Titel:
Rechtsmissbräucher Widerspruch gegen Abschluss eines Lebensversicherungsvertrages im Policenmodell
Normenketten:
VVG § 5a (idF bis zum 31.12.2015)
BGB § 2424
Leitsätze:
1. Der verspätete Widerspruch gegen einen im Policenmodell abgeschlossenen fondsgebundenen Lebensversicherungsvertrag kann rechtsmissbräuchlich sein, wenn besonders gravierende Umstände vorliegen, die ein schutzwürdiges Vertrauen des Versicherers auf den Bestand des Versicherungsvertrages begründet haben. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für die Rechtsmissbräuchlichkeit eines Widerspruchs 21 Jahre nach Vertragsabschluss spricht, dass der Versicherungsnehmer in Versicherungsfragen erfahren ist, die Anlagestrategie während der Vertragsdauer aktiv gestaltet und den Vertrag schon vor dem Widerspruch gekündigt hat. (Rn. 20 – 26) (redaktioneller Leitsatz)
3. Auch aus unionsrechtlicher Sicht ist ein Widerspruch rechtsmissbräuchlich, wenn er auf die Erlangung ungerechtfertigter Vorteile zielt, wie es der Fall ist, wenn der Versicherungsnehmer eine Vermittlungsprovision und durch sie und eine Kündigung mehr als die von ihm geleisteten Beiträge erhalten hat. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Lebensversicherung, fondsgebunden, Policenmodell, Widerspruch, Belehrung, Treuwidrigkeit, Rechtsmissbrauch, Versicherungsvermittler, Provision, Kündigung, ungerechtfertigte Vorteile, künstlicher Charakter
Vorinstanz:
LG München II, Endurteil vom 22.04.2022 – 10 O 2094/21 Ver
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe, Hinweisbeschluss vom 29.11.2023 – IV ZR 61/23
Weiterführende Hinweise:
Revision zugelassen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 40801
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts München II vom 22.04.2022, Az. 10 O 2094/21 Ver, wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil und das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts München II sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Klagepartei kann die Vollstreckung durch die Beklagte abwenden durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
4. Die Revision wird zugelassen.
Entscheidungsgründe
1
Der Kläger macht gegenüber der Beklagten einen Rückabwicklungsanspruch hinsichtlich einer fondsgebundenen Lebensversicherung geltend.
2
Der Kläger, ein Versicherungsvermittler, hat bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten im Policenmodell einen Vertrag über eine fondsgebundene Lebensversicherung mit der Nummer …, Versicherungsbeginn 01.04.2000 abgeschlossen. Den Vertrag hat er sich selbst vermittelt. Vereinbart war zunächst eine monatliche Prämie von 66,47 € (130 DM) bei einer Versicherungs- und Beitragszahlungsdauer von 35 Jahren. Mit Wirkung zum 01.07.2000 wurde die Versicherung um eine Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung erweitert bei einem monatlichen Beitrag von zunächst 107,63 € (210,50 DM). Insgesamt zahlte der Kläger 26.809,33 € ein.
3
Der als Anlage K 1 vorgelegte Versicherungsschein vom 07.04.2000 enthielt im letzten Absatz, fettgedruckt, eine Belehrung über das Widerspruchsrecht, allerdings ohne Hinweis auf die Textform. Hinsichtlich der Formulierung und drucktechnischen Gestaltung wird auf die Anlage K 1, hinsichtlich der mit übersandten Informationen auf die Anlage BLD1 verwiesen.
4
Während der Vertragslaufzeit informierte sich der Kläger umfassend und veranlasste mehrfach Änderungen der Anlagestrategie. Insbesondere beantragte er im Juni 2000 den Einschluss einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung, was die Beklagte mit Schreiben vom 10.08.2000 bestätigte (Anlagen B 3 und 4). Unter dem 18.12.2003 trat der Kläger die Ansprüche aus der streitgegenständlichen Versicherung an die … Lebensversicherung a.G. ab (Anlage B 8), die im Juni 2005 von der … wieder freigegeben wurde (Anlage B 9). Zudem veranlasste der Kläger im Jahr 2011 einen Fondswechsel (Anlagen B 12-14). Hinsichtlich der verschiedenen Nachfragen und Anträge wird auf die Ausführungen im Urteil des Landgerichts (LGU) verwiesen.
