte).
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Am 30.08.2018 wurde der Antragsteller aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts … vom 01.08.2018 in Untersuchungshaft genommen (Bl. 807 der Behördenakte). Mit Urteil des Landgerichts … vom 19.12.2019 (Az. …*) wurde der Antragsteller wegen gewerbsmäßigen Einschleusens von Ausländern in fünf Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit gewerbs- und bandenmäßigem Einschleusen von Ausländern, zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 3 Monaten verurteilt (Bl. 545ff. der Behördenakte). Mit Urteil des Landgerichts … vom 17.12.2020 (Az. …*) wurde der Antragsteller wegen gewerbsmäßigen Einschleusens von Ausländern in sieben tateinheitlichen Fällen, davon in einem Fall in zwei tateinheitlichen Fällen und in drei Fällen in Tateinheit mit Beihilfe zu einem Verstoß gegen § 9 Abs. 1 FreizügG/EU, davon in einem Fall in drei tateinheitlichen Fällen und in einem Fall in zwei tateinheitlichen Fällen und in vier Fällen in Tateinheit mit gewerbsmäßigem Verschaffens von falschen aufenthaltsrechtlichen Papieren in Tatmehrheit zu zwei tatmehrheitlichen Fällen des gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern, jeweils in zwei tateinheitlichen Fällen, davon ein Fall in Tateinheit mit Beihilfe zu einem Verstoß gegen § 9 Abs. 1 FreizügG/EU, in Tatmehrheit zu zwei tatmehrheitlichen Fällen der Beihilfe zu einem Verstoß gegen § 9 Abs. 1 FreizügG/EU, davon in einem Fall in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 3 Monaten verurteilt. Mit Gesamtstrafenbeschluss des Landgerichts … vom 03.01.2022 (Az. …) wurden die Verteilungen vom 19.12.2019 und 17.12.2020 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Jahren und 6 Monaten zusammengefasst. Am 08.06.2022 wurde der Antragsteller nach Verbüßung von mehr als 2/3 der vorgenannten Gesamtstrafe auf Bewährung aus der Haft entlassen und nahm seinen Wohnsitz im Stadtgebiet … (vgl. Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts … vom 02.06.2022, Az. …, Bl. 1610 der Behördenakte).
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Mit Antrag vom 27.10.2022, eingegangen bei der Stadt … am 31.10.2022, beantragte der Antragsteller die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sowie die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis (Bl. 1623 der Behördenakte). Als Aufenthaltszweck gab er „selbstständige Erwerbstätigkeit“ an. Antragsbegründende Unterlagen wurden nicht vorgelegt. Mit Schreiben vom 28.10.2022 zeigte sich der vormalige Bevollmächtigte des Antragstellers gegenüber der Antragsgegnerin an (Bl. 1625 der Behördenakte). Mit Schreiben der Antragsgegnerin an den damaligen Antragstellerbevollmächtigten vom 25.11.2022 wurde der Antragsteller zur beabsichtigten Ausweisung sowie der Ablehnung seiner Anträge vom 27.10.2022 auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis und Erteilung einer Niederlassungserlaubnis angehört (Bl. 1637 der Behördenakte). Ihm wurde unter Hinweis auf § 82 AufenthG Gelegenheit zur Äußerung bis zum 23.12.2022 gegeben. Am 24.12.2022 beantragte der Antragsteller mit Schreiben unbekannten Datums eine Verlängerung der Anhörungsfrist um einen Monat, da er sich von einem neuen Rechtsanwalt im Verfahren vertreten habe lassen wollen (Bl. 1640 der Behördenakte). Die beantragte Fristverlängerung wurde mit Schreiben der Stadt … vom 27.12.2022 gewährt, wobei das Schreiben an die Meldeanschrift des Antragstellers nicht zugestellt werden konnte (Bl. 1641f. der Behördenakte).
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Am 26.01.2023 wurde der Antragsteller durch das Einwohner- und Wahlamt der Stadt … von Amts wegen rückwirkend zum 01.10.2022 nach unbekannt abgemeldet (Bl. 1645 der Behördenakte). Am 10.03.2023 meldete sich der Antragsteller rückwirkend zum 01.03.2023 unter seiner derzeitigen Meldeanschrift an (Bl. 1646 der Behördenakte). Mit Schreiben der Stadt … vom 15.03.2023 wurde dem Antragsteller von Amts wegen erneut eine Verlängerung der Frist zur Äußerung bis zum 12.04.2023 gewährt (Bl. 1648 der Behördenakte). Nachdem innerhalb der Frist keine Äußerung des Antragstellers und auch keine Mandatsniederlegung durch den bislang bevollmächtigten Rechtsanwalt erfolgt war sowie sich kein neuer Verfahrensbevollmächtigter angezeigt hatte, wurde der bisherige Verfahrensbevollmächtigte mit Schreiben der Stadt … vom 14.04.2023 um Mitteilung gebeten, ob er den Antragsteller weiterhin vertrete (Bl. 1650 der Behördenakte). Mit Schreiben vom 27.04.2023 teilte der bisherige Verfahrensbevollmächtigte mit, dass das Mandat beendet worden sei (Bl. 1652 der Behördenakte). Aufgrund der Mandatsniederlegung wurde dem Antragsteller mit Schreiben der Stadt … vom 02.05.2023 letztmalig eine Frist bis zum 12.05.2023 zur Abgabe einer Stellungnahme im Rahmen des Anhörungsverfahrens eingeräumt (Bl. 1653 der Behördenakte). Eine Äußerung des Antragstellers erfolgte nicht.
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Mit Bescheid vom 12.06.2023 (Bl. 1654ff. der Behördenakte) wies die Stadt … den Antragsteller aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aus (Nr. 1) und erließ ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gegen den Antragsteller, das auf die Dauer von fünf Jahren befristet wurde; die Frist sollte mit der Ausreise beginnen (Nr. 2). Weiter wurden die Anträge des Antragstellers vom 27.10.2022 auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis (Nr. 3) sowie auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis abgelehnt (Nr. 4). Der Antragsteller wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Zustellung des Bescheids zu verlassen (Nr. 5). Für den Fall, dass der Antragsteller der in Ziffer 5 dieses Bescheids bestimmten Ausreisepflicht nicht fristgerecht nachkommt, wurde ihm die Abschiebung nach Nepal oder in einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet ist, angedroht (Nr. 6).
