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OLG München, Endurteil v. 25.01.2024 – 24 U 2058/22
Titel:

Behandlungsfehler durch fehlerhafte Befundung einer nicht zwingend erforderlichen diagnostischen Maßnahme 

Normenkette:
BGB § 630a Abs. 2, § 630h Abs. 5
Leitsätze:
1. Ein ärztlicher Behandlungsfehler kann auch an die fehlerhafte Befundung einer diagnostischen Maßnahme angeknüpft werden, deren Vornahme nach dem medizinischen Standard nicht zwingend erforderlich gewesen wäre (hier: CTG). (Rn. 22)
2. Zur Abgrenzung eines Befunderhebungsfehlers von einem Diagnoseirrtum. (Rn. 25)
3. Beruht das Unterlassen der Erhebung weiterer Befunde darauf, dass der Arzt vorliegende Befunde falsch bewertet hat (Diagnoseirrtum), so ist die Bewertung des Unterlassens als eigenständiger Befunderhebungsfehler jedenfalls dann nicht ausgeschlossen, wenn der zugrunde liegende Diagnoseirrtum fundamental, also grob behandlungsfehlerhaft war; der fundamentale Diagnoseirrtum entfaltet keine Sperrwirkung mit Blick auf die Annahme eines Befunderhebungsfehlers. (Rn. 29)
1. Auch wenn ein CTG geschrieben wird, was medizinisch nicht verlangt war, entbindet dies den Arzt nicht von der Verpflichtung, es nach den Regeln der Kunst zu befunden, da das Wohl des Patienten oberstes Gebot und Richtschnur jeden ärztlichen Handelns ist. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Mit Blick auf schwerste Gefahren für die Gesundheit eines ungeborenen Kindes muss einem pathologischen CTG-Befund selbstverständlich auch dann nachgegangen werden, wenn lediglich mit einer Wahrscheinlichkeit von 20% damit zu rechnen ist, dass dem Untersuchungsbefund auch tatsächlich eine Pathologie zugrunde liegt. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein Befunderhebungsfehler ist gegeben, wenn die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen wird. Im Unterschied dazu liegt ein Diagnoseirrtum vor, wenn der Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiert und deshalb nicht die aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs gebotenen – therapeutischen oder diagnostischen – Maßnahmen ergreift. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
4. Es liegt ein Diagnoseirrtum vor, wenn der Schwerpunkt auf der Verkennung des zu diagnostischen Zwecken angefertigten Materials liegt und nicht im Unterlassen weiterer Befunderhebungen in Kenntnis dieses Materials. (Rn. 26 – 28) (redaktioneller Leitsatz)
5. Ein Diagnoseirrtum ist nicht stets als Behandlungsfehler zu werten. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
6. Ein sog. fundamentaler Diagnoseirrtum ist als grober Behandlungsfehler einzustufen. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
7. Die Unterlassung einer aus medizinischer Sicht gebotenen Befunderhebung stellt einen groben ärztlichen Fehler dar, der zur Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität für die eingetretene Schädigung führt. (Rn. 43) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Klassifizierung eines CTG, Befunderhebungsfehler, Diagnoseirrtum, grober Behandlungsfehler, Beweislastumkehr, ärztlicher Standard
Vorinstanz:
LG Kempten, Teil- und Grundurteil vom 10.03.2022 – 33 O 545/14
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe vom -- – VI ZR 66/24
Fundstellen:
FDMedizinR 2024, 940918
BeckRS 2023, 40918
MedR 2024, 813

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Teil- und Grundurteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 10.03.2022, Az. 33 O 545/14, wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Dieses Urteil ist ebenso wie das in Nr. 1 genannte Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch die Klägerinnen wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerinnen vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

Entscheidungsgründe

I.
1
Die Klägerinnen machen als gesetzliche Kranken- bzw. Pflegeversicherung aus übergegangenem Recht Schadensersatzansprüche gegen die beklagte Gynäkologin für Aufwendungen geltend, welche die Klägerinnen für das am ...2005 schwerst geschädigt zur Welt gekommene Kind A. E. M. erbracht haben.
2
Dessen Mutter, die Zeugin A. M., wurde während der Schwangerschaft von der Beklagten als Gynäkologin betreut; errechneter Geburtstermin war der 09.06.2005. Bis zum 24.05.2005 war die medizinische Betreuung nach allseitiger Auffassung nicht zu beanstanden.
3
Am 24.05.2005 war Frau M. zur Untersuchung bei der Beklagten, in deren Praxis über einen Zeitraum von 20 Minuten ein CTG aufgezeichnet wurde. Die Klassifizierung und Bewertung dieses CTG und das weitere Vorgehen der Beklagten bilden den Schwerpunkt des Verfahrens.
4
Die Klägerinnen haben hierzu mit der Klage zwei Privatgutachten (Anlagen K 1 und K 2) vorgelegt.
5
Dr. Be. (D.) kommt in seinem Gutachten vom 09.11.2010 (Anlage K 1) zu der Einschätzung, das CTG vom 24.05.2005 habe einen gänzlich anderen Befund ergeben als die früheren CTGs. Es sei ein saltatorischer Verlauf mit Herzfrequenzwechseln zwischen 180 und 110 Schlägen pro Minute ohne Wehentätigkeit zu erkennen, woraus sich zwar kein unmittelbarer Hinweis auf eine Sauerstoffunterversorgung des Kindes, wohl aber ein Hinweis auf eine Nabelschnurkompression ergebe. Dies hätte weitere Kontrollen noch am gleichen, spätestens am nächsten Tag erforderlich gemacht. Deren Unterlassen stelle einen grundlegenden Verstoß gegen elementare Regeln fetaler Überwachung dar.