5
Der Kläger kündigte den Vertrag mit Schreiben vom 28.01.2021 (Anlage B 21). Die Beklagte rechnete den Vertrag mit Wirkung zum 01.03.2021 ab und zahlte einen Rückkaufswert in Höhe von 27.901,30 € aus.
6
Mit Schreiben vom 11.03.2021 (Anlage K 2) erklärte der Kläger den Widerspruch gegen den Vertrag, die Beklagte wies den Widerspruch mit Schreiben vom 02.08.2021 (Anlage B 23) zurück.
7
Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Zahlung weiterer 15.439,36 € sowie außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten. Er ist der Auffassung, er habe dem Vertrag wirksam widersprochen. Die Widerspruchsbelehrung sei fehlerhaft gewesen, insbesondere weise sie nicht auf die Textform hin. Verwirkung sei nicht eingetreten.
8
Die Beklagte ist dem entgegen getreten. Sie trägt vor, die Belehrung sei ordnungsgemäß gewesen. Die fehlende Belehrung über die Form sei unschädlich. Im Übrigen sei der Anspruch verwirkt. Auch zur Höhe sei der Vortrag der Klagepartei unschlüssig.
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Hinsichtlich der festgestellten Tatsachen im Übrigen wird auf das Urteil des Landgerichts vom 22.04.2022 Bezug genommen, § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.
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Das Landgericht hat die Klage vollumfänglich abgewiesen. Die Widerspruchsbelehrung sei im Hinblick auf den fehlenden Hinweis auf die Textform und die nicht hinreichende Hervorhebung nicht ordnungsgemäß, der Widerspruch sei aber verwirkt.
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Dagegen richtet sich die Berufung des Klägers. Er ist der Auffassung, das Landgericht habe fehlerhaft Verwirkung bejaht. Die Rechtsprechung des BGH zur Verwirkung sei nach der Entscheidung des EuGH vom 09.09.2021, C-33/20, C-155/20, C-187/20, überholt. Es bedürfe für die Verwirkung eines subjektiven Elements, das hier offensichtlich nicht vorliege. Bei den im Urteil aufgeführten Vertragsänderungen handle es sich sämtlich um normale Vertragsdurchführung.
12
Hinsichtlich des Berufungsvorbringens im Einzelnen wird auf die Berufungsbegründung vom 16.05.2022, Bl. 119 ff d.A. Bezug genommen.
das am 22.04.2022 verkündete Urteil des Landgerichts München mit dem Aktenzeichen 10 O 2094/21 Ver aufzuheben und
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 15.439,36 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.134,55 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen. Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Berufung.
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Sie ist der Berufung entgegen getreten. Der Bundesgerichtshof habe, bestätigt durch das Bundesverfassungsgericht, in ständiger Rechtsprechung festgestellt, dass die Annahme der Verwirkung dem Tatrichter obliege. Die Rechtsprechung des EuGH vom 09.09.2021, Az. C-33/20, C-155/20, C-187/20 sei nicht auf Lebensversicherungsverträge übertragbar. Auf die Ausführungen in den Schriftsätzen vom 25.09.2022 und vom 25.10.2022 wird verwiesen.
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Der Senat hat am 29.09.2022 einen Hinweisbeschluss mit Vergleichsvorschlag erlassen und am 30.01.2023 mündlich verhandelt. Der Kläger ist trotz Ladung nicht erschienen. Der nach § 141 Abs. 3 ZPO mündlich bevollmächtigte Klägervertreter wurde informatorisch angehört. Auf das Sitzungsprotokoll wird verwiesen.
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Die zulässige Berufung war zurückzuweisen. Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob die fehlende Angabe der Form in der Belehrung zu einem „ewigen Widerspruchsrecht“ führt (1.), weil jedenfalls Verwirkung eingetreten ist (2.).
