Titel:
Fahruntauglichkeit wegen einer diagnostizierten wahnhaften Störung iS einer expansiv-paranoischen Entwicklung
Normenketten:
VwGO § 123
FeV § 11 Abs. 2, Abs. 8, § 20 Abs. 1, Anl. 4 Nr. 7.5
Leitsätze:
1. Der Umstand, dass der Antragsteller nicht mit dem Kraftfahrzeug zu seiner Arbeitsstätte fahren könnte, wäre nur ein Nachteil, der beim Fehlen einer Fahrerlaubnis typischerweise eintritt. Eine Sondersituation, die zu unzumutbaren, nicht mehr reparablen Folgen führen wird, wäre hierin nicht zu sehen. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine durch ein psychiatrisches Sachverständigengutachten diagnostizierte wahnhafte Störung iS einer expansiv-paranoischen Entwicklung (ICD-10 F22.8) begründet Zweifel an der Fahreignung. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
3. § 11 FeV trägt durch seine abgestufte Vorgehensweise bereits für sich genommen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Vorläufiger Rechtsschutz gegen Ablehnung der Neuerteilung einer Fahrerlaubnis, Fahreignungszweifel wegen geistiger Mängel, Wahnhafte Störung in Form einer expansiv-paranoischen Entwicklung, Weigerung, verkehrsmedizinisches Gutachten beizubringen, Kein Anordnungsgrund, Kein Anordnungsanspruch, Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache, vorläufiger Rechtsschutz, Ablehnung der Neuerteilung einer Fahrerlaubnis, wahnhafte Störung, expansiv-paranoische Entwicklung, Weigerung verkehrsmedizinisches Gutachten beizubringen, Anordnungsgrund, Anordnungsanspruch, fachärztliches Attest, Begutachtungsstelle für Fahreignung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 24.01.2024 – 11 C 23.2067
Fundstelle:
BeckRS 2023, 41742
Tenor
I. Der Antrag nach § 123 VwGO wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten im Verfahren M 19 E 23.2560 zu tragen.
III. Der Streitwert im Verfahren M 19 E 23.2560 wird auf 2.500,-- € festgesetzt.
IV. Die Verfahren M 19 K 23.2559 und M 19 E 23.2560 werden hinsichtlich der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
V. Der Anträge auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für die Verfahren M 19 K 23.2559 und M 19 E 23.2560 werden abgelehnt.
Gründe
Der Kläger und Antragsteller (im Folgenden nur Antragsteller) begehrt die Neuerteilung seiner Fahrerlaubnis im einstweiligen Anordnungsverfahren. Außerdem begehrt er die Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Antrags- und Klageverfahren.
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Gegenüber dem Antragsteller wurde mit seit 13. Februar 2008 rechtskräftigem Urteil des Landgerichts München I (Az ...) die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Dem Urteil ist zu entnehmen, dass der Antragsteller am 23. März 2006 den Tatbestand des versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und schwerem Raub nach §§ 211 Abs. 2, 212, 250 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3b, 249 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 5, 223 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 52 StGB gegenüber einem Gerichtsvollzieher, der wegen wiederholter Geldschulden des Antragstellers Räumungen seines Hauses veranlasst hatte, erfüllt hat. Der Antragsteller litt jedoch zum Tatzeitpunkt an einer krankhaften seelischen Störung in Form einer expansiv-paranoischen wahnhaften Störung, die seine Schuldfähigkeit bei Tatbegehung nach § 20 StGB vollständig ausgeschlossen hat. Das Landgericht hat sich hierbei dem im Rahmen des Strafverfahrens erstellten Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen Dr. Dr. … angeschlossen, das in diesem Verfahren von den sachverständigen Zeugen Dr. med. … und … im Ergebnis bestätigt wurde.
