Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 11.12.2023 – Au 9 K 23.1309
Titel:

Unzulässige Widerklage und Sitzverlegung einer Kapitalgesellschaft

Normenketten:
VwGO § 52 Nr. 3, § 58 Abs. 1, § 74 Abs. 1, § 89, § 90
PflBG § 26 Abs. 4, Abs. 6, § 32, § 33
GVG § 17 Abs. 1 S. 2
BayVwVfG Art. 41 Abs. 2
Leitsätze:
1. Ist bereits eine Zahlungsklage eines Beliehenen gegen den (vermeintlichen) Schuldner rechtshängig, erfüllt eine Widerklage auf Aufhebung des die Geldforderung begründenden Verwaltungsakts nicht die Voraussetzungen des § 89 VwGO und ist wegen doppelter Rechtshängigkeit unzulässig. (Rn. 15 und 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Verlegung des Sitzes einer Kapitalgesellschaft entfaltet als  eintragungspflichtige Tatsache vor der Eintragung in das Handelsregister keine rechtliche Wirkung, so dass eine erst nach Eintritt der Bestandskraft eines Verwaltungsakts eingetragene Sitzverlegung die Rechtsmittelbelehrung nicht unrichtig machen kann. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Widerklage, Klagefrist, Rechtsmittelbelehrung, Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts, Sitzverlegung einer Kapitalgesellschaft als eintragungspflichtige Tatsache, örtliche Zuständigkeit, Sitzverlegung, Kapitalgesellschaft
Fundstelle:
BeckRS 2023, 41425

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.  

Tatbestand

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Die Klägerin wendet sich gegen einen Zahlungsbescheid nach dem Pflegeberufegesetz für das Finanzierungs- und Abrechnungsjahr 2022.
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Die Klägerin betrieb im streitgegenständlichen Finanzierungs- und Abrechnungszeitraum in, E.straße, eine Pflegeeinrichtung im Sinne des § 33 Pflegeberufegesetz (PflBG). Am 19. Februar 2022 wurde der Betrieb der Einrichtung eingestellt.
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Ausweislich des Handelsregisterauszugs des Amtsgerichts . wurde in der Gesellschafterversammlung der Klägerin vom 17. Dezember 2021 die Änderung der Satzung bezüglich des Firmennamens und des Sitzes (bisher, nun .) beschlossen. Die Änderung des Firmensitzes wurde am 28. Februar 2022 in das Handelsregister beim Amtsgericht . eingetragen.
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Die Beklagte nimmt staatliche Aufgaben nach dem Pflegeberufegesetz wahr und tritt im Außenverhältnis als zuständige Stelle zur Verwaltung des Ausgleichsfonds nach dem Pflegeberufegesetz auf. Sie wurde mit öffentlich-rechtlichem Vertrag vom 8. Oktober 2018 durch den Freistaat Bayern, vertreten durch das Bayerische Staatsministerium, als zuständige Stelle im Sinne des § 26 Abs. 4 i.V.m. Abs. 6 Satz 3 PflBG beliehen. Ihre Aufgaben sind unter anderem nach § 32 PflBG die Ermittlung des erforderlichen Finanzierungsbedarfs für die Pflegeausbildung und die Erhebung der Umlagebeträge bei den Einrichtungen.
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Mit Festsetzungs- und Zahlungsbescheid vom 11. Mai 2020 wurde für die von der Beklagten betriebene Einrichtung in der E.straße,, für das Finanzierungsjahr 2020 ein Einzahlungsbetrag nach dem Pflegeberufegesetz in Höhe von insgesamt 18.671,39 EUR und für das Finanzierungsjahr 2021 mit Festsetzungs- und Zahlungsbescheid vom 30. Oktober 2020 von insgesamt 67.983,57 EUR festgesetzt.
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Mit weiterem Festsetzungs- und Zahlungsbescheid vom 29. Oktober 2021 für das Finanzierungsjahr 2022 wurde zunächst ein Einzahlungsbetrag in Höhe von insgesamt 111.294,96 EUR festgesetzt. In der Rechtsbehelfsbelehrungdieses Bescheids wurde das Verwaltungsgericht München als das örtlich zuständige Rechtsmittelgericht genannt. Nachdem die Klägerin den Betrieb der Einrichtung zum 19. Februar 2022 eingestellt hatte, wurde der Einzahlungsbetrag für das Finanzierungsjahr 2022 mit Bescheid vom 23. Juni 2022 auf 18.549,16 EUR reduziert.
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Nachdem keine Zahlungen geleistet wurden, erhob die Beklagte am 1. September 2022 gegen die Klägerin Klage beim Landgericht . auf Zahlung von insgesamt 114.239,08 EUR aus den Bescheiden vom 11. Mai 2020, vom 30. Oktober 2020 und vom 29. Oktober 2021. Mit Beschluss vom 22. September 2022 wurde der Rechtsstreit durch das Landgericht . an das Verwaltungsgericht Augsburg als das zuständige Gericht abgegeben und wird dort unter dem Aktenzeichen Au 9 K 22.1903 geführt.
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Die Klägerin erhob mit Schriftsatz vom 7. November 2022 zu der unter dem Aktenzeichen Au 9 K 22.1903 geführten Klage Widerklage mit dem Antrag,
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den Bescheid vom 29. Oktober 2021 aufzuheben.
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Es wird ausgeführt, der Bescheid vom 29. Oktober 2021 sei noch nicht bestandskräftig, da die Rechtsmittelbelehrungdes Bescheids fehlerhaft sei. Zum einen liege ein Verstoß gegen das Schriftformerfordernis vor, zum anderen sei das falsche örtlich zuständige Gericht benannt worden, da sich der Sitz Beklagten in . befinde. Die Rechtsmittelfrist laufe daher erst ein Jahr nach Zustellung des Bescheids ab. Darüber hinaus sei der von der Klägerin festgesetzte Betrag für das Jahr 2022 zu hoch angesetzt worden, da die Klägerin den Differenzbetrag aus der Abrechnung der Umlagebeträge des Finanzierungsjahrs 2020 zu Unrecht auf null Euro festgesetzt habe.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen
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und bezieht sich auf ihre im Verfahren Au 9 K 22.1903 gemachten Rechtsausführungen.
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Bezüglich des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der Einzelheiten im Übrigen wird auf die in der Gerichtsakte vorliegenden Unterlagen sowie auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung verwiesen. Ebenfalls Bezug genommen wird auf das zwischen den Beteiligten geführte Klageverfahren Au 9 K 22.1903, das gemeinsam mit dem vorliegenden Verfahren am 11. Dezember 2023 verhandelt wurde.