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1. Zunächst ist anzumerken, dass, wie der Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht richtig gestellt hat, im Gesetz für den Widerspruch im Jahr 2000 nicht die Textform (so aber das Landgericht auf S. 5 des Urteils), sondern noch die Schriftform vorgeschrieben war, § 5a VVG in der bis 31.07.2001 geltenden Fassung. Unabhängig davon nennt jedenfalls die Belehrung nicht die nach dem Gesetzeswortlaut erforderliche Form und ist damit, wie das Landgericht im Ergebnis zutreffend festgestellt hat, nicht ordnungsgemäß. Der EuGH stellt in seiner Entscheidung vom 19.12.2019, Rust-Hackner u.a., Az. C-355/18 bis 357/18 und C-479/18, unter Bestätigung seiner bisherigen Rechtsprechung hierzu (EuGH, Urteil vom 19.12.2013, Az.: C-209/12 – Endress) fest, dass in den Fällen, in denen der Versicherungsnehmer keine Information darüber erhalten hat, dass er überhaupt ein Rücktrittsrecht hat, die Frist für die Ausübung dieses Rechts nicht zu laufen beginnen kann (Rdnr. 67 – 69). Im Falle einer erteilten – aber in Bezug auf zwingende Vorgaben des anwendbaren Rechts bzw. zulässige vertragliche Vorgaben fehlerhaften – Rücktrittsbelehrung beginnt der Fristlauf gleichwohl, wenn dem Versicherungsnehmer durch diese Belehrung trotzdem nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben. Die nationalen Gerichte haben danach zu prüfen, ob – erstens – die Versicherer Informationen über das Rücktrittsrecht mitgeteilt haben, ob – zweitens – diese Informationen zutreffend waren oder – drittens – derart unrichtig, dass den Versicherungsnehmern die Möglichkeit genommen wurde, das Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben, wobei im Wege einer Gesamtwürdigung insbesondere dem nationalen Rechtsrahmen und den Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen ist (Rdnr. 77 – 81). Diese Rechtsprechung gilt grundsätzlich auch im Falle eines im Policenmodell zustande gekommenen Vertrags für den Widerspruch. Ob dem Kläger im vorliegenden Einzelfall, bei dem er als Versicherungsvermittler trotz fehlerhafter Belehrung über die erforderliche Form des Widerspruchs sein Widerspruchsrecht als solches kannte, die Möglichkeit genommen wurde, dieses unter im Wesentlichen gleichen Bedingungen wie bei zutreffender Belehrung auszuüben, kann jedoch offen bleiben, weil jedenfalls Verwirkung eingetreten ist.
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2. Der Senat teilt die Auffassung des Landgerichts, wonach der Widerspruch rechtsmissbräuchlich ist. Die entsprechende rechtliche Würdigung im angegriffenen Urteil vom 22.04.2022 hält den Angriffen des Klägers stand. Sowohl das Zeit- als auch das Umstandsmoment sind gegeben, wobei zusätzlich zu den Erwägungen des Landgerichts auf die unstreitige Rolle des Klägers beim Zustandekommen der Verträge und die Angaben des mündlich nach § 141 Abs. 3 ZPO bevollmächtigten Klägervertreters in der mündlichen Verhandlung vom 30.01.2023 abzustellen ist. Es ist dem Kläger vorliegend nach Treu und Glauben wegen unzulässiger Rechtsausübung gem. § 242 BGB verwehrt, sich nach jahrelanger Durchführung des Vertrags auf dessen angebliche Unwirksamkeit zu berufen und daraus Ansprüche herzuleiten.
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Dabei ist die Feststellung der Verwirkung auch dann nicht per se ausgeschlossen, wenn – wie hier – die erforderliche Belehrung nicht ordnungsgemäß war und der Versicherer so die Situation selbst herbeigeführt hat (BGH, Urteil vom 27.09.2017, Az.: IV ZR 506/15, Rdnr. 15, vom 26.09.2018, Az.: IV ZR 304/15, Rdnr. 23, vom 16.07.2014, Az.: IV ZR 73/13, Rdnr. 42, vom 21.12.2016, Az.: IV ZR 399/15, Rdnr. 14, Beschluss vom 11.11.2015, Az.: IV ZR 117/15, Rdnr. 16 f., vom 13.01.2016, Az.: IV ZR 117/15, Rdnr. 4 f., vom 27.01.2016, Az.: IV ZR 130/15, Rdnr. 16, vom 22.03.2016, Az.: IV ZR 130/15, Rdnr. 2, vom 03.06.2020, Az.: IV ZB 9/19, Rdnr. 14, jeweils zitiert nach Juris). In den Fällen der nicht ordnungsgemäßen Belehrung ist bei der Beurteilung der Frage nach dem Umstandsmoment darauf abzustellen, ob ausnahmsweise besonders gravierende Umstände vorliegen, aufgrund derer ein schutzwürdiges Vertrauen des Versicherers auf den Bestand des Versicherungsvertrages angenommen werden kann. Maßgeblich ist, ob der Versicherungsnehmer durch sein Verhalten bei dem Versicherer den Eindruck erweckt hat, den Vertrag unbedingt fortsetzen zu wollen. Die erforderliche Feststellung ist der tatrichterlichen Beurteilung vorbehalten (BGH, Urteil vom 27.09.2017, Az.: IV ZR 506/15, Rdnr. 15, vom 26.09.2018, Az.: IV ZR 304/15, Rdnr. 23, Beschluss vom 03.06.2020, Az.: IV ZB 9/19, 14, jeweils zitiert nach Juris). Die Feststellungen des Landgerichts insoweit sind nicht zu beanstanden.