6
Professor Dr. Ko. (R.) kommt in seiner Stellungnahme vom 07.05.2012 (Anlage K 2) zu der Einschätzung, das CTG zeige zweifelsfrei von der Basalfrequenz zuzüglich Bandbreite sicher unterscheidbare Akzelerationen und Dezelerationen, deren Auslöser Nabelschnurkompressionen seien; die im Mutterpass dokumentierte Bewertung des CTG mit dem Maximalwert „10“ des „Fischer-Scores“ sei „natürlich falsch“. Aus seiner Sicht wäre es am besten gewesen, bei diesem Befund die Geburt einzuleiten; jedenfalls hätte die Mutter über die mit den Nabelschnurkompressionen einhergehenden Gefahren aufgeklärt und zur Überwachung in die Klinik überwiesen werden müssen.
7
Das Landgericht hat ein Gutachten (Bl. 83/118 d. A.) und zwei Ergänzungsgutachten (Bl. 138/155 und Bl. 253/269 d. A.) der Sachverständigen Professor Dr. Be. / Professor Dr. Ke. (E.) erholt und den Sachverständigen Professor Dr. Ke. in der mündlichen Verhandlung vom 08.02.2018 (Protokoll Bl. 187/197 d. A.) einvernommen. Die vom Landgericht bestellten Sachverständigen vertreten die Auffassung, das CTG sei nach auch in der einschlägigen AWMF-Leitlinie zu findenden Kriterien suspekt, da sich darin ein durch eine Bandbreite von mehr als 25 Schlägen pro Minute gekennzeichneter saltatorischer Oszillationstyp zeige. Es sei unverständlich, dass das CTG in einer Phase, in der es Auffälligkeiten zeigte, gestoppt wurde. Auch sei eine Aufzeichnungsdauer von 20 Minuten (statt mindestens 30 Minuten) ohnehin unzureichend. Das auffällige Muster hätte durch konservative Maßnahmen geklärt werden müssen. Dass dies unterblieben sei, sei ein Fehler, der einem Behandelnden schlechterdings nicht unterlaufen dürfe.
8
Die Beklagte hat in Reaktion auf das Gutachten, das erste Ergänzungsgutachten und die Ausführungen des Sachverständigen Professor Dr. Ke. in der mündlichen Verhandlung vom 08.02.2018 ein Gutachten des Gynäkologen Professor Dr. Ma. (W.) vom 12.12.2018 (Anlage zum Schriftsatz vom 24.01.2019, Bl. 221 f. d. A.) vorgelegt, worauf die Klägerinnen mit Vorlage eines Gutachtens des Gynäkologen Professor Dr. Sch (M.) vom 22.02.2019 (Anlage zum Schriftsatz vom 22.03.2019, Bl. 226/237 d. A.) reagierten. Wiederum in Reaktion hierauf legte die Beklagte eine weitere Stellungnahme des Professors Dr. M. vom 12.04.2019 (Anlage zum Schriftsatz vom 17.04.2019, Bl. 239 f. d. A.) vor. Nach den Ausführungen des Professors Dr. Ma. hat das CTG vom 24.05.2005 einen Normalbefund ohne weiteren Handlungsbedarf ergeben; es habe zu keiner Zeit ein saltatorischer Oszillationstyp vorgelegen.
9
In den Tagen nach dem 24.05.2005 stellte die Schwangere fest, dass die Kindsbewegungen weniger wurden, was sie auf den näher rückenden Geburtstermin zurückführte. Am 31.05.2005 stellte sie sich erneut bei der Beklagten vor. Die Arzthelferin Sch. legte (über einen Zeitaum von 25 Minuten) ein CTG an. Es kam zu Alarmtönen; die Arzthelferin legte mehrfach an und suchte die Herztöne des Kindes. Alle Beteiligten einschließlich der Sachverständigen stimmen darin überein, dass dieses CTG eine hochpathologische Situation des Kindes anzeigte. Nach Einschätzung der gerichtlich bestellten Sachverständigen hätte spätestens 14 Minuten nach Anlegen die Beklagte hinzugerufen und der Notarzt informiert werden müssen. Der Rettungsdienst sei 15 bis 20 Minuten zu spät informiert worden. Es sei noch unnötigerweise nach fetalen Herztönen gesucht worden. Der lange Zeitraum bis zur Alarmierung des Notarztes sei unerklärlich; es liege ein grober Behandlungsfehler vor.
10
Das Kind wurde am ...2005 um 12:48 Uhr per Notkaiserschnitt entbunden. Es lag eine schwere Asphyxie mit Hydrops fetalis vor. Das Kind ist schwerst geschädigt.
11
Mit Teil- und Grundurteil vom 10.03.2022 (Bl. 376/392 d. A.), dem Beklagtenvertreter zugestellt am 11.03.2022, hat das Landgericht die Verpflichtung der Beklagten festgestellt, der jeweiligen Klägerin den über den jeweiligen Zahlungsantrag hinausgehenden kongruenten Regressschaden vollständig zu ersetzen und im Übrigen die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Das Landgericht ist der Auffassung, es sei grob behandlungsfehlerhaft gewesen, dass die Beklagte das CTG vom 24.05.2005 bei suspektem Befund nach 20 Minuten beendet habe. Die Kausalität des Fehlers für den eingetretenen Gesundheitsschaden sei aufgrund der den Klägerinnen zugute kommenden Beweislastumkehr anzunehmen. Im Übrigen wird hinsichtlich des streitgegenständlichen Sachverhalts, der vom Landgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen und des Inhalts der Entscheidung im Einzelnen gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO auf dieses Urteil Bezug genommen.