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Das umfangreiche Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen Dr. Dr. … vom 30. November 2006 kommt zu dem Ergebnis, dass die Motivationsstruktur des Handelns des Antragstellers geprägt sei von der gegenüber Gegenvorstellungen immunen Überzeugung, seit Jahren Opfer von Machenschaften der deutschen Justiz in immer neuen Tarnungen zu sein. Diese Überzeugung werde aus Sicht des Antragstellers seit Jahren durch immer neue Wahrnehmungen bestätigt. Sie führe bei diesem gelegentlich zu einer affektiv hochgespannten Verkennung und Fehlbeurteilung bestimmter Situationen. So bestehe beim Antragsteller seit langem die objektiv in keiner Weise nachvollziehbare Befürchtung, man wolle ihn ermorden. Die fortschreitende Ausweitung seines Beeinträchtigungserlebens habe sich in Richtung einer systematischen Wahnbildung mit querulatorisch-kämpferischem Ausagieren entwickelt, welches erfahrungsgemäß gelegentlich zu schwerwiegenden, manchmal heimtückisch arrangierten Angriffen auf Personen entgleisen könne. Der Antragsteller sei latent gereizt im Sinne einer erhöhten Bereitschaft zu aggressiv getönten affektiven Ausbrüchen. Eine Krankheitseinsicht sei ihm nicht möglich. Es handele sich dabei ohne Zweifel um eine expansiv-paranoische Entwicklung im Sinne einer anhaltenden wahnhaften Störung (ICD-10 F22.8; zum Ganzen Bl. 92 ff., 106 ff., 307 ff. BA).
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Der Antragsteller war bis zum 10. März 2014 in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht und stand danach bis zum 13. März 2019 unter Führungsaufsicht (Bl. 173 BA).
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Mit Schreiben vom 7. Januar 2016 ordnete die Antragsgegnerin als Fahrerlaubnisbehörde daher zur Ausräumung der Zweifel an der Fahreignung des Antragstellers ein fachärztliches Gutachten an (Bl. 117 ff. BA).
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Daraufhin verzichtete der Antragsteller mit Erklärung vom 10. Mai 2016 freiwillig auf seine Fahrerlaubnis, nachdem er das angeforderte Gutachten nicht vorgelegt und die Antragsgegnerin daher die Entziehung der Fahrerlaubnis angekündigt hatte (Bl. 117, 129, 133, 170, 374 BA).
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Mit am 10. September 2021, am 27. April 2022 und am 27. Juli 2022 bei der Antragsgegnerin eingegangenen Schreiben stellte der Antragsteller einen Antrag auf Neuerteilung der Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen der Klasse B (Bl. 136, 160, 180 BA).
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Aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse forderte die Antragsgegnerin den Antragsteller mit Schreiben vom 2. November 2022 auf, ein Attest eines behandelnden Arztes bezüglich der bei ihm diagnostizierten Erkrankung vorzulegen (Bl. 323 BA).
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In dem daraufhin übersandten fachärztlichen Attest des ...-Klinikums vom 14. November 2022 des behandelnden Arztes der Psychiatrie Herrn Dr. … wurde die o.g. Diagnose bestätigt (Bl. 329 BA). Es sei eine dauerhafte Medikation in Form eines Depots, Abilify Maintaina 200 mg, 4 wöchentlich, erforderlich. Nach klinischem Eindruck sei der Antragsteller hierdurch nicht in seiner Fähigkeit, ein Kraftfahrzeug zu führen, beeinträchtigt. Es erscheine aber eine weitere Untersuchung durch einen verkehrsmedizinisch geschulten Facharzt erforderlich. In der ergänzenden ärztlichen Mitteilung des Herrn Dr. … vom 19. Dezember 2022 bekräftigte dieser, dass er selbst nicht verkehrsmedizinisch geschult sei und führte aus, dass der klinische Eindruck nicht eine eingehende verkehrsmedizinische Untersuchung ersetzen könne und daher zusätzlich ein verkehrsmedizinisch geschulter Facharzt konsultiert werden solle (Bl. 345 BA).
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Mit Schreiben vom 16. Januar 2023 wurde daher durch die Antragsgegnerin die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung angeordnet, für die eine Frist von drei Monaten gesetzt wurde (Bl. 354 ff. BA). Dabei sollten die Fragen beantwortet werden, ob bei dem Antragsteller eine psychische Erkrankung oder Beeinträchtigung vorliegt, die nach Nr. 7 der Anlage 4 der FeV die Fahreignung in Frage stellt und ob der Antragsteller in der Lage ist, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 gerecht zu werden. Zudem wurde die Frage gestellt, ob Nachuntersuchungen erforderlich sind, und falls ja, aus welchen Gründen und in welchen Abständen. Die Anordnung wurde auf § 11 Abs. 2 FeV gestützt: Die beim Antragsteller diagnostizierte Erkrankung und der Umstand, dass der behandelnde Arzt Herr Dr. … eine verkehrsmedizinische Untersuchung für erforderlich hielt, stellten Tatsachen i.S.d. § 11 Abs. 2 Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) dar, die auf eine Erkrankung nach Nr. 7 der Anlage 4 der FeV hinwiesen und somit Bedenken gegen die körperliche und geistige Fahreignung des Antragstellers begründeten. Die Anordnung des verkehrsmedizinischen Gutachtens sei geeignet und erforderlich, da mildere Mittel, namentlich die ärztlichen Stellungnahmen des Herrn Dr. …, keine hinreichende Aufklärung der Auswirkungen der Krankheit des Antragstellers auf die Verkehrssicherheit gebracht hätten. Sie sei auch angemessen, weil das Interesse an der allgemeinen Verkehrssicherheit das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Antragstellers hier überwiege. Die Begutachtungsanordnung erfolge daher nach pflichtgemäßem Ermessen. Die Antragsgegnerin wies auf die Folge des § 11 Abs. 8 FeV bei Verweigerung bzw. verfristeter Beibringung des Gutachtens (Berechtigung der Fahrerlaubnisbehörde zum Schluss auf die Fahruntauglichkeit) hin.