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass sich der Antragsteller auf keinen besonderen Ausweisungsschutz nach § 53 Abs. 3, Abs. 3a oder Abs. 4 AufenthG berufen könne. Infolge der Verurteilungen durch das Landgericht … erfülle der Antragsteller ein besonders schweres Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG und ein schweres Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG. Der Antragsteller sei zu Einzelstrafen, aber auch einer Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt worden. Zudem handele es sich beim Einschleusen von Ausländern um eine Vorsatztat (§ 96 AufenthG). Bleibeinteressen gemäß § 55 AufenthG seien nach Aktenlage nicht ersichtlich. Der Antragsteller könne sich nicht auf ein besonders schweres Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG berufen, da er mit seiner zwischenzeitlich eingebürgerten Ehefrau nach den Feststellungen des Landgerichts … seit dem Jahr 2007 die eheliche Lebensgemeinschaft nicht mehr führe. Überdies sei nach Aktenlage unklar, ob die Eheschließung überhaupt rechtswirksam zustande gekommen sei. Zudem könne sich der Antragsteller auf kein schweres Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG berufen, da er seit dem 23.02.2020 nicht mehr im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis sei. Die ihm zuletzt erteilte Aufenthaltserlaubnis sei bis zum 22.02.2020 befristet gewesen; eine Verlängerung sei nicht erfolgt. Die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sei erst am 27.10.2022 beantragt worden, so dass auch keine rechtzeitige Antragstellung vorliege und die Fortgeltungsfiktion gemäß § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG nicht eingetreten sei. Der Antragsteller halte sich daher seit dem 23.02.2020 unerlaubt im Bundesgebiet auf. Sonstige mögliche Bleibeinteressen seien seitens des Antragstellers nicht gegenüber der Stadt … geltend gemacht worden, obwohl diesem mehrfach – auch von Amts wegen – die Frist zur Abgabe einer Stellungnahme im Rahmen des Anhörungsverfahrens verlängert und somit ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden sei. Auch knüpften die Ausweisungsinteressen im vorliegenden Fall an die Verurteilungen des Landgerichts … vom 19.12.2019 und 17.12.2020 bzw. den Gesamtstrafenbeschluss vom 03.01.2022 an, welche noch im Bundeszentralregister eingetragen und somit noch verwertbar seien. Zwar könne im Falle des Antragstellers keine Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen erfolgen, da nicht von einer künftigen Wiederholungsgefahr ausgegangen werden könne. Es liege jedoch ein generalpräventives Ausweisungsinteresse vor. Der Antragsteller sei wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern verurteilt worden. Er habe im strafrechtlichen Verfahren vor dem Landgericht … eingeräumt, der organisierten (Schleuser-)
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Kriminalität nachgegangen zu sein. Schleuserkriminalität bedeute die organisierte Ausbeutung von Migranten, wobei das Streben nach Profit über das menschliche Leben gestellt werde. Diese Aktivität schade daher sowohl den humanitären Zielen der EU als auch ihren Zielen im Bereich des Migrationsmanagements. Darüber hinaus zähle die organisierte Kriminalität zu den Straftaten, die in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV als Bereich der besonders schweren Kriminalität benannt würden, sodass von dieser eine Gefahr für die Grundinteressen der Gesellschaft zu erwarten sei. Es bestehe ein besonderes Bedürfnis, durch die Ausweisung andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten, indem diesen signalisiert werde, dass die Gefährdung der Grundinteressen der Gesellschaft – über eine strafrechtliche Verurteilung hinaus – auch aufenthaltsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehe. Seitens des Antragstellers seien im Rahmen des Anhörungsverfahrens keinerlei Bindungen, persönlicher oder wirtschaftlicher Art, im Bundesgebiet geltend gemacht worden. Insbesondere lägen keine Hinweise auf tatsächlich gepflegte Beziehungen zu Verwandten und Freunden im Bundesgebiet vor. Ebenfalls seien nach Aktenlage keine negativen Auswirkungen auf andere Personen ersichtlich, wenn der Antragsteller das Bundesgebiet verlassen müsse. Ferner sollte der Antragsteller über bestehende Verbindungen zu seinem Herkunftsland verfügen und nicht völlig „entwurzelt“ sein. Hierfür spreche, dass er mehr als die ersten 30 Jahre seines Lebens dort verbracht habe und somit Sprache sowie Kultur hinreichend kenne. Zudem lebe einer seiner Söhne nach den Feststellungen des Landgerichts … in N. und betreibe dort ein Hotel, so dass der Antragsteller im Bedarfsfall auch auf Unterstützung aus dem Familienverband zurückgreifen könnte. Weiter spreche für eine bestehende Verbindung zum Herkunftsland, dass der Antragsteller im Rahmen seiner Schleusertätigkeit mit nepalesischen Staatsangehörigen zusammengearbeitet und diese nach Deutschland eingeschleust habe. Mithin würden die Ausweisungsinteressen und das öffentliche Interesse an einer Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers die Bleibeinteressen und privaten Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet überwiegen.
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Das gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG anzuordnende Einreise- und Aufenthaltsverbot werde nach § 11 Abs. 2 AufenthG auf fünf Jahre befristet. Die Ausweisung des Antragstellers sei aus generalpräventiven Gründen erfolgt und solle andere Ausländer abhalten, Straftaten in Bezug auf die organisierte (Schleuser-)Kriminalität zu begehen. Es sei daher erforderlich, dass die Folgen der Ausweisung auch geeignet seien, andere Ausländer von der Begehung gleichartiger Straftaten abzuschrecken, was durch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf fünf Jahre erreicht werde.
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Die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sei abzulehnen gewesen, da bereits die Titelerteilungssperre gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG greife. Zudem bestünden gegen den Antragsteller Ausweisungsinteressen, die die Grundinteressen der EU und der Bundesrepublik Deutschland berührten, so dass er auch die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 AufenthG nicht erfülle. Die Erteilung der Niederlassungserlaubnis sei gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ebenfalls ausgeschlossen.
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Die Ausreisefrist sei gemäß § 59 Abs. 1 Satz 2 AufenthG festgesetzt worden, wobei die gesetzlich höchstmögliche Frist festgesetzt worden sei. Der Antragsteller sei seit dem 23.02.2020 nicht mehr im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, sodass er seit diesem Tag zur Ausreise aus dem Bundesgebiet verpflichtet sei (§ 50 Abs. 1 AufenthG). Die Ausreisepflicht sei auch vollziehbar, da er die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis verspätet beantragt habe und somit der bisherige Aufenthalt nicht nach § 81 Abs. 4 AufenthG als fortbestehend gelte (§ 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG).
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Die Abschiebung sei anzudrohen gewesen (§ 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Sachverhalte, die ein gesetzliches Verbot der Abschiebung zur Folge hätten oder die Abschiebung hinderten (§ 60 AufenthG) sowie Duldungsgründe (§ 60a AufenthG) seien nicht ersichtlich.
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Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 04.07.2023, beim Bayerischen Verwaltungsgericht am selben Tag eingegangen, hat der Antragsteller Klage gegen den Bescheid vom 12.06.2023 erhoben und beantragt die Antragsgegnerin zu verpflichten, dem Antragsteller die Aufenthaltserlaubnis zu verlängern (Az. B 6 K 23.531). Gleichzeitig ließ der Antragsteller im Wege des Eilrechtsschutzes beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 12.06.2023, Az. …, anzuordnen.
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Zur Begründung wird ausgeführt, dass sich der Erlass und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 AufenthG voraussichtlich als rechtswidrig und rechtsverletzend erweisen werde. Die inzident zu überprüfende Ausweisungsentscheidung sei rechtswidrig. Im Falle des Antragstellers gehe auch die Antragsgegnerin davon aus, dass keine Wiederholungsgefahr bestehe und eine Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen nicht erfolgen könne. Die Antragsgegnerin stütze die Ausweisungsentscheidung ausschließlich auf generalpräventive Gründe, ohne sich jedoch mit den konkreten Tatumständen auseinanderzusetzen. Bereits das Landgericht … habe in den schriftlichen Urteilsgründen festgehalten, dass strafmildernd zu berücksichtigen sei, dass die Taten zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung zwischen 5 Jahre und 6 Monate und 3 Jahre und 3 Monate zurückgelegen hätten. Die maßgebliche Hauptverhandlung habe am 17.12.2020 stattgefunden. Inzwischen lägen die Taten zum Teil knapp 8 Jahre zurück. Ferner sei weiter zu berücksichtigen, dass der Antragsteller bereits im Jahr 1996 in das Bundesgebiet eingereist und zum Zeitpunkt der Verurteilung in Deutschland als nicht vorbestraft gegolten habe. Aus den schriftlichen Urteilsgründen gehe hervor, dass er die Taten umfassend gestanden habe, sich für sein Verhalten entschuldigt, dieses nicht beschönigt und die Geschleusten stets gut behandelt habe. Unter diesen besonderen Umständen gehe von dem Unterlassen einer Ausweisung des Antragstellers nur eine begrenzte negative Signalwirkung für andere Ausländer hinsichtlich der aufenthaltsrechtlichen Folgen einer Beteiligung an Schleuserkriminalität aus. Es erscheine nicht plausibel, dass die Ausweisungsentscheidung in Anknüpfung an Taten, die inzwischen zum Teil 8 Jahre zurücklägen, gegenwärtig dazu geeignet sei, andere Ausländer von einem Fehlverhalten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten.
