Titel:
Erfolgloser Eilantrag auf Aussetzung der Abschiebung und vorläufige Duldung
Normenketten:
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1
Sichtvermerksabkommen Art. 5
EÜÜVF Art. 2, Art. 4 Abs. 1
Leitsätze:
1. Art. 5 des Sichtvermerksübereinkommens sieht weder eine zeitliche Grenze für die Rückübernahme vor, noch setzt es voraus, dass der Flüchtling zum Zeitpunkt der Rückübernahme noch einen gültigen Reisepass hat. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Verantwortung für einen Flüchtling nach dem Europäischen Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge und damit auch die Zuständigkeit zur dauerhaften Aufnahme des Flüchtlings soll nach Art. 4 Abs. 1 S. 2 des Übereinkommens nicht ohne Wissen und gegen den Willen des Zweitstaats erfolgen, weshalb eine vorübergehende Gestaltung des Aufenthalts zur Durchführung eines Asylverfahrens nicht zum Ausdruck bringt, dass der Zweitstaat willens und bereit wäre, den Flüchtling langfristig aufzunehmen. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
3. Für den Übergang der Verantwortung nach Art. 2 Abs. 3 iVm Art. 4 Abs. 1 S. 1 des Übereinkommens ist zwar nicht erforderlich, dass der Zweitstaat konkludent den Willen zum Ausdruck bringt, mit einem dauerhaften Aufenthalt des Flüchtlings in seinem Hoheitsgebiet einverstanden zu sein. Auch hier soll die Verantwortung aber nicht gegen den Willen des Zweitstaates übergehen, weswegen auch für den Ablauf dieser Frist mindestens eine stillschweigende Billigung im Sinne eines Einvernehmens der Behörden des Zweitstaates mit dem Aufenthalt des Flüchtlings über einen Zeitraum von sechs Monaten nach Ablauf seines Reisepasses hinaus Voraussetzung ist. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
4. Ist die Verantwortung für einen Flüchtling auf den Zweitstaat übergegangen geht sie durch die Zustimmung des Erststaats zur Wiederaufnahme des Flüchtlings wieder zurück auf diesen über. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ablauf der Frist nach Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EÜÜVF, stillschweigende Billigung, Übergang der Verantwortung, Rückübertragung der Verantwortung auf den Erststaat, rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung, Sichtvermerksabkommen, Rückübernahme, Zweitstaat, Reisepass, Erststaat, Rückübertragung der Verantwortung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 42213
Tenor
1. Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 1.250,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller begehrt im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes Aussetzung der Abschiebung und vorläufige Duldung.
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Der … geborene Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger. Er verließ Afghanistan im Jahr 2014 und gelangte über die Türkei nach Rumänien, wo er sich fünf Jahre aufhielt. In Rumänien wurde dem Antragsteller auf Antrag vom 8. September 2014 am 24. November 2014 internationaler Schutz (Flüchtlingsstatus) gewährt. Er erhielt ein Aufenthaltsdokument und einen Reisepass, der bis zum 13. November 2021 gültig war.
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Am 1. August 2019 reiste der Antragsteller auf dem Luftweg in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 27. August 2019 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt).
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Der Antragsteller erhielt von verschiedenen mit seinem Aufenthalt befassten Behörden mehrfach Aufenthaltsgestattungen zur Durchführung des Asylverfahrens (erstmals vorläufig am 12. August 2019 (Bl. 6 d. Behördenakte), zuletzt am 18. Mai 2022 (Bl. 665 f. d. Behördenakte)).
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Der Asylantrag des Antragstellers wurde durch das Bundesamt mit Bescheid vom 9. Oktober 2019 als gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig abgelehnt (Ziffer 1). Es wurde zudem festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2). Der Antragsteller wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheides zu verlassen; andernfalls würde er nach Rumänien oder in einen anderen Staat, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei, abgeschoben; zugleich wurde festgestellt, dass der Antragsteller nicht nach Afghanistan abgeschoben werden dürfe (Ziffer 3). Es wurde ein Einreise- und Aufenthaltsgebot erlassen und dieses auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4). Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung wurde ausgesetzt (Ziffer 5). Die gegen den Bescheid vom 9. Oktober 2019 gerichtete Klage wurde vom Verwaltungsgericht München mit Urteil vom 12. Dezember 2022 (M 25 K 19.33712) abgewiesen. Der hiergegen gerichtete Antrag auf Zulassung der Berufung wurde vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 20. April 2023 (24 ZB 23.30078) abgelehnt.