12
Mit ihrer am 06.04.2022 eingegangenen und nach gewährter Fristverlängerung bis zum 13.06.2022 mit am 02.06.2022 eingegangenem Schriftsatz begründeten Berufung erstrebt die Beklagte die vollständige Klageabweisung. Sie rügt im Wesentlichen, das Landgericht
- hätte hinsichtlich des CTG am 24.05.2005 keinen (erst recht keinen groben) Befunderhebungsfehler annehmen dürfen, da die Anfertigung eines CTG nach den Mutterschaftsrichtlinien gar nicht erforderlich gewesen sei;
- hätte auch deshalb die Beklagte nicht auf der Grundlage des am 24.05.2005 geschriebenen CTG verurteilen dürfen, weil CTG-Aufzeichnungen fehleranfällig seien und bis zu 80% falsch positive pathologische Ergebnisse aufwiesen, weshalb von Experten eine Abkehr von der CTG-Gläubigkeit in der Schwangerenberatung und der Geburtshilfe gefordert werde;
- habe verkannt, dass ein Weiterschreiben des CTG am 24.05.2005 oder ein Kontroll-CTG mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit keinen reaktionspflichtigen Befund ergeben hätte; dem Kind sei es am 24.05.2005 gut gegangen.
13
Mit Blick auf das (vom Landgericht im Urteil nicht thematisierte) Geschehen am 31.05.2005 macht die Berufungsbegründung geltend, die zu späte Information des Notarztes sei für den eingetretenen Schaden nicht kausal geworden, weil eine Chance für das Kind nur durch Sectio am 27. oder 28.05.2005 bestanden hätte, zu welchen Zeitpunkten die Schwangere aber nicht bei der Beklagten gewesen sei. Die Beklagte habe der Schwangeren gesagt, sie solle unverzüglich kommen, wenn die Kindsbewegungen nachließen. Im Übrigen wird hinsichtlich des Vorbringens der Beklagten im Berufungsverfahren auf den Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 02.06.2022 (Bl. 403/407 d. A.), das Protokoll der Berufungsverhandlung vom 22.06.2023 (Bl. 437/447 d. A.) sowie den (bezüglich neuen Tatsachenvortrags nicht nachgelassenen) Schriftsatz vom 28.07.2023 (Bl. 451/453 d. A.) Bezug genommen.
14
Die Beklagte beantragt in der Berufungsinstanz:
Das Teil- und Grundurteil des Landgerichts Kempten vom 10.03.2022, Az. 33 O 545/14 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.
15
Die Klägerinnen beantragen
die Zurückweisung der Berufung.
16
Hinsichtlich ihres Vortrags in der Berufungsinstanz wird auf den Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 04.08.2022 (Bl. 414/419 d. A.) sowie auf das Protokoll der Berufungsverhandlung vom 22.06.2023 (Bl. 437/447 d. A.) Bezug genommen.
17
Der Senat hat am 22.06.2023 mit der Beklagten und den Parteivertretern mündlich verhandelt und dabei die Beklagte informatorisch angehört sowie den Sachverständigen Professor Dr. Ke. und die Zeugin M. einvernommen. Hinsichtlich des Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll (Bl. 437/447 d. A.) Bezug genommen.
II.
18
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
19
1. Die prozessualen Voraussetzungen für den Erlass eines Grundurteils bezüglich der Leistungsanträge (§ 304 Abs. 1 ZPO) lagen vor. Da zugleich über die (nicht grundurteilsfähigen) Feststellungsanträge abschließend durch Teil(end) urteil entschieden wurde, liegt auch kein Teilurteil (§ 301 Abs. 1 Satz 1 ZPO) allein hinsichtlich der Leistungsanträge vor, was wegen des Gebots der Widerspruchsfreiheit von Teil- und Schlussurteil unzulässig gewesen wäre (vgl. BGH vom 22.07.2009 – XII ZR 77/06 – juris Rn. 11; OLG Koblenz vom 06.01.2011 – 2 U 772/10 – juris Rn. 30).
20
2. Das Landgericht ist auch zutreffend zu der Überzeugung gelangt, dass die Beklagte den Klägerinnen wegen einer fehlerhaften ärztlichen Heilbehandlung im Rahmen der Betreuung der Schwangerschaft von Frau A. M. vollumfänglich aus §§ 630a, 280 Abs. 1, § 249 Abs. 2 Satz 1, § 251 Abs. 1 BGB i. V. m. § 116 SGB X schadensersatzpflichtig ist.
21
Die Berufungsrügen greifen auch unter Berücksichtigung der Ausführungen im Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 28.07.2023 (Bl. 451/453 d. A.) nicht durch.
22
a) Soweit die Beklagte der Anknüpfung eines jedweden Behandlungsfehlervorwurfs an das CTG vom 24.05.2005 von vornherein mit der Erwägung entgegenzutreten versucht, die Anfertigung eines CTGs sei gar nicht erforderlich gewesen (vgl. Seite 3 der Berufungsbegründung zu Nr. 2, Bl. 405 d. A.; Seite 2 des Schriftsatzes vom 28.07.2023 zu Nr. 2, Bl. 452 d.A.), ist dies mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs unbehelflich. Dieser hat in seinem Urteil vom 21.10.2010 – VI ZR 284/09 – juris Rn. 11) ausgeführt: „Da das Wohl des Patienten oberstes Gebot und Richtschnur jeden ärztlichen Handelns ist […] verpflichten den Arzt auch die Ergebnisse solcher Untersuchungen zur Einhaltung der berufsspezifischen Sorgfalt, die medizinisch nicht verlangt waren, aber trotzdem – beispielsweise aus besonderer Vorsicht – veranlasst wurden. Auf diese Weise gewonnene Erkenntnisse dürfen entgegen der Auffassung der Revision vom Arzt nicht deshalb ignoriert werden, weil keine Verpflichtung zur Durchführung der entsprechenden Untersuchung bestand […]“. Dass die Beklagte das CTG nicht hätte schreiben müssen, entbindet sie also nicht von der Verpflichtung, es nach den Regeln der Kunst zu befunden, wenn sie es dennoch tut.