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Das damals zuständige Landratsamt … habe über den am 04.04.2017 gestellten Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zunächst aufgrund eines laufenden Ermittlungsverfahrens nicht entschieden (§ 79 Abs. 2 AufenthG). Mit Schreiben vom 10.04.2018 (Bl. 750/1673 der Behördenakte) sei dem Ausländeramt mitgeteilt worden, dass die Bundespolizeiinspektion Kriminalitätsbekämpfung … ein (weiteres) verdecktes Ermittlungsverfahren gegen den Antragsteller führe. Gleichwohl sei in der Folge der Aufenthaltstitel erteilt worden, obgleich die Erteilung/Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis bis zum Abschluss des Ermittlungsverfahrens gemäß § 79 Abs. 2 AufenthG auszusetzen gewesen wäre. Eine Ausnahme bestehe nur, wenn über den Aufenthaltstitel ohne Rücksicht auf den Ausgang des Verfahrens entschieden werden könne, was vorliegend offensichtlich angenommen worden sei. Ferner sei zu berücksichtigen, dass der Antragsteller bereits am 19.12.2019 und sodann am 17.12.2020 verurteilt worden sei. Die Ausweisungsverfügung hätte bereits zur Halbstrafe unter Berücksichtigung des § 456a StPO erlassen werden können. Nachdem der Antragsteller inzwischen aus der Haft entlassen worden sei und sich bereits mehr als ein Jahr lang bewiesen habe, erscheine fraglich, inwieweit noch ein aktuelles und nicht verbrauchtes generalpräventives Ausweisungsinteresse bestehe, das geeignet sei, eine verhaltenssteuerende Wirkung auf andere Ausländer zu entfalten. Selbst für den Fall, dass grundsätzlich ein generalpräventives Ausweisungsinteresse bestehen sollte, müsste das rein generalpräventive Ausweisungsinteresse das Interesse des Antragstellers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegen. Dies sei vorliegend nicht anzunehmen. Die Gefahr, dass der Aufenthalt des Antragstellers in Deutschland unter generalpräventiven Gesichtspunkten die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährde, sei so gering, dass das aus ihr resultierende Ausweisungsinteresse die Bleibeinteressen des Antragstellers nicht überwiege. Demzufolge sei auch der Erlass des Einreise- und Aufenthaltsverbots rechtswidrig. Gleiches gelte für die Befristung und die Abschiebungsandrohung. Der Antragsteller lebe seit ca. 26 Jahren und 6 Monaten im Bundesgebiet. Er sei seit dem Jahr 2009 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gewesen. Der Antragsteller habe zusammen mit seiner Ehefrau insgesamt drei Kinder. Die Ehefrau sei inzwischen eingebürgert und deutsche Staatsangehörige. Eine Tochter sowie ein Sohn des Antragstellers lebten im Bundesgebiet und seien ebenfalls deutsche Staatsangehörige. Es gebe zudem bereits zwei Enkelkinder. Die Kernfamilie und weitere Verwandte lebten im Bundesgebiet. Die Bundesrepublik Deutschland sei zur Heimat des Antragstellers geworden. In wenigen Wochen werde er bereits das Rentenalter erreicht haben. Eine Trennung von seiner Familie und ein Neustart nach fast 30 Jahren im Heimatland würde ihn außerordentlich hart treffen. Auch die Ablehnung der Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis erweise sich als rechtswidrig. Der Antragsteller habe einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels. Aufgrund der rechtswidrigen Ausweisungsentscheidung bestehe keine Titelerteilungssperre. Dem Antragsteller sei erstmals am 25.05.2009 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG für zwei Jahre erteilt worden. Infolge seines Verlängerungsantrags vom 13.05.2009 sei ihm sodann am 26.11.2009 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG (i.V.m. § 104a Abs. 5 Satz 2 AufenthG) erteilt worden, da er den Lebensunterhalt überwiegend selbst gesichert habe. Die Aufenthaltserlaubnis sei regelmäßig verlängert worden. Zuletzt sei die Aufenthaltserlaubnis durch die Ausländerbehörde … bis zum 22.02.2020 verlängert worden. Am 30.08.2018 sei der Antragsteller inhaftiert worden. Am 08.06.2022 sei er auf Bewährung aus der Haft entlassen worden und habe seinen Wohnsitz im Stadtgebiet … aufgenommen. Der Antrag auf Verlängerung des Aufenthaltstitels sei nach dem Gesetz nicht an eine besondere Form gebunden. Mit Schreiben vom 04.04.2017 habe der vormalige Bevollmächtigte des Antragstellers die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis beantragt. Mit Schreiben vom 12.03.2019 habe er mit der damals zuständigen Ausländerbehörde … sowie dem Landratsamt … zum Zwecke der Klärung der aufenthaltsrechtlichen Situation Kontakt aufgenommen. Auch wenn eine Verlängerung nicht wörtlich beantragt worden sei, könne aus der Kontaktaufnahme geschlossen werden, dass eine solche begehrt worden sei. Der beigefügten Vollmacht sei zudem das Wort „Verlängerung“ zu entnehmen gewesen. Der Antragsteller sei auch nach der Haftentlassung davon ausgegangen, dass sein Aufenthalt – wie die letzten Jahre zuvor – weiterhin rechtmäßig sei. Er sei der deutschen Sprache zwar mächtig, jedoch mit der behördlichen Kommunikation zum Teil überfordert. Die Antragsgegnerin verkenne die Härtefallregelung des § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG. Der Antrag auf Verlängerung sei vom Antragsteller selbst am 28.10.2022 nochmals gestellt worden. Erst zum 08.06.2022 sei er aus der Haft entlassen worden. Unter Berücksichtigung der erheblichen Aufenthaltszeit und der besonderen Situation einer erstmaligen Inhaftierung liege eine unbillige Härte vor.
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Die Antragsgegnerin beantragt mit Schriftsatz vom 11.08.2023, den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung wird ausgeführt, soweit der Antragsteller darlege, dass eine Ausweisung aufgrund der strafrechtlichen Verurteilungen durch das Landgericht … vom 19.12.2019 und vom 17.12.2020 nicht mehr erfolgen könne, da das Ausweisungsinteresse bereits „verbraucht“ sei, da die letzte Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis am 29.05.2018 nach Einleitung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens erfolgt sei, sei darauf hinzuweisen, dass das Ausweisungsinteresse, auf deren Grundlage die Ausweisung erfolgt sei, erst mit den Verurteilungen durch das Landgericht … eingetreten sei und der Antragsteller daher nicht darauf habe vertrauen können, dass seine erheblichen strafrechtlichen Verfehlungen ohne weitere ausländerrechtliche Konsequenz bleiben würden. Die Nichteinhaltung des § 79 Abs. 2 AufenthG führe lediglich dazu, dass das laufende Ermittlungsverfahren für die Verlängerungsentscheidung weder positiv noch negativ herangezogen werden dürfe. Soweit der Antragsteller vortrage, dass er sich rechtzeitig um die Verlängerung seiner bis zum 22.02.2020 gültigen Aufenthaltserlaubnis bemüht habe, sei festzustellen, dass eine rechtzeitige Antragstellung nicht erfolgt sei. Das Schreiben des damals bevollmächtigten Rechtsanwalts vom 04.04.2017 könne nicht als entsprechender Antrag gewertet werden, da die Aufenthaltserlaubnis erst am 29.05.2018 verlängert worden sei, sodass über diesen Antrag bereits entschieden worden sei. In den Schreiben vom 12.03.2019 habe sich der damals bevollmächtigte Rechtsanwalt bei den Ausländerbehörden der Stadt … und des Landratsamts … nach dem Verbleib seines Mandanten erkundigt, da er von diesem seit einer Auslandsreise nichts mehr gehört gehabt habe. Im Schreiben an das Landratsamt … habe er zudem angegeben, dass er den Antragsteller im Rahmen des Verlängerungsverfahrens vertreten habe und er auch die Mitteilung erhalten habe, dass der verlängerte Aufenthaltstitel seines Mandanten zur Abholung bereitliege. Selbst bei großzügiger Auslegung könne dem Schreiben vom 12.03.2019 kein Antrag auf Verlängerung der vom 28.05.2018 bis 22.02.2020 gültigen Aufenthaltserlaubnis entnommen werden, zumal einem rechtskundigen Bevollmächtigten zuzutrauen sei, dass er – wenn dies beabsichtigt sei – explizit die Verlängerung des Aufenthaltstitels beantrage und sich nicht lediglich nach dem Aufenthaltsort seines Mandanten erkundige. Soweit sich der Antragsteller darauf berufe, davon ausgegangen zu sein, sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufzuhalten und mit der Kommunikation mit den Behörden überfordert gewesen zu sein, sei darauf hinzuweisen, dass es seiner eigenen Verantwortung obliege, sich rechtzeitig um die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis zu bemühen. Es könne auch keine besondere Härte in der Inhaftierung des Antragstellers gesehen werden, da eine schriftliche Kommunikation mit den Behörden aus der Haft heraus möglich sei. Nach hiesiger Erfahrung seien auch die Sozialdienste der Justizvollzugsanstalten hierbei behilflich, insbesondere wenn die inhaftierten ausländischen Staatsangehörigen der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig seien. Zudem habe sich der Antragsteller in der Vergangenheit nicht aufgrund seiner Sprachkenntnisse in der behördlichen Kommunikation als überfordert gezeigt, sodass der Vortrag als reine Schutzbehauptung zu werten sei.
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Mit Schriftsatz vom 23.08.2023 weist die Antragsgegnerin darauf hin, dass die Stadt … seit dem 01.08.2023 nicht mehr die örtlich zuständige Ausländerbehörde sei, da der Antragsteller seinen Wohnsitz nach … verlegt habe und nunmehr das Landratsamt … die örtliche zuständige Ausländerbehörde sei.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
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Der Antrag hat in der Sache keinen Erfolg.
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1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO erweist sich jedenfalls teilweise als statthaft.
25
Die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (Ziffer 2 des Bescheides vom 12.06.2023) ist gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG kraft Gesetzes sofort vollziehbar, so dass die dagegen erhobene Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung hat (vgl. VGH BW, B.v. 13.11.2019 – 11 S 2996.19 – InfAuslR 2020, 106/111f.). Trotz des missverständlichen Gesetzeswortlauts („Befristung“) entfällt aufgrund von § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG die aufschiebende Wirkung der Klage sowohl hinsichtlich der Anordnung als auch hinsichtlich der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, weil es sich insoweit um einen einheitlichen, nicht teilbaren Verwaltungsakt handelt (VGH BW, B.v. 13.11.2019 – 11 S 2996/19 – BeckRS 2019, 29732; vgl. auch BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 47/20 – NVwZ 2021, 1842 Rn. 10).