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Dem Antragsteller erteilte Beschäftigungserlaubnisse nach § 61 Abs. 1 Satz 2 AsylG wurden stets auf den bestandskräftigen Abschluss des Asylverfahrens befristet (Bescheide d. Regierung von … – Zentrale Ausländerbehöre, erstmals v. 6. Oktober 2020, Bl. 208 ff. d. Behördenakte; zuletzt v. 29. Juli 2022, Bl. 652 ff. d. Behördenakte).
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Am 27. April 2023 erbat die Zentrale Ausländerbehörde … (im Folgenden: ZAB) bei der Bundespolizei die Anbietung des Antragstellers „gemäß Art. 4 des Straßburger Abkommens“ in Rumänien.
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Am 3. Mai 2023 ließ der Antragsteller beim Antragsgegner die Erteilung einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG sowie anschließend eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG und außerdem die Erteilung einer Arbeitserlaubnis beantragen.
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Mit Schriftsatz vom 22. Mai 2023 ließ der Antragsteller am 23. Mai 2023 einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz erheben und beantragen,
die Antragsgegnerin im Wege des Eilrechtsschutzverfahrens gemäß § 123 VwGO zu verpflichten, die Abschiebung des Antragstellers einstweilen bis zu einer Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Duldung und Aufenthaltserlaubnis vom 03.05.2023 auszusetzen und hierüber eine Duldungsbescheinigung auszustellen.
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Zudem ließ er Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung beantragen. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe wurde mit Schriftsatz vom 24. Mai 2023 zurückgenommen.
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Zur Begründung des Antrags wird im Wesentlichen ausgeführt: Es sei davon auszugehen, dass der Antragsgegner Kenntnis von der Gültigkeit des rumänischen Reiseausweises des Antragstellers bis zum 13. November 2021 gehabt habe. Obwohl es sich bei dem den Asylantrag des Antragstellers ablehnenden Bescheid des Bundesamtes um eine Unzulässigkeitsentscheidung gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gehandelt habe, habe der Antragsgegner dem Antragsteller weiterhin Aufenthaltsgestattungen ausgestellt, eigentlich hätten jedoch Duldungen erteilt werden müssen. Damit habe der Antragsgegner deutlich gemacht, dass er von der Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland ausgehe und den Aufenthalt des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland auch nach Ablauf des rumänischen Reiseausweises stillschweigend gebilligt. Nach Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 1 und Abs. 3 EÜÜVF in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 EÜÜVF sowie Ziff. II.4.2 und III.3.3 AVV-AufenthG sei die Verantwortung für die Ausstellung eines neuen Reiseausweises und zugleich auch insgesamt die ausländerrechtliche Zuständigkeit für den Antragsteller auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Hieraus ergebe sich ein Duldungsgrund nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG und in der Folge die Möglichkeit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf Grundlage von § 25 Abs. 5 AufenthG. Es werde befürchtet, dass der Antragsteller demnächst nach Rumänien abgeschoben beziehungsweise überstellt werde, deswegen sei ein Eilantrag geboten.
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Mit Schreiben vom 30. Mai 2023 stimmten die rumänischen Behörden dem Rücknahmeersuchen nach Art. 5 des Europäischen Übereinkommens über die Aufhebung des Sichtvermerkszwangs für Flüchtlinge vom 20. April 1959 zu.
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Der Antragsgegner hat keinen Antrag gestellt.
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Zum Antrag des Antragstellers hat er im Wesentlichen wie folgt Stellung genommen: Der Antragsteller sei seit dem 20. April 2023 vollziehbar ausreisepflichtig, die Abschiebungsandrohung sei seit dem 28. April 2023 vollziehbar. Die Abschiebung des Antragstellers sei rechtlich und tatsächlich möglich, ein Anspruch auf Ausstellung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG bestehe nicht. Die Bundesrepublik Deutschland habe einer Niederlassung des Antragstellers im Bundesgebiet in Verbindung mit einem Verantwortungsübergang zu keinem Zeitpunkt zugestimmt. Es sei zwar nach dem EÜÜVF ein Verantwortungsübergang für den Antragsteller auf die Bundesrepublik Deutschland erfolgt und der Wiederaufnahmeantrag gegenüber Rumänien wegen Ablaufs der Sechs-Monats-Frist verspätet gewesen, wegen der Zustimmung Rumäniens zum Rücknahmeersuchen sei die Verantwortung wieder zurück auf den Drittstaat Rumänien übergegangen. Rechtsgrundlage für den Rückübergang im Falle einer Zustimmung Rumäniens sei Art. 8 Abs. 2 EÜÜVF. Da weder die Ausreise noch die Abschiebung des Antragsstellers tatsächlich oder rechtlich unmöglich seien, lägen auch die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG nicht vor.