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Mit Schreiben vom 30. Januar 2023 nahm der Antragsteller zum Sachverhalt Stellung und beauftragte die ABV GmbH in M. mit seiner Begutachtung (Bl. 362 BA). Am 1. Februar 2023 wurde der entsprechende Begutachtungsauftrag an die vom Antragsteller ausgewählte Begutachtungsstelle weitergeleitet (Bl. 368 BA).
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Mit Schreiben vom 15. Februar 2023 erklärte der Antragsteller, dass er das Verwaltungsgericht entscheiden lassen wolle, da er die Kosten für die Begutachtung aus finanziellen Gründen nicht durchführen lassen könne (Bl. 378 f. BA).
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Nach erfolgter Anhörung des Antragstellers mit Schreiben vom 27. März 2023 (Bl. 397 ff. BA) lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Neuerteilung seiner Fahrerlaubnis mit Bescheid vom 10. Mai 2023, dem Antragsteller zugestellt am 13. Mai 2023, ab (Bl. 423 ff. BA). Der Antragsteller habe das nach § 11 Abs. 2 FeV rechtmäßig angeordnete verkehrsmedizinische Gutachten zur Ausräumung von Zweifeln an seiner Fahreignung aufgrund einer fahreignungserheblichen Erkrankung i.S.d. § 11 Abs. 1 Satz 2 FeV i.V.m. Nr. 7 der Anlage 4 der FeV nicht beigebracht. Die Antragsgegnerin könne daher nach § 11 Abs. 8 FeV von der Nichteignung des Antragstellers ausgehen.
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Der Antragsteller erhob am 25. Mai 2023 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München (M 19 K 23.2559). Gleichzeitig beantragte er sinngemäß,
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im Wege der einstweiligen Anordnung die Antragsgegnerin zu verpflichten, dem Antragsteller die Fahrerlaubnis der Klasse B zu erteilen und den Führerschein auszuhändigen.
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Des Weiteren beantragte der Antragsteller Prozesskostenhilfe.
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Er führt zur Begründung im Wesentlichen aus, die Antragsgegnerin hätte ihn unangemessen behandelt und stelle zu hohe Anforderungen an die Neuerteilung seiner Fahrerlaubnis. Insbesondere nehme sie immer wieder auf den Mordversuch vor 17 Jahren Bezug, obwohl es sich um eine psychische Ausnahmesituation gehandelt habe, da seine Frau überraschend gestorben sei. Er sei gesund und vor seinem Verzicht seit 35 Jahren beanstandungsfrei in Deutschland Auto gefahren. Die Ärzte hätten ihn alle falsch begutachtet. Die beantragte Fahrerlaubnis benötige er für seine Existenz und um wieder einen Beruf zu finden.
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Mit Schreiben vom 14. Juni 2023 beantragte die Antragsgegnerin,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung verweist sie im Wesentlichen auf die im Bescheid vom 10. Mai 2023 angegebenen Gründe. Akute psychische Krankheitserscheinungen – wie sie beim Antragsteller festgestellt worden seien – könnten das Realitätsurteil eines Menschen in so erheblichem Umfang beeinträchtigen, dass selbst die Einschätzung normaler Verkehrssituationen gestört und Situationen wahnhaft fehlgedeutet werden. Auch die körperliche Leistungsfähigkeit könne beeinträchtigt sein. Die Anordnung des ärztlichen Gutachtens sei daher erforderlich gewesen.