26
Auch der gegen Ziffer 6 (Abschiebungsandrohung) des angefochtenen Bescheides erhobenen Anfechtungsklage kommt gemäß § 80 Abs. 1 Satz 2 VwGO, Art. 21a Satz 1, Art. 29 Abs. 1, Art. 29 Abs. 2 Nr. 4, Art. 24 Satz 1, Art. 36 Abs. 1 Satz 1 VwZVG keine aufschiebende Wirkung zu. Die im Bescheid (Ziffer 5) festgelegte Ausreisefrist von 30 Tagen ab Bescheidszustellung ist im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zwar bereits abgelaufen; eine Erledigung nach Art. 43 Abs. 2 BayVwVfG tritt hierdurch aber nicht ein, weil der Ablauf der Frist noch Rechtsfolgen – als Voraussetzung für eine Abschiebung – zeitigt.
27
Soweit sich der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gegen die Ausweisung in Ziffer 1 des Bescheides vom 12.06.2023 richtet, erweist er sich als nicht statthaft. Mangels Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit hat die Anfechtungsklage insoweit aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
28
Auch soweit der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gegen die in Ziffer 3 des Bescheides verfügte Ablehnung des Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gerichtet ist, erweist er sich als unstatthaft. Der Verlängerungsantrag des Antragstellers wurde nicht i.S.v. § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG vor Ablauf seines Aufenthaltstitels gestellt und löst damit insbesondere keine Fiktionswirkung nach § 81 AufenthG und folglich kein vorläufiges Bleiberecht aus (vgl. BayVGH, B.v. 18.3.2021 – 19 CE 21.363 – juris Rn. 7). Dies hat zur Folge, dass der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage die Rechtsstellung des Antragstellers insoweit nicht verbessern kann. In Fällen, in denen die Voraussetzungen des § 81 Abs. 4 AufenthG nicht vorliegen und keine Fiktionswirkung eintritt, kommt einstweiliger Rechtsschutz allenfalls im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO in Betracht (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 25.11.2014 – 7 S 54/14 – BeckRS 2014, 59175V; VGH BW, B.v. 21.2.2020 – 11 S 2/20 – BeckRS 2020, 3047).
29
Vorliegend hat der Antragsteller mit Antrag vom 27.10.2022, eingegangen bei der Antragsgegnerin am 31.10.2022, die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sowie die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis beantragt. Zuletzt wurde die Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers am 29.05.2018 bis zum 22.02.2020 durch die Stadt … verlängert. Damit wurde der Verlängerungsantrag mehrere Monate nach Ablauf der Verlängerungsdauer der Aufenthaltserlaubnis gestellt. Zwar ist der Antragstellerseite zuzugeben, dass eine wirksame Antragstellung i.S.v. § 81 Abs. 1 AufenthG nicht die Verwendung amtlicher Antragsformulare voraussetzt, ein wirksamer Antrag mithin auch formlos (fristwahrend) gestellt werden kann. Das Begehren des Antragstellers muss jedoch sinngemäß auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einem bestimmten Aufenthaltszweck im Bundesgebiet gerichtet sein (vgl. Kluth in: BeckOK Ausländerrecht Kluth/Heusch, 38. Edition, Stand: 01.01.2023, § 81, Rn. 6). Angesichts dessen kann im Schriftsatz des vormaligen Bevollmächtigten des Antragstellers vom 12.03.2019 (Bl. 840 der Behördenakte) an das Landratsamt …, in welchem sich dieser lediglich nach dem Verbleib seines Mandanten erkundigte sowie um Akteneinsicht bat, kein Verlängerungsantrag gesehen werden. Daran ändert auch die Vorlage einer Vollmacht vom 03.04.2017 mit dem Betreff „Verlängerung der am 7.5.17 abgelaufenen AE“ (Bl. 843 der Behördenakte) nichts, zumal diese Verlängerung zum Zeitpunkt des Anwaltsschreibens vom 12.03.2019 bereits erteilt worden ist. Eine verspätete Antragstellung kann selbst dann keine Fiktionswirkung auslösen, wenn die Antragstellung noch einen unmittelbaren Bezug zum abgelaufenen Aufenthaltstitel aufweist (vgl. BVerwG, U.v. 22.06.2011 – 1 C 5.10 – juris Rn. 14). Nach den Ausführungen der Gesetzesbegründung ist eine Verlängerung des Aufenthaltstitels nach Ablauf der Geltungsdauer nicht möglich (BT-Drs. 16/5065). Soweit nach § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG bei einem verspätet gestellten Antrag die Ausländerbehörde zur Vermeidung einer unbilligen Härte die Fortgeltungswirkung anordnen kann, ist solches hier nicht gegeben. Die Anordnung der Fortgeltungswirkung gemäß § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG erfolgt durch einen Verwaltungsakt (vgl. NdsOVG, B.v. 20.11.2020 – 8 ME 109/20 – juris Rn. 11; VGH BW, B.v. 16.2.2021 – 12 S 385/20 – juris Rn. 11), den die Antragsgegnerin im vorliegenden Fall nicht erlassen hat.
30
2. Der Antrag erweist sich insgesamt als unbegründet.
31
Die Abwägung von Vollzugs- und Suspensivinteresse, bei der die Erfolgsaussichten der Hauptsacheklage maßgeblich zu berücksichtigen sind, fällt zulasten des Antragstellers aus.
32
a) Ziffer 2 des Bescheides vom 12.06.2023 begegnet nach summarischer Prüfung keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
33
Das gemäß § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung erlassene, auf fünf Jahre befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot wird sich nach derzeitigem Sachstand im Hauptsacheverfahren voraussichtlich als rechtmäßig erweisen. Im Rahmen eines gegen ein mit einer Ausweisung einhergehendes Einreise- und Aufenthaltsverbot gerichteten Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO ist die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung inzident zu prüfen (vgl. VGH BW, B.v. 21.1.2020 – 11 S 3477/19 – NVwZ-RR 2020, 556/563 Rn. 76; NdsOVG, B.v. 23.2.2021 – 8 ME 126/20 – BeckRS 2021, 3434 Rn. 8; Katzer in BeckOK MigR, Stand 15.4.2023, § 11 AufenthG, Rn. 5).
34
Die Ausweisungsverfügung in Ziffer 1 des Bescheides vom 12.06.2023 stellt sich nach summarischer (Inzident-)Prüfung als rechtmäßig dar.
35
Die Ausweisung des Antragstellers findet ihre Rechtsgrundlage in § 53 Abs. 1 AufenthG. Demnach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitlich demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
36
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisungsentscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (stRspr, vgl. etwa BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 11 m.w.N.; BayVGH, B.v. 18.10.2022 – 19 ZB 22.1499 – juris Rn. 19).
37
An der formellen Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung bestehen keine Zweifel. Die Zuständigkeit der Antragsgegnerin beurteilt sich – abweichend vom insoweit maßgeblichen Zeitpunkt für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung – nach den Verhältnissen im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Ausweisungsverfügung (BVerwG, B.v. 19.7.1985 – 1 B 68/85 – juris Rn. 8; BayVGH B.v. 18.10.2022 – 19 ZB 22.1499 – juris Rn. 9; B.v. 5.9.2002 – 10 ZB 02.1830 – juris Rn. 2; NdsOVG, U.v. 24.8.1995 – 11 L 1047/95 – juris Rn. 25), zu welchem der Antragsteller im Stadtgebiet … wohnhaft war.
38
Der Antragsteller erfüllt ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse (dazu unter aa)) und gefährdet dadurch hier die öffentliche Sicherheit und Ordnung (dazu unter bb)).
39
aa) Bei dem Antragsteller liegt ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 und § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor, da er wegen mehrerer vorsätzlicher Straftaten zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist. So wurde der Antragsteller zunächst mit in Rechtskraft erwachsenem Urteil des Landgerichts … vom 19.12.2019, Az. … zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 3 Monaten verurteilt. Darüber hinaus liegt ein rechtskräftiges Urteil des Landgerichts … vom 17.12.2020, Az. … vor, welches den Antragsteller zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 3 Monaten verurteilt. Ausweislich des Gesamtstrafenbeschlusses des Landgerichts … vom 03.01.2022, Az. … wurden die vorgenannten Verurteilungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Jahren und 6 Monaten zusammengefasst.