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Hier liegen ausnahmsweise in ihrer Gesamtschau besonders gravierende Umstände vor, aufgrund derer ein schutzwürdiges Vertrauen des Versicherers auf den Bestand des Versicherungsvertrages anzunehmen ist, weshalb eine Berufung auf das Widerspruchsrecht treuwidrig ist im Sinne von § 242 BGB. Im Einzelnen:
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a) Der Widerspruch erfolgte nach außergewöhnlich langer Zeit, nämlich knapp 21 Jahre nach Vertragsschluss, sodass das Zeitmoment ohne Weiteres gegeben ist. Dem steht nicht entgegen, dass der Europäische Gerichtshof erst im Jahr 2013 die Befristung des Widerspruchsrechts als nicht vereinbar mit dem Unionsrecht gehalten hat, Urteil vom 19.12.2013, Az. C-209/12, und dass der Bundesgerichtshof erst im Mai 2014 zum Policenmodell und im Dezember 2014 zum Antragsmodell korrespondierend entschieden hat, Urteile vom 07.05.2014, Az. IV ZR 76/11 sowie vom 17.12.2014, Az. IV ZR 260/11. Im Rahmen der Verwirkung kommt es nämlich nicht darauf an, ob und wann jemand von einem ihm zustehenden Recht Kenntnis hat, sondern auf die tatsächlichen Umstände, wie der andere Vertragspartner das Verhalten des Gegenübers deuten durfte. Die mangelnde Kenntnis des Betroffenen von seinem Widerspruchsrecht schließt eine Verwirkung nicht aus, BGH, Urteil vom 10.10.2017, Az. XI ZR 443/16, Rdnr. 26 = NJW-RR 2018, 118.
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b) Der Kläger hat bei der Beklagten nicht nur Informationen und Angebote für Vertragsänderungen eingeholt, sondern hat eine zusätzliche Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen, den Vertrag zur Sicherheit abgetreten und den Fonds gewechselt. Insoweit kann vollumfänglich auf die Ausführungen des Landgerichts verwiesen werden.
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Die vielfachen Nachfragen und Änderungen belegen, dass der Kläger seine Anlage aktiv gestaltet hat. Er hat nicht nur den Vertrag gelebt, was für sich genommen eine Verwirkung nicht zu begründen vermag, sondern ihn auch kontinuierlich aktiv gestaltet und sogar abgetreten.
24
c) Als weiteres wesentliches Umstandsmoment sieht der Senat, dass der Kläger nicht nur als Versicherungsnehmer am Zustandekommen der Verträge beteiligt war, sondern auch als Vermittler und eine entsprechende Abschlussprovision erhalten hat. Der nach § 141 Abs. 3 ZPO bevollmächtigte Klägervertreter hat in der mündlichen Verhandlung vom 30.01.2023 angegeben, dass der Kläger damals relativ neu für eine Organisation tätig war und für den Vertrag, den er sich selbst vermittelt hat, einen Teil der von der Beklagten gezahlten Provision erhalten hat. Er ist auch heute noch in diesem Bereich tätig.
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Nachdem der Kläger aber langfristig im Versicherungswesen tätig war und ist, konnte die Beklagte nach den zitierten Gerichtsentscheidungen der Jahre 2013 und 2014 davon ausgehen, dass der Kläger als Vermittler Kenntnis von dieser Rechtsprechung hatte. Weiter konnte sie angesichts der bisherigen kontinuierlichen Teilnahme des Klägers an der Gestaltung des Vertrags damit rechnen, dass dieser, wenn er sein Widerspruchsrecht wahrnehmen möchte, dies zeitnah nach diesen Entscheidungen tut und nicht weitere 7 Jahre verstreichen lässt.