23
b) Auch die Rüge, die Beklagte hätte schon deshalb nicht aufgrund des am 24.05.2005 geschriebenen CTGs verurteilt werden dürfen, weil CTG-Aufzeichnungen nach den Ausführungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen eine Fehlerquote von bis zu 80% falsch positiv pathologischer Befunde aufwiesen (Seiten 3 f. der Berufungsbegründung zu Nr. 3, Bl. 405 f. d. A.), kann schon im Ansatz nicht überzeugen. Letztlich wird damit nichts anderes gesagt, als dass CTGs derart unzuverlässig seien, dass man auf sie a priori nichts geben könne. In letzter Konsequenz wäre es nach dieser Argumentation nicht zu beanstanden, selbst ein erkannt pathologisches CTG mit Blick auf dessen bekannte Unzuverlässigkeit unbeachtet zu lassen. Dass dies nicht richtig sein kann, liegt jedoch auf der Hand. Mit Blick auf schwerste Gefahren für die Gesundheit des ungeborenen Kindes muss einem pathologischen CTG-Befund selbstverständlich auch dann nachgegangen werden, wenn lediglich mit einer Wahrscheinlichkeit von 20% damit zu rechnen ist, dass dem Untersuchungsbefund auch tatsächlich eine Pathologie zugrunde liegt. Dass es hier nach den Ausführungen des Sachverständigen mit Blick auf den 24.05.2005 nicht um ein pathologisches, sondern um ein suspektes CTG geht, führt zu keinem anderen Ergebnis. Auch ein solches zeigt einen Klärungsbedarf an, dem mit Blick auf das Leben und die Gesundheit des ungeborenen Kindes nachzugehen ist.
24
c) Der Senat versteht den mit „Kein reaktionspflichtiger Befund am 25.05.2005“ überschriebenen Vortrag der Beklagten, wonach die Ausführungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen bestätigt hätten, dass ein Weiterschreiben des CTGs am 24.05.2005 oder ein Kontroll-CTG mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit keinen reaktionspflichtigen Befund ergeben hätte und es dem Kind am 24.05.2005 gut gegangen sei (Seite 4 der Berufungsbegründung zu Nr. 4, Bl. 406 d. A.), dahingehend, dass nicht nur die Kausalität eines (akzeptierten) Behandlungsfehlers für die eingetretene Schädigung des Kindes, sondern auch bereits der vom Landgericht angenommene (grobe) Befunderhebungsfehler und ebenso ein etwaiger Diagnosefehler in Abrede gestellt werden soll. Zu dieser Thematik ist (auch mit Blick auf die Ausführungen im Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 28.07.2023, Bl. 451/453 d. A.) Folgendes auszuführen:
25
aa) Zur Abgrenzung eines Befunderhebungsfehlers von einem Diagnoseirrtum hat der Bundesgerichtshof (Urteil vom 21.12.2010 – VI ZR 284/09 – juris Rn. 13) ausgeführt: „Ein Befunderhebungsfehler ist gegeben, wenn die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen wird. Im Unterschied dazu liegt ein Diagnoseirrtum vor, wenn der Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiert und deshalb nicht die aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs gebotenen – therapeutischen oder diagnostischen – Maßnahmen ergreift […]“ Nach diesem Unterscheidungskriterium hat der Bundesgerichtshof einen Diagnoseirrtum und keinen Befunderhebungsfehler darin gesehen, dass ein Anästhesist eine auf einem Röntgenbild erkennbare, abklärungsbedürftige Verdichtung im rechten Lungenflügel nicht erkannt und es deshalb unterlassen hat, deren Ursache differentialdiagnostisch abklären zu lassen.
26
bb) Die Anwendung dieses Kriteriums auf die Verkennung des suspekten Charakters des CTGs durch die Beklagte wirft gewisse Schwierigkeiten auf.
27
(1) Wie der Sachverständige Professor Dr. Ke. auch in der Berufungsverhandlung nachvollziehbar und deutlich erklärt hat (vgl. Seiten 3 f. des Protokolls, Bl. 439 f. d. A.), führt eine Bandbreite in der Herzfrequenz des Kindes von mehr als 25 Schlägen innerhalb einer Minute dazu, dass das CTG aufgrund strikter Kriterien zwingend als suspekt zu klassifizieren war. Die Beklagte hat erklärt (Seite 2 des Protokolls der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung vom 08.02.2018, Bl. 188 d. A.), ihr seien „die Herztöne von mehr als 25 aufgefallen. Ich habe dies jedoch nicht als suspekt angesehen.“ Anders als der Anästhesist in dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall hat die Beklagte also das relevante Phänomen (Bandbreite von mehr als 25 Schlägen in der Herzfrequenz innerhalb einer Minute) wahrgenommen, was dafür sprechen könnte, das Unterlassen weiterer Befunderhebungen sogleich als Befunderhebungsfehler einzustufen.
28
(2) Der Senat nimmt hier – zugunsten der Beklagten – dennoch insoweit einen Diagnoseirrtum an; denn die Beklagte hat zwar das Phänomen (“Bandbreite“) gesehen, aber die Bedeutung dieses Phänomens bzw. die aus ihm zu ziehende Schlussfolgerung (Klassifizierung des CTG als suspekt) verkannt. Der Schwerpunkt liegt insoweit also auf der Verkennung des zu diagnostischen Zwecken angefertigten Materials, nicht im Unterlassen weiterer Befunderhebungen in Kenntnis dieses Materials.