40
Eine Ausweisung nach § 53 Abs. 1 AufenthG kann alleine auf generalpräventive Gründe gestützt werden. Vom maßgeblichen weiteren „Aufenthalt“ eines Ausländers, der eine Straftat begangen hat, kann auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen (vgl. BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 17; vgl. zum früheren Ausweisungsrecht: U.v. 14.2.2012 – 1 C 7.11 – BVerwGE 142, 29 Rn. 17ff.). Diese Auslegung des Wortlauts wird binnensystematisch durch § 53 Abs. 3 AufenthG, der ausdrücklich für bestimmte ausländerrechtlich privilegierte Personengruppen verlangt, dass das „persönliche Verhalten des Betroffenen“ eine schwerwiegende Gefahr darstellt, sowie die Gesetzgebungsgeschichte (BT-Drs. 18/4097 S. 49) bestätigt. Auch aus weiteren Regelungen des Aufenthaltsgesetzes, z. B. § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG, ergibt sich, dass es generalpräventive Ausweisungsinteressen berücksichtigt sehen will (vgl. BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 17).
41
Eine generalpräventiv gestützte Ausweisung kann indes nur an ein Ausweisungsinteresse anknüpfen, das noch aktuell, also zum Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung noch vorhanden ist; denn jedes generalpräventive Ausweisungsinteresse verliert mit zunehmendem Zeitabstand an Bedeutung und kann ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr herangezogen werden (vgl. BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 18; U.v. 22.1.2002 – 1 C 6.01 – BVerwG 115, 352/360).
42
Die für die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entwickelten Grundsätze (BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – NVwZ 2019, 486 Rn. 22ff.) sind insoweit auf die Ausweisung selbst zu übertragen. Für die generalpräventive Ausweisung bildet die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, eine untere Grenze. Die obere Grenze orientiert sich hingegen regelmäßig an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB, die grundsätzlich das Doppelte der einfachen Verjährungsfrist beträgt. Innerhalb dieses Zeitrahmens ist der Fortbestand des Ausweisungsinteresses anhand generalpräventiver Erwägungen zu ermitteln. Bei abgeurteilten Straftaten bilden die Tilgungsfristen des § 46 BZRG zudem eine absolute Obergrenze, weil nach deren Ablauf die Tat und die Verurteilung dem Betroffenen im Rechtsverkehr nicht mehr vorgehalten werden dürfen (§ 51 BZRG) (vgl. BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 19).
43
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe war das an die vom Antragsteller begangenen Straftaten anknüpfende generalpräventive Ausweisungsinteresse noch aktuell. Der Straftatbestand des gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern (§ 96 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 und 2 AufenthG) unterliegt gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 StGB einer einfachen Verjährungsfrist von zehn Jahren. Bereits dieser Zeitraum war hinsichtlich sämtlicher in den Jahren 2015 bis 2018 begangenen Taten im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht verstrichen, geschweige denn lag ein Verwertungsverbot nach § 51 Abs. 1 i.V.m. § 46 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. Abs. 3 i.V.m. § 47 Abs. 1 i.V.m. § 35 Abs. 1, § 36 Abs. 2 Nr. 1 BZRG vor.
44
Soweit der Bevollmächtigte des Antragstellers geltend gemacht, dass die einschlägigen Ausweisungsgründe verbraucht gewesen seien, weil die Ausländerbehörde auf ihre Geltendmachung jedenfalls konkludent verzichtet habe (vgl. dazu BVerwG, B.v. 21.7.2021 – 1 B 29/21 – juris Rn. 4; U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – BVerwGE 157, 325 Rn. 39), kann er damit ebenfalls nicht durchdringen. Der Antragstellerbevollmächtigte ist der Auffassung, dass dem Antragsteller infolge der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Jahr 2018 trotz eines laufenden (verdeckten) Ermittlungsverfahrens Vertrauensschutz zukomme. Aus diesem Umstand gehe hervor, dass die Ausländerbehörde davon ausgegangen sei, dass über den Aufenthaltstitel gemäß § 79 Abs. 2 AufenthG a.E. ohne Rücksicht auf den Ausgang des Verfahrens habe entschieden werden können. Allerdings ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in Rechnung zu stellen, dass der dem Ausländer durch Verbrauch bzw. Verzicht vermittelte Vertrauensschutz ohnehin unter dem Vorbehalt steht, dass sich die für die behördliche Entscheidung maßgeblichen Umstände nicht ändern (BVerwG, B.v. 21.7.2021 – 1 B 29/21 – juris Rn. 4; U.v. 2.8.2004 – 1 C 30.02 – BVerwGE 131, 297/313f.). Eine solche Änderung ist jedenfalls mit den strafrechtlichen Verurteilungen des Antragstellers vom 19.12.2019 sowie vom 17.12.2020 eingetreten, in deren Folge ihm eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gerade nicht mehr erteilt worden ist.
45
Ebenso führt der Umstand, dass von der Regelung des § 456a StPO kein Gebrauch gemacht wurde, nicht zum Verbrauch des Ausweisungsinteresses. Die Entscheidung nach § 456a Abs. 1 StPO steht im Ermessen der Vollstreckungsbehörde und setzt das Vorliegen einer bestandskräftigen Ausweisungs- oder Auslieferungsentscheidung bzw. die Abschiebung, Zurückschiebung oder Zurückweisung voraus. Auch dient die Regelung nicht – wie die Ausweisungsentscheidung selbst – der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, sondern einerseits der Entlastung des Strafvollzugs sowie daneben dem Schutz der persönlichen Interessen des ausländischen Verurteilten, der durch die Entfremdung von der Heimat, Sprachschwierigkeiten und mangelnde persönliche Kontakte, insbesondere den Besuch von Freunden und Angehörigen, gewöhnlich besondere Nachteile im Vollzug erleidet (vgl. Biereder-Groschup in: BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 16. Edition, Stand: 15.07.2023, § 456a StPO, Rn. 1ff.).
46
bb) Darüber hinaus besteht ein hohes öffentliches Interesse an der Verhinderung von vergleichbaren Straftaten, dem durch wirksame verfahrenslenkende Maßnahmen Rechnung zu tragen ist. Ausweislich des Erwägungsgrundes 1 der RL 2002/90/EG des Rates vom 28.11.2002 zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt stelle der schrittweise Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts eines der Ziele der Europäischen Union dar; dies bedeute unter anderem, dass die illegale Einwanderung bekämpft werden müsse. Nach Art. 3 RL 2002/90/EG trifft jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen um sicherzustellen, dass Handlungen im Zusammenhang mit Schleuserkriminalität Gegenstand wirksamer, angemessener und abschreckender Sanktionen sind. Ebenso wie § 95 AufenthG dient auch § 96 AufenthG der Kontrolle unerlaubter Zuwanderung, und zwar durch „Bekämpfung des Schleuserunwesens“. Daneben sollen auch Individualrechtsgüter des Geschleusten geschützt werden. In der amtlichen Begründung zu § 47a AuslG a.F. hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass diese Strafvorschrift der Bekämpfung des Schlepperunwesens dient, da Ausländer meist nicht aus eigenem Antrieb illegal einreisen, sondern von Schleppern dazu veranlasst werden, die die Unwissenheit und wirtschaftliche Notsituation der illegal einreisenden Ausländer aus Gewinnstreben ausnützen, die so leicht zu Opfern des Schleppers werden. Dies erfordere einen eigenen Straftatbestand, der dem Unrechtsgehalt des Schlepperunwesens gerecht werde (BT-Drs. 9/847, S. 12). In der Begründung zum Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28.10.1994 wird weiter ausgeführt, dass die Tätigkeit der Schlepper in hohem Maße verwerflich und sozialschädlich sei, ausgenutzt werde die Unerfahrenheit der Ausreisewilligen, denen häufig ihr gesamtes Vermögen abgenommen werde (BT-Drs. 12/5683, S. 7). Daraus wird die Tendenz des Gesetzgebers ersichtlich, das Schlepperunwesen möglichst weitgehend zu erfassen und auch die geschleusten Ausländer zu schützen (vgl. BGH, U.v. 26.5.1999 – 3 StR 578/98 – NJW 1999, 2827/2828).
47
Vorliegend kommt dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG auch bei der gebotenen individuellen Würdigung der Tat unter Einbeziehung des generalpräventiven Anlasses (vgl. dazu BVerwG, U.v. 14.2.2012 – 1 C 7.11 – BVerwGE 142, 29 Rn. 17) ganz erhebliches Gewicht zu; es ist am oberen Bereich des Möglichen anzusiedeln.