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Hiergegen wendet der Antragsteller ein, die Regelung in Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EÜÜVF mit der Folge des Erlöschens der Verantwortung des Erststaates für die Verlängerung der Erneuerung des Reiseausweises des Flüchtlings gemäß Art. 5 EÜÜVF sei klar geregelt. Da keine Regelungen ersichtlich seien, die diesen Prozess wieder umkehrbar machten, sei davon auszugehen, dass die Regelungen der EÜÜVF insoweit abschließend sein sollen. Bei Art. 8 Abs. 2 EÜÜVF handele es sich um eine Auslegungsregel zu Gunsten des betroffenen Flüchtlings. Da im vorliegenden Fall der Antragsteller den Erststaat verlassen habe, weil ein Überleben in diesem Staat für ihn trotz des erteilten internationalen Schutzes sehr mühsam gewesen sei, könne die Regelung nicht dahingehend auszulegen sein, dass der vom Erststaat erteilte internationale Schutz als höheres Gut im Vergleich zu einer Aufenthaltsgestattung oder Aufenthaltserlaubnis im Zweitstaat anzusehen sei und insofern eine Rückübertragung möglich sein müsse. Demnach könne Art. 8 EÜÜVF von einem Staat dann herangezogen werden, wenn es darum gehe, sich im Sinne des Wunsches des Flüchtlings für zuständig zu erklären. Aus der Norm ergebe sich jedoch keine Befugnis, vom klaren Wortlaut der Regelung abzuweichen. Auf die Frage der Rückübertragbarkeit der Zuständigkeit komme es jedoch nicht an, da der Antragsgegner ein Rücknahmeübersuchen ausdrücklich auf Grund von Art. 4 EÜÜVF und nicht auf Grund von Art. 8 Abs. 2 EÜÜVF gestellt habe. Für den Fall, dass es aus Sicht des Gerichtes auf die zumindest billigende Inkaufnahme des Aufenthalts des Antragsstellers ankomme, werde auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts München verwiesen (Schreiben des Verwaltungsgerichts München vom 13. Juli 2022, Bl. 64-67 d. Gerichtsakte).
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Mit Schreiben vom 3. August wies das Gericht die Beteiligten darauf hin, dass die Zustimmung Rumäniens auf Grundlage von Art. 5 des Europäischen Übereinkommens über die Aufhebung des Sichtvermerkszwangs für Flüchtlinge vom 20. April 1959 erteilt wurde.
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Der Antragsgegner führt hierzu aus, dass vorliegend beide Abkommen nebeneinander Anwendung fänden.
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Der Antragsteller entgegnet, dass eine Zustimmung nach dieser Norm einen noch gültigen Reisepass des Flüchtlings voraussetze und zudem den Zuständigkeitsübergang auf Grundlage des EÜÜVF nicht hindere.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
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1. Der zulässige Antrag nach § 123 VwGO hat in der Sache keinen Erfolg, weil der Antragsteller zwar einen Anordnungsgrund, jedoch keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht hat.
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1.1. Der Antragsteller hat einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, weil die zeitnahe Abschiebung des Antragstellers beabsichtigt ist. Nach den Angaben des Antragsgegners wird die Abschiebung des Antragstellers angestrebt und soll nach Erteilung der zeitnah erwarteten Rücknahmezusage der rumänischen Behörden die Stellung eines Antrags auf Luftabschiebung des Antragstellers gestellt werden. Die rumänischen Behörden haben der Rücknahme des Antragstellers inzwischen am 30. Mai 2023 zugestimmt.