Entscheidungsgründe

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1. Da die von der Klägerin erhobene Klage nicht die Voraussetzungen einer Widerklage nach § 89 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) erfüllt, war über diese Klage im Rahmen eines eigenständigen Klageverfahrens zu entscheiden.
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Nach § 89 VwGO kann bei dem Gericht, bei dem bereits eine Klage anhängig ist, Widerklage erhoben werden, wenn der Gegenanspruch mit dem in der bereits erhobenen Klage geltend gemachten Anspruch oder mit den gegen ihn vorgebrachten Verteidigungsmitteln zusammenhängt. Liegen die Voraussetzungen für die Widerklage vor, so erlaubt § 89 VwGO ihre Erhebung vor dem Gericht der Klage und ihre Verbindung mit der Klage in einem einheitlichen Verfahren. Die Widerklage soll dem Widerkläger unter bestimmten Voraussetzungen die Geltendmachung eines selbstständigen prozessualen Gegenanspruchs in einem bereits rechtshängigen Verfahren bei dem für die Widerklage gegebenenfalls nicht zuständigen Gericht ermöglichen. Ihre Funktion liegt in der Prozessökonomie des gemeinsamen Verhandelns und Entscheidens zweier selbstständiger Streitsachen (Riese in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, 44. EL März 2023, § 89 VwGO Rn. 2a). Neben der Rechtshängigkeit der (Haupt-)klage muss die Widerklage einen eigenen Streitgegenstand aufweisen; der bloßen Verneinung des Klageanspruchs steht schon dessen Rechtshängigkeit entgegen. Liegen die Voraussetzungen einer Widerklage nicht vor, ist diese aber nicht etwa als unzulässig abzuweisen. Das Gericht kann die Widerklage abtrennen und darüber gesondert entscheiden. Der Gerichtsstand bleibt jedoch erhalten (Bader/Stuhlfauth, VwGO, § 83 VwGO/§ 17 Abs. 1 GVG Rn. 1; Wöckel in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 89 Rn. 14).
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Vorliegend fehlt es gegenüber der Hauptklage an einem eigenständigen Streitgegenstand. Die Hauptklage (Verfahren Au 9 K 22.1903) ging am 28. September 2022 beim Verwaltungsgericht Augsburg ein. In diesem Verfahren macht die hier Widerbeklagte als Klagepartei einen Zahlungsanspruch aus den Festsetzungs- und Zahlungsbescheiden vom 11. Mai 2020, vom 30. Oktober 2020 und vom 29. Oktober 2021 geltend. Mit der Widerklage beruft sich die Klägerin darauf, dass der Bescheid vom 29. Oktober 2021 noch nicht bestandskräftig ist, und begehrt dessen Aufhebung. Damit macht sie aber keinen selbstständigen prozessualen Gegenanspruch geltend, sondern wendet sich lediglich gegen den von der Klägerin des Verfahrens Au 9 K 22.1903 geltend gemachten Anspruch.
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Da die Voraussetzungen einer Widerklage somit nicht vorliegen, war die am 7. November 2022 erhobene Widerklage als eigenständiges Klageverfahren zu behandeln.
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2. Die Klage ist jedoch unzulässig, da ihr der Einwand der entgegenstehenden Rechtshängigkeit entgegensteht (§ 90 VwGO i.V.m. § 17 Abs. 1 Satz 2 Gerichtsverfassungsgesetz – GVG).
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Die Klägerin wendet sich mit ihrer am 7. November 2022 erhobenen Klage gegen den Zahlungs- und Festsetzungsbescheid vom 29. Oktober 2021. Dieser Bescheid ist jedoch bereits Gegenstand der seit dem 28. September 2022 beim Verwaltungsgericht Augsburg anhängigen Zahlungsklage der Beklagten gegen die Klägerin (Az. Au 9 K 22.1903). In diesem Verfahren wird somit bereits gerichtlich überprüft, ob der Zahlungsanspruch aus dem Bescheid vom 29. Oktober 2021 gegenüber der Klägerin besteht. Für ein weiteres gerichtliches Verfahren ist somit kein Raum mehr, da § 17 Abs. 1 Satz 2 GVG verbietet, die Streitsache während der Rechtshängigkeit des Anspruchs anderweitig anhängig zu machen. Hiermit sollen doppelte Prozesse und somit gegebenenfalls divergierende Entscheidungen vermieden werden.