48
Ausweislich der Feststellungen des Landgerichts … vom 19.12.2019, die u.a. auf einem weitgehenden Geständnis des Antragstellers beruhten, war dieser jedenfalls seit 2015 geschäftsmäßig mit der Organisation von Scheinehen zwischen Drittstaatsangehörigen und EU-Bürgern befasst. Sein Geschäftsmodell war darauf ausgerichtet, asiatische, vornehmlich nepalesische Staatsbürger, die in Deutschland kein Aufenthaltsrecht besitzen, bei der Erlangung eines Aufenthaltstitels bzw. einer Aufenthaltskarte nach dem Freizügigkeitsgesetz aufgrund der angeblichen ehelichen Gemeinschaft mit einem EU-Bürger zu unterstützen. Kunden gewann er über Kontaktpersonen im Ausland oder durch Weiterempfehlungen. Bei Bedarf war er seiner Kundschaft auch bei der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland behilflich, und zwar auch dann, wenn sie – wie er entweder wusste oder jedenfalls billigend in Kauf nahm – über kein gültiges Visum (mehr) verfügte, welches zur Einreise oder zum Aufenthalt in Deutschland berechtigte. Im Zeitraum von Oktober 2017 bis Juli 2018 erstreckte sich die Tätigkeit des Antragstellers schwerpunktmäßig auf Nepalesen, die mit polnischen Arbeitsvisa nach Polen eingereist waren, sowie auf Nepalesen, die sich auf Zypern aufhielten. Je nach Umfang seiner Tätigkeit verlangte der Antragsteller von seinen Kunden zwischen 9.000,00 und 12.000,00 Euro. Hierfür organisierte er – falls gewünscht – die Einreise nach Deutschland, verschaffte der Person eine Unterkunft, unterstütze sie bei der Wohnsitzanmeldung, ließ sich für die Person einen heiratswilligen EU-Bürger vermitteln, arrangierte unter Einschaltung einer in Hamburg ansässigen Hochzeitsagentur die Eheschließung in Dänemark, veranlasste ggf. die Beschaffung bzw. Herstellung erforderlicher Dokumente, kümmerte sich um den Transport der Scheinehepaare nach Dänemark und zurück, half bei der Beschaffung von Miet- und Lohnbescheinigungen und begleitete die Person oder Paare zum Ausländeramt. Hierfür hatte er Kontakte zu Agenten, Vermittlern, Fahrern, Personen für den Geldtransfer und sonstigen Gehilfen aufgebaut. Von dem Entgelt bestritt der Antragsteller die Kosten für Fahrten, Unterkunft, Verpflegung und Hochzeitsgebühren sowie die Entlohnung der involvierten Personen. Sein Gewinn belief sich bei erfolgreicher Abwicklung pro Geschäft auf einen Betrag im unteren vierstelligen Bereich. Durch die wiederholte Tatbegehung wollte er sich eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle von einigem Umfang und gewisser Dauer verschaffen (vgl. Ausführungen zum Geschäftsmodell des Antragstellers im Urteil des Landgerichts … vom 19.12.2019 – …, Bl. 1403f. der Behördenakte). Im Rahmen der Strafzumessung hat das Landgericht … im Verfahren … zwar zugunsten des Antragstellers gewertet, dass er auf das Wohl der Geschleusten geachtet, bereits im Ermittlungsverfahren umfangreiche Angaben zu den verfahrensgegenständlichen Taten gemacht und in der Hauptverhandlung ein weitgehendes Geständnis abgelegt hatte und dass er in Deutschland nicht vorbestraft war. Zum Nachteil wertete die Strafkammer allerdings, dass er sich von einzelnen Geschleusten einen erheblichen finanziellen Vorteil gewähren ließ sowie seine kriminelle Energie, die in der hohen deliktischen Frequenz und darin zum Ausdruck kam, dass er länderübergreifend Kontakte zu Personen aufgebaut hatte, mit denen er von Fall zu Fall bei seiner Schleusertätigkeit zusammenarbeitete. Nach Abwägung dieser Umstände kam das Landgericht … zu dem Ergebnis, dass sich die Tat von den erfahrungsgemäß vorkommenden Fällen des gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern nicht so deutlich positiv abhebe, dass deshalb die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens des § 97 Abs. 3 AufenthG angezeigt gewesen wäre (vgl. Ausführungen zu Strafrahmen, Strafzumessung im Urteil des Landgerichts … vom 19.12.2019 – …, Bl. 1520f. der Behördenakte).
49
Nach der Sachverhaltsdarstellung im Urteil des Landgerichts … vom 17.12.2020 schloss sich der Antragsteller spätestens im März 2016 mit drei weiteren Personen zusammen, um gemeinschaftlich und arbeitsteilig nepalesische und indische Drittstaatangehörige, welche über keinen nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erforderlichen oder nur über einen erschlichenen Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet verfügten, nach Deutschland zu schleusen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Antragsteller zusammen mit drei weiteren Angeklagten zum Zweck der Eingehung einer Zweckehe zwischen der (Mit-)Angeklagten und Lebensgefährtin des Antragstellers R.S.G. und einem rumänischen Staatsangehörigen am 04.03.2016 in Dänemark. Ab diesem Zeitpunkt wussten der Antragsteller sowie die drei weiteren Personen von der Existenz der jeweils anderen und deren Tätigkeiten im Rahmen der Schleusungen. Sie verabredeten – zumindest konkludent – auch in Zukunft für eine gewisse Dauer mehrere selbstständige, im Einzelnen noch ungewisse Schleusungen durchzuführen. Dabei handelten der Antragsteller und die drei weiteren Angeklagten in der Absicht, sich eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle von einigem Gewicht und einiger Dauer zu verschaffen, indem sie sich von den Geschleusten für die Schleusung und Vermittlung von Ehen einen Schleuserlohn versprechen bzw. auszahlen ließen und von welchem der Antragsteller und die drei weiteren Angeklagten jeweils einen Anteil erhielten. Der Antragsteller sowie die drei weiteren Angeklagten wussten jeweils, dass die geschleusten Personen nicht in die Bundesrepublik einreisen und sich dort aufhalten durften. Ebenso wussten sie, dass die Drittstaatsangehörigen nicht nach Dänemark weiterreisen durften. Die Drittstaatsangehörigen wurden häufig von dem Antragsteller sowie den drei weiteren Angeklagten über selbst gegründete Hilfsorganisationen wie den vom Antragsteller gegründeten Verein „N. Hilfe e.V.“ angeworben. Anschließend vermittelten und organisierten der Antragsteller sowie die drei weiteren Angeklagten den Drittstaatsangehörigen Zweckehen mit Unionsbürgern, um ihnen in Deutschland ein Daueraufenthaltsrecht über das sog. abgeleitete Freizügigkeitsrecht zu verschaffen. Hauptakteur der Unternehmen war nach den Feststellungen der Strafkammer der Antragsteller, der bereits seit April 2015 allein oder mit wechselnden Unterstützern in diesem Metier tätig war. Er organsierte die Verbringung der Drittstaatsangehörigen nach Deutschland, häufig mittels erschlichener Visa, und meldete die Eheschließungen über eine in Hamburg ansässige Hochzeitsagentur in Dänemark an (vgl. Sachverhaltsdarstellung im Urteil des Landgerichts … vom 17.12.2020 – …, Bl. 1038f. der Behördenakte).
50
Im Rahmen der Strafzumessung wertete das Landgericht … zugunsten des Antragstellers dessen umfassendes Geständnis sowie den Umstand, dass er sich für sein Verhalten entschuldigte und dieses nicht beschönigte. Positiv stellte das Gericht weiterhin in Rechnung, dass die Taten zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung zwischen 5 Jahre 6 Monate und 3 Jahre 3 Monate zurücklagen und die Geschleusten jeweils gut behandelt wurden. Weiterhin wurde eine besondere Haftempfindlichkeit des Antragstellers berücksichtigt, dessen Untersuchungshaft bereits im August 2018 begann; auch habe er während seiner Haft kaum Besuch von Verwandten und Freunden erhalten. Zugunsten des Antragstellers wurden weiterhin dessen fehlende Vorstrafen berücksichtigt. Andererseits wertete das Landgericht … zu Lasten des Antragstellers, dass er als Kopf der Bande agierte und es ohne sein planvolles und überlegtes Vorgehen die verhandelten Straftaten nicht gegeben hätte, da er die übrigen Angeklagten zu den Taten verleitet habe. Überdies waren die in den Taten zum Ausdruck kommende erhebliche kriminelle Energie, das professionelle Vorgehen und der erhebliche Planungsaufwand aus Sicht der Strafkammer negativ zu bewerten. Gerade das Agieren über Landesgrenzen hinweg sowie die vielen Teilakte von der Besorgung von Visa, der Organisation von Unterkünften und die Unterhaltung des Kontakts zu der Hochzeitsagentur, in denen der Antragsteller agiert habe, zeigten, dass ein großer Aufwand nicht gescheut worden sei, um das strafwürdige Ziel zu erreichen und selbst möglichst viel Geld zu verdienen. Ebenfalls negativ wirkte sich nach den Ausführungen des Landgerichts … aus, dass der Antragsteller besonders skrupellos vorging und auch seine in Deutschland lebende Tochter (welche die deutsche Staatsangehörigkeit besaß) zur Eingehung einer Zweckehe bewegte, obwohl diese in einer festen Beziehung mit dem Vater ihres Kindes lebte und diesen heiraten wollte. Besonders skrupellos habe der Antragsteller weiterhin bei der Vermittlung der Zweckehe zwischen seiner Lebensgefährtin und einem rumänischen Staatsangehörigen agiert, um sich von Ersterer ein möglichst hohes Schleuserentgelt – in diesem Fall 20.000,00 Euro – bezahlen zu lassen. Infolgedessen kam das Landgericht … zu dem Ergebnis, dass die mildernden Faktoren nicht maßgeblich überwiegten und sah von einer Strafrahmenverschiebung ab (vgl. Ausführungen zur Strafzumessung im Urteil des Landgerichts … vom 17.12.2020 – …, Bl. 1117f. der Behördenakte).