29
cc) Zu beachten ist, dass Irrtümer bei der Diagnosestellung „oft nicht die Folge eines vorwerfbaren Versehens des Arztes [sind]. Die Symptome einer Erkrankung sind nämlich nicht immer eindeutig, sondern können auf die verschiedensten Ursachen hinweisen“ (BGH vom 08.07.2003 – VI ZR 304/02 – juris Rn. 10). Ein Diagnoseirrtum ist also nicht stets als Behandlungsfehler zu werten. Darüber hinaus entfaltet (jedenfalls nach verbreiteter Auffassung) auch ein als (einfacher) Behandlungsfehler zu klassifizierender Diagnoseirrtum eine Sperrwirkung dergestalt, dass eine aufgrund des Diagnosefehlers, also auf der Grundlage einer unzutreffenden Bewertung des vorliegenden Materials unterlassene Befunderhebung nicht (zusätzlich) als (einfacher oder grober) Befunderhebungsfehler – mit Beweiserleichterungen gemäß (jetzt) § 630h Abs. 5 Satz 1 oder 2 BGB – gewertet werden darf (vgl. Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, 6. Aufl. 2021, Rn. D 20 und D 21j m. w. N.). Diese Privilegierung entfällt allerdings bei einem sogenannten fundamentalen Diagnoseirrtum, der als grober Behandlungsfehler einzustufen ist, wobei „[w]egen der bei Stellung einer Diagnose nicht seltenen Unsicherheiten […] die Schwelle, von der ab ein Diagnoseirrtum als schwerer Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst zu beurteilen ist, der dann zu einer Belastung der Behandlungsseite mit dem Risiko der Unaufklärbarkeit des weiteren Ursachenverlaufs führen kann, hoch angesetzt werden [muss]“ (BGH vom 21.12.2010 – VI ZR 284/09 – juris Rn. 20).
30
dd) Auch unter Beachtung dieses strengen Maßstabs lassen die verständlichen und nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Professor Dr. Ke. keinen Zweifel daran, dass die Verkennung der Klassifizierung des CTG-Befundes vom 24.05.2005 als suspekt einen fundamentalen Diagnoseirrtum (schweren Behandlungsfehler) darstellt.
31
(1) Wie der Sachverständige erklärt hat, gibt es nach den auch in der einschlägigen AWMF-Leitlinie festgelegten Kriterien keinerlei Bewertungsspielraum, der es gestatten würde, ein CTG, das die genannte Bandbreite in der Herzfrequenz aufweist, nicht als suspekt einzustufen. Konsequenterweise hat der Sachverständige in der Berufungsverhandlung (Seite 4 des Protokolls, Bl. 440 d. A.) erklärt: „Die Klassifizierung des CTGs vom 24.05.2005 als normal ist nach den klar vorgegebenen Zahlenwerten nicht nachvollziehbar […] Die Vergabe eines Fischer-Score 10 ist nicht nachzuvollziehen.“
32
(2) Ohne Erfolg versucht der Beklagtenvertreter dem unter Verweis darauf entgegenzutreten, dass der Sachverständige eine Bewertung des Fischer-Scores mit 8 für vertretbar gehalten habe, was aber keinen suspekten, sondern einen Normalbefund kennzeichne (Seite 2 des Schriftsatzes vom 28.07.2023 zu Nr. 3, Bl. 452 d. A.). Der Beklagtenvertreter gibt die Ausführungen des Sachverständigen insoweit nämlich unvollständig wieder. Dieser hat unmissverständlich erklärt, dass die Bewertung von CTGs nach Fischer-Score „heute nicht mehr Usus“ ist, und seine Aussage zeigt, dass er sich bezüglich der Einordnung des CTGs vom 24.05.2005 nach Fischer-Score nicht sicher war: „Ich halte es für wahrscheinlich, dass im Jahr 2005 etwa eine Bewertung mit Fischer-Score 8 hätte getroffen werden können. Ich bin allerdings insoweit nicht zu 100% sicher“ (Seite 5 des Protokolls der Berufungsverhandlung, Bl. 441 d. A.). Zu 100% sicher war sich der Sachverständige aber, dass die Klassifizierung des CTGs als normal nicht nur falsch, sondern nicht nachvollziehbar war.
33
ee) Im Abbruch des CTGs nach 20 Minuten Aufzeichnungsdauer zu einem Zeitpunkt, in dem sich der suspekte Charakter des CTG gerade manifestierte, liegt nach den auch insoweit nachvollziehbaren und verständlichen Ausführungen des Sachverständigen Professor Dr. K. ein grober Befunderhebungsfehler; dieser ist nach den obigen Ausführungen auch nicht gesperrt, da der Diagnoseirrtum, der zu diesem Fehler führte, fundamental war.