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3. Darüber hinaus wurde die Klage nicht innerhalb der nach § 74 Abs. 1 VwGO zu beachtenden Klagefrist erhoben. Der Festsetzungs- und Zahlungsbescheid vom 29. Oktober 2021 war bei Klageerhebung am 7. November 2022 bereits bestandskräftig.
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a) Der Bescheid wurde nach Auskunft der Beklagten am 29. Oktober 2021 zur Post gegeben, so dass der Bescheid nach der Bekanntgabefiktion in Art. 41 Abs. 2 BayVwVfG am dritten Tag nach der Aufgabe, d.h. hier am 1. November 2021, als bekanntgegeben gilt. Unschädlich für den Eintritt der Bekanntgabefiktion ist, ob es sich bei dem dritten Tag um einen Sonntag, Samstag oder Feiertag handelt (Tegethoff in Ramsauer/Kopp, VwVfG, 24. Aufl. 2023, § 41 Rn. 39b).
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b) Der Bescheid vom 29. Oktober 2021 wurde von der Klägerin nicht innerhalb der nach § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO geltenden Monatsfrist angefochten, so dass er nach § 57 VwGO, § 222 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO), §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) mit Ablauf des 1. Dezember 2021 bestandskräftig wurde. Die am 7. November 2022 erhobene Klage ist daher verfristet und somit unzulässig.
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Entgegen der Auffassung der Beklagten gilt vorliegend nicht die Jahresfrist nach § 58 Abs. 2 VwGO. Nach § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO muss die Anfechtungsklage innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts erhoben werden. Die Frist für ein Rechtsmittel beginnt allerdings nur zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsbehörde oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich oder elektronisch belehrt worden ist (§ 58 Abs. 1 VwGO). Das ist hier der Fall, weil die dem Bescheid beigefügte Rechtsmittelbelehrungzutreffend das Verwaltungsgericht München als das örtlich zuständige Rechtsmittelgericht auswies.
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Da die Beklagte bayernweit als zuständige Stelle im Sinne des § 26 Abs. 4 i.V.m. Abs. 6 Satz 3 PflBG beliehen wurde, greift die Regelung in § 52 Nr. 3 Satz 2 VwGO, wonach sich die örtliche Zuständigkeit des Rechtsmittelgerichts nach dem Sitz der Klägerin richtet. Erstreckt sich die Zuständigkeit einer Behörde auf mehrere Verwaltungsgerichtsbezirke, so ist für eine Anfechtungsklage das Verwaltungsgericht zuständig, in dessen Bezirk der Beschwerte (hier: die Klägerin) seinen Sitz hat. Der Sitz der Klägerin war nach dem Auszug aus dem Handelsregister bei Bescheiderlass in der Gemeinde, Regierungsbezirk Oberbayern. Die dem Bescheid beigefügte Rechtsmittelbelehrungwies daher zutreffend das Verwaltungsgericht München als das örtlich zuständige Rechtsmittelgericht aus, da dieses nach Art. 1 Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes zur Ausführung der Verwaltungsgerichtordnung (AGVwGO) das für den Regierungsbezirk Oberbayern zuständige Verwaltungsgericht ist. Die Klägerin verlegte zwar in der Folgezeit ihren Sitz nach ... Als GmbH ist sie jedoch eine Kapitalgesellschaft, so dass eine Verlegung ihres Sitzes als eine nach § 13h HGB i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 1 und § 54 Abs. 3 GmbHG eintragungspflichtige Tatsache vor der Eintragung in das Handelsregister keine rechtliche Wirkung entfaltet. Die Eintragung der Verlegung des Sitzes erfolgte jedoch erst am 28. Februar 2022 und somit nach Eintritt der Bestandskraft zum 1. Dezember 2021.
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4. Die Kosten des Verfahrens waren nach § 154 VwGO der Klägerin als der unterlegenen Partei aufzuerlegen. Der Ausspruch der vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.