51
Die seitens des Antragstellers begangenen Straftaten fielen hinsichtlich des Deliktstyps in den Bereich der organisierten Kriminalität, sodass das generalpräventive Anliegen, andere Ausländer in einer vergleichbaren Situation von der Begehung entsprechender Taten abzuhalten, dem Schutz sowohl der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts als auch von Rechtsgütern höchsten Rangs dient. Die organisierte Kriminalität fällt in den Bereich der besonders schweren Kriminalität i.S.v. Art. 83 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV. Die Anzahl der Straftaten, die Art ihrer Begehung, deren Verübung über einen erheblichen Zeitraum hinweg und deren Wirkungen bestätigen die Annahme eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses im Einzelfall und rechtfertigen die Annahme eines dringenden Bedürfnisses, über die strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von der Begehung von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten.
52
cc) Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu treffende Abwägung ergibt vorliegend, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse überwiegt und die Ausweisung nicht unverhältnismäßig ist, § 53 Abs. 1 AufenthG.
53
§ 53 AufenthG gestaltet die Ausweisung als Ergebnis einer umfassenden, ergebnisoffenen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. Sofern das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt, ist die Ausweisung rechtmäßig. In die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind die in §§ 54, 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen. Neben den dort explizit aufgeführten Interessen sind aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. Die Katalogisierung in den §§ 54, 55 AufenthG schließt die Berücksichtigung weiterer Umstände nicht aus (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Nach § 53 Abs. 2 AufenthG sind bei der Abwägung nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Die Aufzählung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien ist aber nicht abschließend (BT-Drs. 18/4097, S. 50). Es sind für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung maßgeblich auch die Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen (vgl. nur EGMR, U.v. 18.10.2006 – Üner, Nr. 46410/99 – juris; EGMR, U.v. 2.8.2001 – Boultif, Nr. 54273/00 – InfAuslR 2001, 476-481). Hiernach sind vor allem die Art und die Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthaltes in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll, die seit der Begehung der Straftat verstrichene Zeit und das seitherige Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen, die familiäre Situation des Ausländers, ob zu der Familie Kinder gehören und welches Alter diese haben, sowie die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, welche die Familienangehörigen voraussichtlich in dem Staat ausgesetzt wären, in den der Ausländer ausgewiesen werden soll, die Belange und das Wohl der Kinder und die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland zu berücksichtigen (VG München, U.v. 14.12.2022 – M 9 K 19.5324 – juris Rn. 29; BayVGH, B.v. 25.10.2022 – 19 CS 22.1755 – juris Rn. 29).
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Art. 6 GG gebietet familiäre Bindungen zu Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d.h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, bei der Abwägung zur Geltung zu bringen (BVerfG, in stRspr; statt aller BVerfG, Kammerbeschluss v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – NJW 2022, 1804 Rn. 45). Ebenso wenig wie Art. 6 GG gewährleistet Art. 8 Abs. 1 EMRK ein Recht des Ausländers in einen bestimmten Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten. Ein Staat ist vielmehr berechtigt, die Einreise von Ausländern in sein Hoheitsgebiet und ihren Aufenthalt dort nach Maßgabe seiner vertraglichen Verpflichtungen zu regeln (EGMR, U.v. 18.10.2006 Üner Nr. 46410/99 – juris). Eingriffe sind unter den Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK statthaft und müssen ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen den gegenläufigen Interessen des Einzelnen und der Gesellschaft herstellen. Die Beziehung zwischen Eltern und volljährigen Kindern und sonstigen erwachsenen Angehörigen ist in ihrem verfassungsrechtlichen Kern nicht auf eine Lebens- oder Haushaltsgemeinschaft, sondern in aller Regel auf eine Begegnungsgemeinschaft angelegt und kann deshalb regelmäßig durch wiederholte Besuche oder Brief- und Telefonkontakte aufrechterhalten werden (vgl. BVerfG, B.v. 18.04.1989 – 2 BvR 1169/84 – juris Rn. 42, 44). Selbst im Falle des Bestehens einer schützenswerten familiären Beziehung ist insbesondere bei besonders schweren Straftaten eine Aufenthaltsbeendigung aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht generell und unter allen Umständen ausgeschlossen (vgl. BVerwG, B.v. 10.2.2011 – 1 B 22/10 – juris Rn. 4).
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Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist festzustellen, dass der Antragsteller seit mindestens 27 Jahren wohl überwiegend in der Bundesrepublik Deutschland lebt und hier - jedenfalls nach Aktenlage – zumeist einer Beschäftigung nachging. Gleichwohl muss die soziale Integration des Antragstellers als gescheitert angesehen werden. Denn er gefährdete zum weit überwiegenden Teil seines Aufenthalts die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland. Während er zunächst im Rahmen seines Asylverfahrens und in den darauffolgenden Jahren angab, Staatsangehöriger Bhutans zu sein und diese Täuschung über seine Identität erst am 17.02.2011 durch Vorlage seines nepalesischen Reisepasses beendete, nahm er nachweislich nur wenige Jahre später sein Schleusergeschäft auf, in welchem er nach den o.g. strafrechtlichen Feststellungen, die nicht zuletzt auf dem Geständnis des Antragstellers beruhten, als Kopf der Band fungierte.
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Andererseits verfügt der Antragsteller über kein typisiertes Bleibeinteresse im Sinne von § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG. Insbesondere hat er ausweislich der obigen Ausführungen keine Aufenthaltserlaubnis (mehr) inne. Ferner kann er sich nicht auf besonders schutzwürdige familiäre Bindungen im Bundesgebiet berufen. Zwar leben zwei erwachsene Kinder (eine Tochter sowie ein Sohn) sowie Enkelkinder des Antragstellers in Deutschland. Allerdings ist weder vorgetragen noch nach Aktenlage ersichtlich, dass der Antragsteller zu diesen jeweils eine enge persönliche Beziehung pflegen würde. Im Gegenteil ist den Ausführungen des Landgerichts … im Urteil vom 17.12.2020 zu entnehmen, dass der Antragsteller lediglich zu Beginn seiner Untersuchungshaft Besuch von seiner Tochter erhielt (Bl. 1030 der Behördenakte). Eingedenk des Umstands, dass er seine Tochter als deutsche Staatsangehörige zur Eingehung einer Zweckehe im Rahmen seiner illegalen Machenschaften veranlasste, obgleich diese in einer Beziehung mit dem Vater ihres Kindes lebte, erscheint dies naheliegend. Überdies kann der Antragsteller eine etwaige persönliche Beziehung zu seinen im Bundesgebiet lebenden volljährigen Kindern, die nach den obigen Ausführungen regelmäßig auf eine Begegnungs- und nicht auf eine Lebens- oder Haushaltsgemeinschaft angelegt ist, künftig durch Brief- und Telefonkontakte aufrechterhalten. Auch im Übrigen erhielt der Antragsteller ausweislich der Feststellungen des Landgerichts … im vorgenannten Urteil während seiner Haft kaum Besuch von Verwandten und Freunden, was weiterhin gegen bestehende enge persönliche Bindungen im Bundesgebiet spricht (Bl. 1361 der Behördenakte). Zwar unterhielt der Antragsteller im Zeitpunkt seiner Verhaftung eine Beziehung zu der in den gegen ihn gerichteten Strafverfahren Mitangeklagten R.S.G. Allerdings lebte er mit dieser bereits nicht in einer Haushaltsgemeinschaft zusammen, vielmehr verfügte jeder über seine eigene Wohnung, lediglich die Lebenshaltungskosten wurden gemeinsam bestritten. Unklar ist insoweit weiterhin, ob die Beziehung seit der Haftentlassung des Antragstellers im Jahr 2022 überhaupt noch besteht (vgl. persönliche Feststellungen des Urteils des Landgerichts … vom 19.12.2019 – …, Bl. 1395f. der Behördenakte). Zwar hat der Antragsteller nach seinen eigenen Ausführungen in den 70er oder 80er Jahren eine Nepalesin geheiratet, die die Mutter seiner Kinder und inzwischen deutsche Staatsangehörige ist, allerdings lebt er von dieser bereits seit dem Jahr 2007 getrennt (vgl. persönliche Feststellungen des Urteils des Landgerichts … vom 19.12.2019 – …, Bl. 1395 der Behördenakte).