34
(1) Die Ausführungen des Sachverständigen lassen keinen Zweifel daran, dass im Abbruch des CTGs nach 20 Minuten unter den gegebenen Umständen ein Verhalten zu sehen ist, dass der Beklagten schlechterdings nicht hätte unterlaufen dürfen. Bereits im Erstgutachten vom 10.11.2015 (Bl. 83/118 d. A.) erklärte der Sachverständige, die Beendigung der CTG-Registrierung sei zu diesem Zeitpunkt „nicht nachvollziehbar, insbesondere da keine weiteren Kontrollen anberaumt wurden“ (Seite 17, Bl. 99 d. A.); „[d]ie CTG-Aufzeichnung wurde nicht nachvollziehbar nach 20 Minuten während einer saltatorischen Oszillation, die ein Kriterium für ein suspektes CTG ist, abgebrochen“ (Seite 35, Bl. 117 d. A.). In der Berufungsverhandlung bekräftigte der Sachverständige seine Auffassung noch einmal eindrücklich wie folgt (Seite 4 des Protokolls, Bl. 440 d. A.): „Es ist im vorliegenden Fall eindeutig eine Auffälligkeit des CTGs (24.05.2005) gegeben. Deshalb ist es nicht nachvollziehbar, dass das CTG bei diesem Stand abgebrochen wurde. Die Unverständlichkeit des Vorgehens der Beklagten ergibt sich insbesondere daraus, dass das CTG gerade zu einem Zeitpunkt abgebrochen wurde, als der auffällige Befund erkennbar wurde. Wäre dieser auffällige Befund am Anfang des CTGs aufgetreten und hätte sich danach eine Normalisierung ergeben, wäre das möglicherweise anders zu sehen. Hier aber wurde genau in dem Zeitpunkt abgebrochen, als sich der suspekte Verlauf manifestierte. Ich sehe hierin eine klare Unterschreitung des bereits im damaligen Zeitpunkt geltenden medizinischen Standards. An der Beurteilung ändert sich nichts dadurch, dass eine weitere Untersuchung der Beklagten am 31.05.2005 geplant war.“
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(2) Die hiergegen im Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 28.07.2023 vorgebrachten Angriffe greifen nicht durch.
36
(a) Während der Beklagtenvertreter im Schriftsatz vom 14.12.2015 (Seite 1, Bl. 121 d. A.) selbst ausgeführt hat, „dass der Zeitraum von 30 Minuten in allen Leitlinien als übliche Registrierdauer bezeichnet wird“ und lediglich in Abrede gestellt hat, dass es sich um eine Mindestregistrierdauer handle, legt er mit Schriftsatz vom 28.07.2023 (Seiten 1 f., Bl. 451 f. d. A.) als Anlage BB 1 eine Leitlinie vom 01.02.2023 vor, um geltend zu machen, dass die Registrierungsdauer des konventionellen CTG 20 bis 30 Minuten dauern solle und diese Zeit für das antepartale CTG sogar auf 10 Minuten verkürzt werden könne. Das geht aus mehreren Gründen fehl.
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(aa) Aus einer Leitlinie vom 01.02.2023 kann von vornherein für den medizinischen Standard am 24.05.2005 nichts hergeleitet werden.
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(bb) Im Übrigen hängt die angesprochene Verkürzung nach der Leitlinie von Voraussetzungen ab, nämlich von der „Verwendung von zusätzlicher Analysesoftware wie der Oxford-Auswertung […] sofern dann bereits alle Kriterien erfüllt sind“ (Seite 29 der Leitlinie, Anlage BB 1).
39
(cc) Richtig ist, dass der Sachverständige die ursprünglich auch vom Beklagtenvertreter nicht in Abrede gestellte übliche Registrierdauer von 30 Minuten (jedenfalls für den damaligen Zeitpunkt) als allgemein zu beachtenden Standard angesehen hat, obwohl weder die Mutterschafts-Richtlinien noch die Gebührenordnung eine bestimmte Mindestregistrierdauer vorsahen (Seite 6 des Ergänzungsgutachtens vom 14.09.2016, Bl. 143 d. A.). Das ist jedoch kein Widerspruch. Der (nun in § 630a Abs. 2 BGB gesetzlich definierte) medizinische Standard kann nämlich zwar in institutionell erstellten Regelwerken – wie insbesondere den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), s. dazu sogleich zu (dd) – zum Ausdruck kommen, muss es aber nicht in jedem Fall (vgl. Igloffstein, Regelwerke für die humanmedizinische Individualbehandlung, Diss. Gießen 2003, Seiten 98 ff.) und vor allem nicht hinsichtlich jeden Details. Aus dem Umstand, dass die Mutterschafts-Richtlinien und die Gebührenordnung keinerlei Aussage über die Mindestdauer einer CTG-Untersuchung enthalten, lässt sich daher nicht folgern, dass es eine Mindestdauer nach dem einzuhaltenden medizinischen Standard überhaupt nicht geben könne. Folgte man der Argumentation der Beklagten, dürfte eine CTG-Untersuchung letztlich beliebig kurz sein, da sich den Mutterschafts-Richtlinien auch nicht entnehmen lässt, dass sie länger als wenige Sekunden zu sein habe.
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(dd) Schließlich aber hat der Sachverständige unter Hinweis auf die einschlägige AWMF-Leitlinie dargelegt, dass eine mindestens dreißigminütige Aufzeichnung dem medizinischen Standard im Behandlungszeitpunkt sehr wohl entsprach und dabei vor allem nicht die allgemeine dreißigminütige Mindestdauer einer CTG-Aufzeichnung in den Vordergrund gestellt, sondern den Umstand, dass am 24.05.2005 das CTG nach nur 20 Minuten gerade zu einem Zeitpunkt abgebrochen wurde, in dem es suspekt zu werden begann (Seite 27 des Erstgutachtens vom 10.11.2015, Bl. 109 d. A.). Mit dieser auf die spezifischen Umstände des streitgegenständlichen Behandlungsgeschehens bezogenen Argumentation des Sachverständigen setzt sich der Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 28.07.2023 nicht auseinander. Der Beklagtenvertreter hat zwar mit Schriftsatz vom 03.03.2020 (Bl. 288 f. d. A.) behauptet, die – insoweit also offenbar auch von ihm anerkannte – „Mindestregistrierdauer von 30 Minuten“ sei „im Mai 2005 noch nicht überall verbreitet“ gewesen; sie sei vielmehr „nach diesseitiger Recherche erst 2008 einer breiten Fachöffentlichkeit präsentiert“ worden. Dem traten die Kläger jedoch mit Schriftsatz vom 12.03.2020 (Bl. 290292 d. A.) unter Vorlage eines Auszugs aus der ersten Fassung der Leitlinie (Stand: September 2004) entgegen, in der bereits von der „übliche[n] (Mindest) Registrierdauer 30 Minuten“ die Rede ist. Auch enthält bereits diese Leitlinienfassung den vom Sachverständigen Professor Dr. K. in seinem Erstgutachten (Seite 27, Bl. 109 d. A.) zitierten Passus: „Bei suspektem FHF-Muster sollte die registrierte Dauer verlängert werden“.