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Hinzu kommt, dass der Kläger 6 Wochen vor dem Widerspruch den Vertrag am 28.01.2021 gekündigt hat. Die bloße Kündigung und Abwicklung des Vertrags begründet zwar für sich genommen noch kein Umstandsmoment für die Verwirkung (BGH, Urteil vom 27.1.16, IV ZR 488/14, Rn. 15, 19), doch konnte sich die Beklagte unter den hier gegebenen Umständen, insbesondere angesichts der Tatsache, dass sich der Kläger aus Sicht der Beklagten in Versicherungsbedingungen auskennen musste, darauf verlassen, dass die Kündigung im Jahr 2021 eine bewusste Entscheidung für eine Kündigung und eben nicht für einen Widerspruch war. Ein solcher war aus Sicht der Beklagten nach der Kündigung nicht mehr zu erwarten.
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d) Die Gesamtwürdigung sämtlicher besonderer Umstände des vorliegenden Einzelfalls führt hier deshalb dazu, dass der Kläger derart widersprüchlich gehandelt hat, dass ihm im vorliegenden Einzelfall aufgrund widersprüchlichen Verhaltens gemäß § 242 BGB verwehrt ist, sein Widerspruchsrecht knapp 21 Jahre nach Vertragsschluss auszuüben. Selbst wenn die Belehrung fehlerhaft sein sollte, ist, wie bereits oben ausgeführt, eine Verwirkung möglich. Die dargelegten, besonders gravierende Umstände rechtfertigen die Annahme von Verwirkung.
28
e) Die Verwirkung ist auch nicht aus europarechtlichen Gesichtspunkten ausgeschlossen, dies gilt auch im Hinblick auf das Urteil des EuGH vom 09.09.2021, C-33/20.
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Der Kläger führt insoweit auf S. 2 der Berufungsbegründung zutreffend aus, dass nach der Rechtsprechung des EuGH die Feststellung eines Missbrauchs nach europarechtlichen Grundsätzen nicht nur eine Gesamtheit objektiver Umstände voraussetzt, sondern auch ein subjektives Element, nämlich die Absicht, sich einen unionsrechtlichen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden. Die Grundsätze der Verwirkung bestimmen sich hier aber zum einen nach nationalem Recht und sind hier auch nicht nach Europarecht ausgeschlossen (1), zum anderen wäre das subjektive Element hier zu bejahen, die europarechtlichen Anforderungen also ebenfalls erfüllt (2).
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(1) Die Lebensversicherungsrichtlinien sind Richtlinien, die im Wesentlichen Regelungen für den Versicherungsmarkt enthalten, aber auch verbraucherschützenden Charakter aufweisen (vgl. etwa Erwägungsgrund 23 der 3. Lebensversicherungsrichtlinie 92/96/EWG). Im Hinblick auf die Versicherungsverträge regeln sie lediglich Mindeststandards, sind also nur mindestharmonisierend. So heißt es auch in Art. 35 der nachfolgenden RL 2002/83/EG ausdrücklich, dass die übrigen rechtlichen Wirkungen des Rücktritts und die dafür erforderlichen Voraussetzungen gemäß dem auf den Versicherungsvertrag nach Art. 32 anwendbaren Recht geregelt werden. Dementsprechend hat der EuGH auch in seinen Entscheidungen zu Rücktritt/Widerspruch jeweils festgestellt, dass die Modalitäten der Ausübung des Rücktrittsrechts und der Mitteilung von Informationen den Mitgliedstaaten überlassen bleibt (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 19.12.2019, C – 355/18 u.a., Rn. 55; EuGH, Urteil vom 19.12.2013, C-209/12, Rn. 19). Der EuGH hat hierzu in der Entscheidung Endress, C-209/12, zudem ausdrücklich ausgeführt, dass der EuGH nur befugt ist, sich auf der Grundlage des ihm vom nationalen Gericht unterbreiteten Sachverhalts zur Auslegung oder zur Gültigkeit einer Unionsvorschrift zu äußern. Ebenso ist die Auslegung des nationalen Rechts ausschließlich Sache des vorlegenden Gerichts (EuGH aaO). Mithin ist hier die Frage der Verwirkung nach nationalem Recht zu entscheiden.