22
1.2. Der Antragsteller hat jedoch keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Er hat nicht glaubhaft gemacht, dass seine Abschiebung nach Rumänien rechtlich nicht (zeitnah) möglich ist und kann auch keine sonstigen Gründe für die Aussetzung der Abschiebung i. S. v. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG für sich in Anspruch nehmen.
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1.2.1. Die Voraussetzungen für die Rückübernahme des Antragstellers nach Art. 5 des European Agreement on the Abolition of Visas for Refugees (amtliche Übersetzung: Europäisches Übereinkommen über die Aufhebung des Sichtvermerkszwangs für Flüchtlinge vom 20. April 1959 – Sichtvermerksabkommen – (Sammlung Europäischer Verträge Nr. 31; BGBl. 1961 II 1097 ff.)) liegen vor. Hiernach werden Flüchtlinge, die sich auf Grund der Bestimmungen des Übereinkommens in das Hoheitsgebiet einer Vertragspartei begeben haben, jederzeit wieder in das Hoheitsgebiet der Vertragspartei übernommen, deren Behörden ihnen einen Reiseausweis ausgestellt haben und zwar auf einfaches Ersuchen der ersteren Vertragspartei, es sei denn, dass diese Vertragspartei dem betroffenen Flüchtling die Niederlassung in ihrem Hoheitsgebiet gestattet hat. Eine zeitliche Grenze für die Rückübernahme durch den den Reisepass ausstellenden Erststaat ist nicht vorgesehen. Entgegen der Ansicht des Antragstellers setzt Art. 5 des Sichtvermerksabkommens nicht voraus, dass der Flüchtling zum Zeitpunkt der Rückübernahme noch einen gültigen Reisepass hat. Das Sichtvermerksabkommen setzt in Bezug auf den Reisepass in Art. 1 Abs. 1 Buchst. a lediglich voraus, dass der Flüchtling bei der Einreise einen gültigen Reiseausweis nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention, BGBl 1953 II 560) oder dem Londoner Abkommen betreffend Reiseausweise für Flüchtlinge vom 15. Oktober 1946 (BGBl 1951 II 161) hat. Der Verpflichtung der Vertragsparteien, den Flüchtling ohne das Erfordernis eines Visums einreisen zu lassen, steht die Verpflichtung der den Reisepass ausstellenden Partei gegenüber, den Flüchtling jederzeit auf einfaches Ersuchen zurückzunehmen. Dem Sinn dieser gegenseitigen Verpflichtungen würde es zuwiderlaufen, wenn sich die letztere Partei darauf berufen könnte, dass der Reisepass des Flüchtlings mittlerweile abgelaufen sei und der Staat, in dessen Hoheitsgebiet eingereist wurde, befürchten müsste, den Flüchtling infolge der nach dem Abkommen vereinfachten Einreise zum vorübergehenden Aufenthalt nun doch dauerhaft aufnehmen zu müssen.
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1.2.2. Auch aus dem Europäischen Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16. Oktober 1980 (BGBl 1994 II 2646) – EÜÜVF – i. V. m. dem Gesetz zu dem Europäischen Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 30. September 1994 (BGBl 1994 II 2645) ergibt sich kein rechtlicher Ausschluss der Abschiebung im Verhältnis zum Antragsteller.
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1.2.2.1. Es erscheint schon zweifelhaft, ob die Frist des Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EÜÜVF vorliegend überhaupt abgelaufen ist. Zweck des Übereinkommens ist es insbesondere, auszuschließen, dass ein anerkannter Flüchtling in dem Staat, aus dem er ausgereist ist (Erststaat), nicht wieder zugelassen wird und zugleich von dem Staat, in den er eingereist ist (Zweitstaat), nicht aufgenommen wird. Um dies zu gewährleisten soll anhand objektiver Kriterien bestimmbar sein, welcher der beiden Staaten die Verantwortung für den Flüchtling trägt. Neben rein zeitlichen Kriterien soll allerdings jeder Vertragsstaat die Entscheidungsfreiheit darüber behalten, ob er einen aus einem anderen Vertragsstaat eingereisten Flüchtling dauerhaft aufnehmen will oder nicht (vgl. Denkschrift zum Übereinkommen – Denkschrift – BT-Drs. 12/6852 S. 14).