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Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakten in beiden Verfahren Bezug genommen.
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A. Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in Form einer sog. Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO mit dem Ziel der vorläufigen Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Erteilung einer Fahrerlaubnis der Klasse B mit Unterklassen ist unbegründet und hat daher keinen Erfolg.
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Eine einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO darf nur ergehen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Der Antragsteller hat sowohl die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung, den sog. Anordnungsgrund, als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts, den sog. Anordnungsanspruch, glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
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Auch wenn diese Voraussetzungen zum maßgeblichen Zeitpunkt, das ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, vorlägen, ist es dem Gericht regelmäßig verwehrt, mit seiner Entscheidung die Hauptsache vorwegzunehmen. Denn es würde dem Wesen und dem Zweck einer einstweiligen Anordnung widersprechen, wenn dem Antragsteller in vollem Umfang das gewährt würde, was er nur in einem Hauptsacheprozess erreichen kann. Allerdings gilt im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Gebot eines effektiven Rechtsschutzes das grundsätzliche Verbot einer Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung dann nicht, wenn eine bestimmte Regelung zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) schlechterdings notwendig ist, d.h. wenn die Ablehnung der begehrten Entscheidung für den Antragsteller mit unzumutbaren Nachteilen verbunden wäre und mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem Obsiegen in der Hauptsache auszugehen ist.
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Vorliegend sind diese Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht gegeben.
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1. Es fehlt bereits an einer schlüssigen Darlegung und erst recht an einer Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Nachteile, die für den Antragsteller entstehen, wenn er den regulären Rechtsweg durchläuft, so gravierend sind, dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung geboten ist, um dem grundgesetzlichen Gebot effektiven Rechtsschutzes nachzukommen.
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Unzumutbare Nachteile in beruflicher Hinsicht, die mit der Ablehnung der begehrten Entscheidung verbunden wären, vermag das Gericht nicht zu erkennen. Die bloße Behauptung des Antragstellers, er brauche die Fahrerlaubnis für seinen Beruf und seine Existenz, ist mangels näherer Ausführungen viel zu vage. Im Übrigen wäre selbst der Umstand, dass der Antragsteller nicht mit dem Kraftfahrzeug zu seiner Arbeitsstätte fahren könnte, nur ein Nachteil, der beim Fehlen einer Fahrerlaubnis typischerweise eintritt. Eine Sondersituation, die zu unzumutbaren, nicht mehr reparablen Folgen führen wird, wäre auch hierin nicht zu sehen. Dass der Antragsteller nur dann irgendeinen Arbeitsplatz erhalten könnte, wenn er im Besitz einer Fahrerlaubnis ist, hat er nicht ansatzweise dargelegt und erst recht nicht nachgewiesen.
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Es ist daher nicht glaubhaft, dass allein die sofortige vorläufige Erteilung einer Fahrerlaubnis zur Vermeidung schwerer, nicht hinnehmbarer Nachteile erforderlich ist.
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2. Der Antragsteller hat darüber hinaus keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Nach der im Verfahren gem. § 123 VwGO gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage steht dem Antragsteller ohne vorhergehende Beibringung eines verkehrsmedizinischen Gutachtens ein Anspruch auf Neuerteilung einer Fahrerlaubnis der Klasse B mit Unterklassen nach § 2 Abs. 2 StVG nicht zu, sodass sich die Ablehnung des Antrags auf Neuerteilung als rechtmäßig erweist. Die Hauptsacheklage im Verfahren M 19 K 23.2559 wird mit überwiegender Wahrscheinlichkeit keine Aussicht auf Erfolg haben. Insbesondere ist die mit Schreiben vom 16. Januar 2023 ergangene Gutachtensaufforderung rechtlich nicht zu beanstanden.
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2.1 Die Voraussetzungen für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis bzw. für die Zulassung zur Fahrprüfung nach vorangegangenem Entzug der Fahrerlaubnis entsprechen gemäß § 20 Abs. 1 der FeV denen einer Ersterteilung. Diese setzt nach § 2 Abs. 2 Nr. 3 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) u.a. voraus, dass der Bewerber zum Führen von Kraftfahrzeugen „geeignet“ ist. Geeignet in diesem Sinne ist nach § 2 Abs. 4 StVG, wer die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt. Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 FeV erfüllt ein Bewerber diese Anforderungen insbesondere dann nicht, wenn eine Erkrankung oder ein Mangel nach der Anlage 4 der FeV vorliegt, der die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausschließt.