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(b) Auch die Ausführungen des Beklagtenvertreters dazu, dass nach den Ausführungen des Sachverständigen hinsichtlich der Interpretation des CTG (im Gegensatz zu seiner oben erörterten Klassifizierung als suspekt) kein grober Behandlungsfehler angenommen werden könne, weil der Sachverständige die Interpretation habe nachvollziehen können (Seite 2 des Schriftsatzes vom 28.07.2023 zu Nr. 4, Bl. 452 d. A.), überzeugen nicht, weil die Äußerungen des Sachverständigen auch insoweit unvollständig wiedergegeben werden. Zwar hat der Sachverständige erklärt (Seite 4 des Protokolls der Berufungsverhandlung, Bl. 440 d. A.): „Eine andere Frage ist die Interpretation des Befundes. Für mich erscheint nachvollziehbar, dass eine Korrelation zwischen Bewegungen des Kindes und den Ausschlägen des CTG angenommen wurde.“ Unmittelbar daran anschließend führte er jedoch weiter aus: „Es ist aber nicht so, dass Bewegungen des Kindes hier als einzige Ursache für den saltatorischen Verlauf in Betracht kamen. Da das CTG als suspekt einzuordnen ist, war es geboten, die Aufzeichnung fortzusetzen und eine Phase abzuwarten, in der sich das Kind nicht bewegt. Es hätte geklärt werden müssen, ob auch in einer Phase ohne Bewegung ein saltatorischer Verlauf auftritt. Es könnte etwa im vorliegenden Fall auch eine Nabelschnurumschlingung vorgelegen haben. Ein saltatorischer Verlauf ist als typisch für Nabelschnurumschlingungen anzusehen.“ Wiederum unmittelbar hieran schließt sich die oben zu (1) wiedergegebene Passage aus dem Protokoll der Berufungsverhandlung an, wonach es „nicht nachvollziehbar [ist], dass das CTG bei diesem Stand abgebrochen wurde“. Es kann also keine Rede davon sein, dass nach den Ausführungen des Sachverständigen die Annahme eines groben Behandlungsfehlers hinsichtlich der Interpretation des CTG vom 24.05.2005 nicht in Betracht käme. Hinzu kommt, dass der Sachverständige den Abbruch der Aufzeichnung zu einem Zeitpunkt, da sich der suspekte Charakter des CTG gerade manifestierte, „insbesondere“ auch deshalb als „nicht nachvollziehbar“ bezeichnete, „da keine weiteren Kontrollen anberaumt wurden“ (Seite 17 des Erstgutachtens vom 10.11.2015, Bl. 99 d. A.; s. auch Seite 27 des Erstgutachtens vom 10.11.2015, Bl. 109 d. A.).
42
ff) Die beiden groben Behandlungsfehler sind als kausal für die bei A. E. M. eingetretene schwerste Schädigung anzusehen.
43
(1) Aufgrund der groben Behandlungsfehler kehrt sich die Beweislast hinsichtlich ihrer Kausalität für die eingetretene Schädigung (Primärschaden; haftungsbegründende Kausalität) um (vgl. etwa BGH vom 10.05.2016 – VI ZR 247/15 – juris Rn. 11, nunmehr kodifiziert in § 630h Abs. 5 Satz 1 BGB); dies gilt auch in der hier gegebenen Konstellation, dass bereits die Unterlassung einer aus medizinischer Sicht gebotenen Befunderhebung einen groben ärztlichen Fehler darstellt (BGH, a. a. O.). Diese Verlagerung der Beweislast auf die Behandlungsseite tritt nur dann nicht ein, wenn jeglicher haftungsbegründender Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist (BGH vom 27.04.2004 – VI ZR 34/03 – juris Rn. 16).
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(2) Hieran gemessen, hat das Landgericht auch in Anbetracht der Ausführungen des Beklagtenvertreters im Schriftsatz vom 28.07.2023 (Seiten 2 f., Bl. 452 f. d. A.) zutreffend die Kausalität der fehlerhaften Behandlung für die eingetretene Schädigung des Kindes bejaht (vgl. Seite 15 des angegriffenen Urteils, Bl. 390 d. A.).
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(a) Richtig ist zwar, dass auf der Grundlage der Ausführungen des neuropädiatrischen Sachverständigen Professor Dr. St. (Seite 3 des Protokolls der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung vom 11.11.2021, Bl. 363 d. A.) der Beginn der fetalen Hypoxie zwischen dem 26.05.2005 und dem 31.05.2005 liegt und damit zu einer Zeit eingetreten ist, da sich die Schwangere nicht in der Obhut der Beklagten befand.