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Aus einer Zusammenschau der Art. 2 und 4 EÜÜVF ergibt sich, dass die Verantwortung für den Flüchtling und damit auch die Zuständigkeit zur dauerhaften Aufnahme des Flüchtlings nicht ohne Wissen und gegen den Willen des Zweitstaates erfolgen soll. In Art. 2 Abs. 1 Satz 1 EÜÜVF kommt dies darin zum Ausdruck, dass der Zweitstaat dem Flüchtling für (mindestens) zwei Jahre gestattet hat, dauernd oder länger als für die Gültigkeitsdauer des Reiseausweises in seinem Hoheitsgebiet zu bleiben. Von diesen Zeiten positiver Zustimmung sind nach Art. 2 Abs. 2 EÜÜVF solche Zeiträume ausgenommen, in denen trotz möglicherweise sogar formaler Aufenthaltsgestattung gerade nicht von einer Zustimmung zum dauerhaften Aufenthalt des Flüchtlings ausgegangen werden kann, insbesondere nach Buchst. c solche Zeiten, in denen der Flüchtling im Hoheitsgebiet des Zweitstaats bleiben darf, solange ein Rechtsmittelverfahren gegen eine Entscheidung der Aufenthaltsverweigerung oder der Ausweisung anhängig ist, wenn die Rechtsmittelentscheidung die Aufenthaltsverweigerung oder Ausweisung bestätigt. Dieser Katalog ist allerdings abschließend, so dass davon auszugehen ist, dass schon der Zeitraum der Aufenthaltsgestattung für die Durchführung des Asylverfahrens durch die zuständige Behörde – also vor Einlegung eines Rechtsmittels – nicht in die Zweijahresfrist einzurechnen ist, weil eine solche vorübergehende Gestattung keine stillschweigende Billigung eines dauerhaften Aufenthalts in dem Sinne zum Ausdruck bringt, dass der Zweitstaat willens und bereit wäre, den Flüchtling langfristig aufzunehmen (BayVGH B. v. 3.12.2019 – 10 ZB 19.34074 – juris Rn. 8; Hailbronner in: Hailbronner, Ausländerrecht, Stand April 2023, II. Allgemeines, Rn. 4).
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Für den Übergang der Verantwortung nach Art. 2 Abs. 3 i. V. m. Art. 4 Abs. 1 Satz 1 EÜÜVF ist zwar nicht erforderlich, dass der Zweitstaat konkludent den Willen zum Ausdruck bringt, mit einem dauerhaften Aufenthalt des Flüchtlings in seinem Hoheitsgebiet einverstanden zu sein. Dennoch soll auch hier die Verantwortung nicht gegen den Willen des Zweitstaates übergehen, weswegen auch für den Ablauf dieser Frist mindestens eine stillschweigende Billigung im Sinne eines Einvernehmens der Behörden des Zweitstaates mit dem Aufenthalt des Flüchtlings über einen Zeitraum von sechs Monaten nach Ablauf seines Reisepasses hinaus Voraussetzung ist (Erläuternder Bericht zum Europäischen Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge – Erläuternder Bericht – BT-Drs. 12/6852 S. 21, Rz. 30; vgl. auch Ziff. II.4.2 der Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zum Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 10. Dezember 2020 – Anwendungshinweise – (Nr. 51.7.2 AVV-AufenthG)). Das Vorliegen einer solchen stillschweigenden Billigung erscheint hier zweifelhaft: Mit Bescheid vom 9. Oktober 2019 (Bl. 327 ff. d. Behördenakte) hat das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers abgelehnt (Ziff. 1) und ihn im selben Zug dazu aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen (Ziff. 3). Lediglich die zwangsweise Durchsetzung der Ausreisepflicht des Antragsstellers durch eine angedrohte Abschiebung (Ziff. 3) wurde ausgesetzt (Ziff. 5). Auch im Folgenden wurden dem Antragsteller für die Dauer des Rechtsmittelverfahrens nur Aufenthaltsgestattungen zur Durchführung des Asylverfahrens und Beschäftigungserlaubnisse mit Befristung auf den bestandskräftigen Abschluss des Asylverfahrens erteilt. Damit haben die Behörden stets zum Ausdruck gebracht, dass der Aufenthalt des Antragstellers gerade nicht stillschweigend gebilligt wird, sondern auf seiner Ausreise bestanden wird. Eine zwangsweise Durchsetzung dieser Ausreisepflicht war jedoch wegen des laufenden Rechtsmittelverfahrens erst mit Bestandskraft des ablehnenden Bescheides ab dem 20. April 2023 rechtlich möglich. Bereits sieben