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Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung begründen, kann die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Erteilung der Fahrerlaubnis die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens durch den Bewerber anordnen (§ 11 Abs. 2 Satz 1 FeV). Die Behörde darf in diesem Fall also aufklären, ob Erkrankungen i.S.d. Anlage 4 der FeV vorliegen, welche einen Anspruch auf Erteilung einer Fahrerlaubnis ausschließen. Bringt der Bewerber ein nach diesen Grundsätzen rechtmäßig angefordertes ärztliches Gutachten nicht oder nicht fristgerecht bei, darf die Behörde auf die Nichteignung des Bewerbers schließen (§ 11 Abs. 8 FeV), sodass ein Anspruch auf Erteilung einer Fahrerlaubnis ausscheidet.
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2.2 So liegt der Fall hier. Die Voraussetzungen des §§ 11 Abs. 2 i.V.m. Abs. 8 FeV sind vorliegend gegeben, sodass die Anforderungen für einen Anspruch auf Neuerteilung der Fahrerlaubnis nach § 2 Abs. 3 FeV nicht erfüllt sind.
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2.2.1 Die Gutachtensanordnung vom 16. Januar 2023 erging rechtmäßig nach § 11 Abs. 2 FeV.
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(1) Der Antragsgegnerin wurden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung begründen. Denn es lagen aufgrund der medizinisch diagnostizierten psychischen Erkrankung des Antragstellers, der Anordnung einer mehrjährigen Unterbringung aus psychischen Gründen durch das Strafurteil aus dem Jahr 2008 und der aktuellen Atteste vom 14. November 2022 und 19. Dezember 2022 des behandelnden Arzts der Psychiatrie Herr Dr. …, Tatsachen vor, die auf eine Erkrankung i.S.d. Nr. 7 der Anlage 4 der FeV (psychische Störungen, u.a. affektive Psychosen nach Nr. 7.5) hinwiesen.
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Nach der übereinstimmenden Einschätzung des Gutachtens des psychiatrischen Sachverständigen Dr. Dr. … vom 30. November 2006 sowie der sachverständigen Zeugen in dem gegen den Antragsteller geführten Strafprozess (Az. * … … … …*) leidet der Antragsteller an einer anhaltenden wahnhaften Störung im Sinne einer expansiv-paranoischen Entwicklung (ICD-10 F22.8). Die daraus von der Antragsgegnerin gezogenen Fahreignungszweifel werden vom Gericht nicht in Abrede gestellt. Bedenken gegen das Ergebnis der ärztlichen Bewertungen, die angewandte Methodik und die den Stellungnahmen zugrunde gelegten Sachverhalte bestehen nicht. Sie werden auch nicht durch das Vorbringen des Antragstellers, das sich auf die Behauptung charakterlicher Schwächen der Gutachter beschränkt, hervorgerufen. Anhaltspunkte für Widersprüchlichkeiten oder Fehler bei der Begutachtung bestehen nicht. Insbesondere das umfangreiche Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen Dr. Dr. …, der über eine langjährige forensisch-psychiatrische Erfahrung verfügt und eine spezifisch psychiatrisch-neurologische Ausbildung absolviert hat und auf das sich das Landgericht München I bei seinem Urteil aus dem Jahr 2008 maßgeblich stützte, ist methodisch und im Ergebnis nachvollziehbar. Es befasst sich intensiv mit zahlreichen Äußerungen des Antragstellers. Diesen ist zu entnehmen, dass der Antragsteller wiederholt, unbeirrt und mit großer Tragweite irrationale Fehlbeurteilungen vornimmt und sich bei ihm über die Zeit eine systematische Wahnbildung in der Form entwickelt hat, dass er in objektiv keinesfalls nachvollziehbarer Weise von einer Bedrohung seiner Person durch den deutschen Staat in immer neuen Tarnungen ausgeht.