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(b) Das bedeutet jedoch nicht, dass es äußerst unwahrscheinlich wäre, dass der grobe Befunderhebungsfehler eine notwendige Bedingung für die eingetretene Schädigung geworden ist. Der Sachverständige Professor Dr. Ke. hat es als nicht nachvollziehbares Vorgehen gewertet, das CTG am 24.05.2005 nach zwanzigminütiger Aufzeichnungsdauer in einer Phase abzubrechen, in der sich der suspekte Charakter des CTG gerade manifestierte, ohne wiederholte und längerfristige CTG-Kontrollen anzuordnen, deren erste nach den Ausführungen des Sachverständigen bereits ca. 30 Minuten nach dem hier diskutierten CTG hätte erfolgen sollen (Seite 27 des Erstgutachtens vom 10.11.2015, Bl. 109 d. A.). Dass es durchaus möglich gewesen wäre, dass diese weiteren Kontroll-CTGs erneut suspekte Befunde ergeben hätten, denen wiederum nachzugehen gewesen wäre, hat der Sachverständige in der Berufungsverhandlung (Seite 6 des Protokolls, Bl. 442 d. A.) nachvollziehbar ausgeführt. Es ist also keineswegs äußerst unwahrscheinlich, dass die Beklagte gerade deshalb im kritischen Zeitraum keine Eingriffsmöglichkeit hatte, weil sie es versäumt hat, engmaschige Kontrolluntersuchungen sicherzustellen.
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(c) Das lässt sich auch nicht mit dem Hinweis des Beklagtenvertreters darauf entkräften, dass die Schwangere selbst eingeräumt habe, nachlassende Kindsbewegungen bemerkt zu haben, ohne sich deshalb erneut bei der Beklagten vorzustellen.
48
(aa) Nach den Ausführungen des Sachverständigen waren Kontrolluntersuchungen wegen des suspekten Charakters des CTGs nämlich in jedem Fall erforderlich und nicht nur für den Fall des Nachlassens von Kindsbewegungen. Ihr Bemerken durch die Schwangere war daher von vornherein keine Bedingung für die Notwendigkeit weiterer Kontrolluntersuchungen.
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(bb) Ohne, dass es entscheidungserheblich darauf ankäme, ergibt sich im Übrigen aus der Aussage der Zeugin M., an deren Glaubwürdigkeit zu zweifeln der Senat keinen Anlass sieht, dass sie zwar das Nachlassen von Kindsbewegungen bemerkt hat, aber nicht wusste, wie sie das einzuordnen hat (vgl. Seiten 7 f. des Protokolls der Berufungsverhandlung, Bl. 443 f. d. A.). Das kann ihr als medizinischem Laien auch nicht vorgeworfen werden. Dass die Zeugin M. von der Beklagten aus Anlass des CTG vom 24.05.2005 dazu aufgefordert worden wäre, sich im Fall nachlassender Kindsbewegungen erneut vorzustellen, sieht der Senat nicht als erwiesen an. Die Beklagte selbst hat zunächst (Seite 5 des Protokolls der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung vom 30.10.2014, Bl. 48 d. A.) erklärt, sie habe nach dem CTG vom 24.05.2005 „Frau M. keine Verhaltensmaßregeln empfohlen“. Das passt auch zu ihrer Einschätzung, dass es sich beim CTG vom 24.05.2005 um einen Normalbefund gehandelt habe. Im Widerspruch dazu erklärte sie in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung vom 08.02.2018 (Seite 3 des Protokolls, Bl. 189 d. A.), sie sage „immer, wenn sie mit dem Aufschreiben von Wehenbewegungen beginne, zu der Kindesmutter, wobei ich auch die Kindesbewegungen zeige, dass dann, wenn die Kindesbewegungen weniger werden, [die Mutter] sich bei mir in der Praxis oder in der Klinik zeitnah melden solle“. Diese ihrem Wortlaut nach auch auf die CTG-Aufzeichnung vom 24.05.2005 bezogene Aussage änderte die Beklagte in der Berufungsverhandlung vom 22.06.2023 (Seite 3 des Protokolls, Bl. 439 d. A.) dahingehend ab, dass sie „das CTG vom 24.05.2005 nicht als suspekt angesehen und […] der Schwangeren deshalb keine besonderen Anweisungen mit auf den Weg gegeben [habe]“; allerdings teile sie ihren Patientinnen „regelmäßig zweimal, nämlich erstens bei der Patientenaufnahme und zweitens bei der Erläuterung des ersten CTGs“ mit, „dass sie sich, falls die Bewegungen des Kindes über mehrere Stunden abnehmen, bei mir oder am Wochenende gegebenenfalls in der Klinik melden sollen“.
50
Unabhängig von der Frage der Rechtzeitigkeit dieses vom Klägervertreter bestrittenen Vortrags (vgl. Seite 3 des Protokolls der Berufungsverhandlung, Bl. 439 d. A.) ergibt sich gerade auch auf seiner Grundlage, dass die Beklagte das – von ihr ja gar nicht für auffällig gehaltene – CTG nicht zum Anlass genommen hat, selbst nur für den Fall nachlassender Kindsbewegungen auf weitere Kontrollen hinzuwirken.
51
Dass die Schwangere dieser Aussage zufolge letztmalig aus Anlass des ersten CTGs (vom 15.03.2005, vgl. Seite 5 des Erstgutachtens des Sachverständigen Professor Dr. Ke., Bl. 87 d. A.) und damit mehr als zwei Monate vor der Untersuchung vom 24.05.2005 ohne konkreten Anlass in allgemeiner Form dazu aufgefordert wurde, sich im Fall des Nachlassens von Kindsbewegungen erneut vorzustellen, könnte selbst dann nicht unter Wertungsgesichtspunkten zu einer Verneinung des Kausalzusammenhangs führen, wenn Kontrolluntersuchungen – wie nicht – nur für diesen Fall erforderlich gewesen wären.
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d) Da bereits die Fehlbehandlung im Zusammenhang mit dem CTG vom 24.05.2005 zur Schadensersatzpflicht der Beklagten führt, bedarf es auch hier keiner Erörterung des Behandlungsregimes am 31.05.2005.
III.
53
1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
54
2. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
55
3. Ein Grund für die Zulassung der Revision (vgl. § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO) war nicht gegeben.