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Darüber hinaus kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller im Falle einer Rückkehr nach Nepal auf beträchtliche Schwierigkeiten stoßen würde. Der Antragsteller pflegte im Rahmen seiner Schleusertätigkeit, die insbesondere nepalesische Staatsangehörige betraf, stetig Kontakte nach Nepal. Er ist Vorsitzender eines Vereins, welcher Schulen in N. finanziell unterstützt. Überdies verfügt er seinen eigenen Angaben zufolge über Kontakte zu hochrangigen Persönlichkeiten in N. und besitzt dort Grundstücke von unbekanntem Wert. Der Antragsteller ist – auch angesichts des Umstands, dass er mehr als die ersten 30 Jahre seines Lebens dort verbracht hat – mithin mit der Sprache und den Gepflogenheiten des Landes seiner Staatsangehörigkeit vertraut. Aufgrund der vorgenannten Verbindungen zu seinem Herkunftsland kann nicht angenommen werden, dass er völlig „entwurzelt“ wäre. Überdies steht dem Antragsteller aus einer 14-jährigen Tätigkeit beim Militär eine Monatsrente von umgerechnet 380,00 Euro zu, die er zur Lebensunterhaltssicherung in N. aufwenden kann. Darüber hinaus lebt ein weiterer volljähriger Sohn des Klägers in N. und betreibt dort ein Hotel, so dass der Antragsteller nötigenfalls auch auf familiäre finanzielle Unterstützung zu verweisen wäre (vgl. persönliche Feststellungen des Urteils des Landgerichts … vom 19.12.2019 – …, Bl. 1395f. der Behördenakte).
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Nach alledem erweist sich die Ausweisung des Antragstellers nach summarischer Prüfung als verhältnismäßig.
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Das in Ziffer 2 des Bescheides vom 12.06.2023 angeordnete, auf fünf Jahre befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot stellt sich auch im Übrigen als rechtmäßig dar. Gerichtlich überprüfbare Ermessenfehler i.S.d. § 114 Satz 1 VwGO liegen nicht vor. Von der Befugnis, den Fristrahmen des § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG infolge der strafrechtlichen Verurteilung des Antragstellers gemäß § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG zu überschreiten, hat die Antragsgegnerin bereits nicht Gebrauch gemacht.
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Innerhalb des gesetzlich eröffneten Fristrahmens muss die Ausländerbehörde bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Frist das Gewicht des Ausweisungsinteresses und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigen. Hierzu bedarf es in einem ersten Schritt der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das seiner Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die auf diese Weise an der Erreichung des Ausweisungszwecks ermittelte Höchstfrist muss von der Behörde in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie unions- und konventionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 7 GrC und Art. 8 EMRK gemessen und gegebenenfalls relativiert werden (BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 27/16 – juris Rn. 23; U.v. 16.2.2022 – 1 C 6/21 – juris Rn. 58).
61
Nach diesen Maßstäben ist die behördliche Befristungsentscheidung nicht zu beanstanden. Unter Berücksichtigung der oben bereits ausführlich gewürdigten erheblichen Straffälligkeit und des Umstands, dass der Antragsteller über keine stabilen sozialen Beziehungen verfügt, erweist sich die Frist von fünf Jahren trotz des langen Aufenthalts des Antragstellers im Bundesgebiet als verhältnismäßig.
62
b) Der gegen die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis (Ziffer 3 des Bescheids vom 12.06.2023) gerichtete Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO erweist sich nach den obigen Ausführungen bereits als unstatthaft. Selbst wenn der Antrag im wohlverstandenen Interesse des Antragstellers (§ 88 VwGO) als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ausgelegt würde, hätte dieser keinen Erfolg. Der Antragstellerbevollmächtigte machte zwar geltend, dass ein Fall der unbilligen Härte im Sinne von § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG vorliegt. Jedoch ist es nicht möglich, die Antragsgegnerin durch gerichtlichen Beschluss zur Anordnung der Fortgeltungswirkung zu verpflichten (vgl. VGH BW, B.v. 21.2.2020 – 11 S 2/20 – juris Rn. 18). Aus § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ergibt sich, dass der Aufenthalt eines Ausländers nach Antragsablehnung während des behördlichen und gerichtlichen Überprüfungsverfahrens unabhängig von einer gerichtlichen Eilentscheidung rechtwidrig und der Ausländer zur Ausreise verpflichtet ist (vgl. VG München, B.v. 14.4.2020 – M 2 S 21.3973 – juris Rn. 20 m.w.N.). Deshalb ist ein auf die Anordnung der Fortgeltungswirkung gerichteter Anordnungsanspruch von vornherein ausgeschlossen und ein Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO unzulässig. Ein nicht gemäß § 81 Abs. 3 bzw. Abs. 4 AufenthG geschützter Ausländer muss die Entscheidung über seinen Antrag auf Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis grundsätzlich im Ausland abwarten (vgl. OVG NW, B.v. 11.1.2016 – 17 B 890/15 – juris Rn. 8). Soweit im vorliegenden Fall nach den Ausführungen des Antragstellerbevollmächtigten gerade streitig ist, ob dem Antragsteller ein Anspruch auf Fortgeltungsanordnung wegen unbilliger Härte zusteht, wäre ein Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO allenfalls dann erfolgversprechend, wenn es möglich erscheint, dass ein Fall der unbilligen Härte vorliegt und der Antragsteller einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat (vgl. VG München, B.v. 14.4.2020 – M 2 S 21.3973 – juris Rn. 23). Vorliegend ist jedoch weder von einer unbilligen Härte auszugehen noch besteht ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Eine unbillige Härte wird angenommen, wenn es für den Ausländer im Rahmen einer Betrachtung der Umstände des Einzelfalles, insbesondere wegen einer nur geringfügigen Überschreitung der Frist zur (Verlängerungs-)Antragstellung und eines geringen Grades des Verschuldens dieser Fristüberschreitung, unverhältnismäßig wäre, ihn – unter Abbruch gewichtiger familiärer, wirtschaftlicher und sozialer Bindungen – auf eine Ausreise und ein nachfolgendes Visumverfahren zu verweisen; eine solche Unverhältnismäßigkeit kann bejaht werden, wenn bei einer summarischen Prüfung davon ausgegangen werden kann, dass – eine rechtzeitige Antragstellung vorausgesetzt – die beantragte Verlängerung des Aufenthaltstitels erteilt werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 9.5.2019 – 10 CS 19.757 – juris Rn. 7 m.w.N.). Die vorliegend in Rede stehende achtmonatige Fristüberschreitung bis zur Antragstellung nach Ablauf der Aufenthaltserlaubnis ist nicht kurzfristig (so schon für eine dreimonatige Überschreitung BayVGH, B.v. 21.9.2016 – 10 ZB 16.1296 – juris Rn. 8). Überdies kommt dem Antragsteller aufgrund der Titelerteilungssperre infolge des mit der – sich nach obiger summarischer Prüfung als rechtmäßig darstellenden – Ausweisung erlassenen Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 11 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 AufenthG) kein Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis zu. Im Hinblick darauf bedarf es keiner Entscheidung, ob der Antrag insoweit gegen die richtige Antragsgegnerin gerichtet ist, weil der Antragsteller inzwischen nicht mehr im Stadtgebiet … wohnhaft ist. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass der Antragsteller das Verpflichtungsbegehren im Hauptsacheverfahren gegen den Rechtsträger der aktuell zuständigen Ausländerbehörde geltend machen muss, da nur dieser hierfür passivlegimitiert ist (vgl. BayVGH, B.v. 20.8.2021 – 10 C 21.1649 – juris Rn. 29).
63
c) Die Abschiebungsandrohung in Ziffer 6 des Bescheids vom 12.06.2023 ist rechtmäßig.
64
Der Antragsteller hat keinerlei Umstände aufgezeigt, die Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung begründen könnten. Insbesondere ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass der Antragsteller nicht ausreisepflichtig i.S.v. § 50 Abs. 1 AufenthG wäre. Denn der Antragsteller besitzt seit jedenfalls 23.02.2020 keinen Aufenthaltstitel mehr. Etwaige Duldungsgründe stehen der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung nicht entgegen, § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG.
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3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 154 Abs. 1 VwGO.
66
4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, 39 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziff. 8.1, 8.2, 1.1.1 und 1.5 des Streitwertkatalogs.