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Anhaltspunkte dafür, dass sich der gesundheitliche Zustand des Antragstellers mittlerweile verbessert hat, sind von diesem weder substantiiert dargelegt noch sonst in der bei Eilverfahren gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung ersichtlich. Im Gegenteil hält der Antragsteller in seinen Schriftsätzen nach wie vor daran fest, er sei gesund und die Diagnose seiner psychischen Erkrankung sei von allen Ärzten zu Unrecht gestellt worden. Die fachärztlichen Atteste des behandelnden Arztes der Psychiatrie Herrn Dr. … vom 14. November 2022 und 19. Dezember 2022 haben die o.g. Diagnose bestätigt. Hiernach ist eine dauerhafte Medikation in Form eines Depots, Abilify Maintaina 200 mg, 4 wöchentlich, erforderlich. Zwar geht das Attest aus klinischer Sicht vor diesem Hintergrund nicht von einer Beeinträchtigung der Fahreignung des Antragstellers durch seine psychische Erkrankung aus. Jedoch wird in diesen eine weitere Untersuchung durch einen verkehrsmedizinisch geschulten Facharzt empfohlen, da eine solche Untersuchung – insbesondere eines möglichen negativen Einflusses auf die körperliche Leistungsfähigkeit – durch die klinische Bewertung nicht ersetzt werden kann.
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(2) Auch im Hinblick auf die in der Begutachtungsanordnung der Antragsgegnerin gestellten Fragen bestehen keine Bedenken.
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(3) Hinsichtlich der infolgedessen erfolgten Anordnung zur Beibringung eines ärztlichen Gutachtens bei einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung (§ 11 Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 Nr. 1 FeV) hat die Antragsgegnerin ihr Ermessen nach Aktenlage fehlerfrei ausgeübt.
38
Die Anordnung ist geeignet, die bestehenden Fahreignungszweifel zu beseitigen. Sie ist auch erforderlich, da mildere gleich effektive Mittel nicht ersichtlich sind. Die ärztlichen Atteste des Herrn Dr. … konnten keine abschließende Aufklärung der Auswirkungen der Krankheit des Antragstellers auf die Verkehrssicherheit bringen. Hierbei ist zu beachten, dass § 11 FeV durch seine abgestufte Vorgehensweise bereits für sich genommen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung trägt. Die Anordnung ist nach summarischer Prüfung auch angemessen, weil das Interesse an der allgemeinen Verkehrssicherheit das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Antragstellers im konkreten Fall überwiegt. Durch akute psychische Krankheiten kann das Realitätsurteil eines Menschen in so erheblichem Umfang beeinträchtigt werden, dass selbst die Einschätzung normaler Verkehrssituationen gestört wird. Bei dem diagnostizierten Krankheitsbild des Antragstellers kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass dieser sich gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern aggressiv verhält und dass seine körperliche Leistungs- und Reaktionsfähigkeit – möglicherweise auch durch die Einnahme der verschriebenen Medikamente – herabgesetzt ist.
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2.2.2 Die Voraussetzungen des § 11 Abs. 8 FeV sind ebenfalls erfüllt. Der Antragsteller hat das rechtmäßig angeordnete ärztliche Gutachten nicht innerhalb der gesetzten dreimonatigen Frist beigebracht, obwohl er auf die Folgen des § 11 Abs. 8 FeV in der Anordnung hingewiesen worden ist. Die Antragsgegnerin durfte daher ohne weitere Prüfung von der Fahruntauglichkeit des Antragstellers ausgehen und seinen Antrag auf Neuerteilung der Fahrerlaubnis ablehnen.
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2.2.3 Somit fehlt es nicht nur an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrunds, sondern auch an einem Anordnungsanspruch.
41
2.3 Erst recht fehlt es damit an der für eine Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen in der Hauptsache.
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Der Antrag nach § 123 VwGO war daher abzulehnen.
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B. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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C. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG) i.V.m. den Empfehlungen in den Nrn. 1.5 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (http://www.bverwg.de/medien/pdf/streitwertkatalog.pdf).
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D. Die Entscheidung über die Verbindung der Verfahren M 19 K 23.2559 und M 19 E 23.2560 hinsichtlich der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe beruht auf § 93 Satz 1 VwGO analog.
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E. Die Anträge auf Gewährung von Prozesskostenhilfe haben ebenfalls keinen Erfolg.
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Nach § 166 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
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In den streitgegenständlichen Verfahren waren die Anträge auf Prozesskostenhilfe abzulehnen, da der Antrag nach § 123 VwGO unbegründet ist und auch die Hauptsacheklage voraussichtlich keinen Erfolg haben wird. Somit bietet die Rechtsverfolgung durch den Antragsteller in beiden Verfahren nicht die als Voraussetzung für einen erfolgreichen Antrag auf Prozesskostenhilfe zu fordernden hinreichenden Erfolgsaussichten.
49
Die Entscheidung über die Prozesskostenhilfe ergeht kostenfrei; Auslagen werden nicht erstattet.