Tage nach Ablehnung der Zulassung der Berufung durch den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof wurden die rumänischen Behörden um Rücknahme des Antragstellers ersucht. Auch dies zeigt, dass der Aufenthalt des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland auf keinen Fall länger als unbedingt erforderlich hingenommen werden sollte. Insofern erscheint zweifelhaft, ob vorliegend die sechsmonatige Frist des Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EÜÜVF nicht auch erst mit Abschluss des Rechtsmittelverfahrens am 20. April 2023 zu laufen begann und somit das Rücknahmeersuchen an Rumänien nicht ohnehin rechtzeitig erfolgt ist. Andernfalls hätten die deutschen Behörden Rumänien um eine Rücknahme zu einem Zeitpunkt ersuchen müssen, in dem noch völlig unklar war, ob und zu welchem Zeitpunkt in den nächsten Jahren der Antragsteller überhaupt rücküberstellt werden könnte. Dies zeigt schon die Zeitspanne zwischen den Zeitpunkten des ablehnenden Bescheids am 9. Oktober 2019, des Ablaufs des Reisepasses am 13. November 2021 und der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs am 20. April 2023. Ein solches Vorgreifen in das Ungewisse erscheint nicht sinnvoll und kann von den Behörden wohl auch nicht erwartet werden.
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1.2.2.2. Soweit es zu einem Übergang der Verantwortung nach Art. 2 Abs. 3 i. V. m. Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EÜÜVF gekommen sein sollte, ist die Verantwortung durch die Zustimmung Rumäniens zur Wiederaufnahme des Antragstellers wieder zurück auf Rumänien übergegangen (diese Möglichkeit bejahend auch etwa OVG Lüneburg, B. v. 2.8.2018 – 8 ME 42/18 – juris Rn. 42 ff.; VG d. Saarlandes, B. v. 17.9.2021 – 6 L 964/21 – juris Rn. 16 ff.).
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Wie bereits dargelegt soll das EÜÜVF in erster Linie gewährleisten, dass anhand objektiver Kriterien bestimmt werden kann, welcher Vertragsstaat zu welchem Zeitpunkt für den Flüchtling verantwortlich ist und somit ausschließen, dass sich sowohl Erst- als auch Zweitstaat für ausländerrechtlich unzuständig halten und dem Flüchtling damit faktisch in keinem Staat ein Aufenthalt gestattet wird. Es geht also zuvorderst darum, dass zwischen den Vertragsstaaten Klarheit darüber herrscht, wer für die Aufnahme des Flüchtlings zuständig ist. Hieraus erwächst aber kein subjektives Recht des Flüchtlings aus dem völkerrechtlichen Abkommen, dass ein bestimmter Staat für ihn zuständig ist und bleibt. Denn es liegt gerade im zum Ausdruck gebrachten Willen des Zweitstaates, ob er ihn dauerhaft aufnimmt, oder nicht und ob er den Verantwortungsübergang zulässt beziehungsweise verhindert, oder nicht (s. dazu bereits oben). Auch aus Art. 8 Abs. 2 EÜÜVF ist ersichtlich, dass keiner der Vertragsstaaten daran gehindert ist, dem Flüchtling Vorteile zu gewähren, wenn die dafür festgelegten Voraussetzungen nicht erfüllt sind, also obwohl er dies nicht muss.
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Auch im Falle einer freiwilligen späteren Zustimmung zur Wiederaufnahme wird der Zweck des Übereinkommens erreicht, denn auch dann steht ohne Zweifel anhand objektiver Kriterien fest, dass in diesem Fall der rückübernehmende Erststaat die Verantwortung für den Flüchtling wieder übernimmt und er in der Folge dort auch die ihm aus der Genfer Flüchtlingskonvention zustehenden Rechte gewährt bekommt. Ein gleichzeitiges Sich-unzuständig-Erklären von Erst- und Zweitstaat mit einer damit verbundenen schwierigen Lage des betroffenen Flüchtlings ist ausgeschlossen. Eine Rechtsverletzung des Flüchtlings ist daher nicht erkennbar.
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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3. Die Streitwertfestsetzung stützt sich auf § 53 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. § 52 Abs. 1 und 2 GKG sowie Ziff. 8.3 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.