31
Diese vom Bundesverfassungsgericht ebenso beurteilte Lage (BVerfG, Urteil vom 02.02.2015, Az. 2 BvR 2437/14) ist auch nicht überholt durch das Urteil des EuGH vom 09.09 2021 in den verbundenen Verfahren C-33/20, C-155/20 und C187/20. Bei der EuGH-Entscheidung über die Auslegung der RL 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der RL 87/102/EWG des Rates geht es – anders als bei den Lebensversicherungsrichtlinien – um eine Vollharmonisierung und überdies um eine andere Art von Verträgen, die auch eine andere Zielrichtung verfolgen. So soll bei Lebensversicherungsverträgen – anders als bei Kreditverträgen – dem Versicherungsnehmer bzw. den Begünstigten oft über Jahrzehnte ein Versicherungsschutz zugutekommen, den sie im Falle des Eintritts des Versicherungsfalls in Anspruch nehmen können. Eine Übertragbarkeit der Rechtsprechung des EuGH zu den Verbraucherkreditverträgen auf die hiesigen Fälle der Versicherungsverträge ist daher aus Sicht des Senats nicht gegeben. Für eine Übertragbarkeit dieser Entscheidung auf Widerspruch/Rücktritt von Lebensversicherungsverträgen besteht mithin kein Grund. Auf die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts kann daher nach wie vor verwiesen werden.
32
(2) Überdies ist das subjektive Element im Sinne der Rechtsprechung des EuGH hier zu bejahen, so dass auch nach EUrechtlichen Grundsätzen eine Verwirkung zu bejahen wäre. Im Hinblick auf das subjektive Element, nämlich die Absicht sich einen ungerechtfertigten Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden, genügt der Nachweis objektiver Anhaltspunkte. So hat der EuGH in seinem Urteil vom 28.7.2016, Az. C-423/15 festgestellt: Es muss aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sein, dass wesentlicher Zweck der fraglichen Handlungen die Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils ist. Denn das Missbrauchsverbot greift nicht, wenn die fraglichen Handlungen eine andere Erklärung haben können als nur die Erlangung eines Vorteils. Zum Beweis für das Vorliegen dieses zweiten Tatbestandsmerkmals, das auf die Absicht der Handelnden abstellt, kann unter anderem der rein künstliche Charakter der fraglichen Handlungen berücksichtigt werden.
33
Dieser rein künstliche Charakter liegt hier darin, dass der Kläger die Verträge vermittelt und eine Vermittlungsprovision erhalten hat. Er hat sich also selbst über die Vertragsbedingungen informiert, stand auch auf „Verkäuferseite“ und wurde dafür entlohnt. Die Entscheidung des EuGH vom 19.12.2013, Az. C-209/12, diente aber dem Schutz der nicht ordnungsgemäß informierten Verbraucher. Hier war der Kläger als Versicherungsnehmer zwar einerseits Verbraucher, war aber auf der anderen Seite auch für seine eigene Information verantwortlich. Unter diesen Umständen ist schon fraglich, ob im Fall einer unzureichenden Widerspruchsbelehrung überhaupt ein „ewiges Rücktrittsrecht“ entsteht, denn die Erklärung „Rücktritt wegen unzureichender Information“ dürfte hier nicht greifen. Der Kläger hat zu Beginn seiner Tätigkeit nach Angabe des Klägervertreters eine gewisse Aus- und Fortbildung erhalten, weshalb der Senat auch davon ausgeht, dass er Kenntnis von der Formbedürftigkeit des Widerspruchs hatte. Selbst wenn er aber damals, wie vom Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung angegeben, von den Einzelheiten des Widerspruchsrechts keine Kenntnis gehabt haben sollte, so war er als Vermittler schon im Eigeninteresse (Beratung der Kunden, evtl. Haftung) veranlasst, sich damit zu befassen.
34
Letztlich kann dies aber dahinstehen, denn es kann zumindest erwartet werden, dass der Kläger ein etwaiges Recht zeitnah ausübt und nicht eine andere Möglichkeit der Vertragsbeendigung, nämlich hier zunächst die Kündigung, wählt. Unter diesen Umständen ist die Ausübung des Rücktrittsrechts rund 7 Jahre nach den entsprechenden Gerichtsentscheidungen rechtsmissbräuchlich, weil nur auf die Erlangung eines – jedenfalls nach so langer Zeit – nicht mehr gerechtfertigten Vorteils gerichtet, zumal er bereits nach der Kündigung mehr ausgezahlt erhalten hat, als er eingezahlt hat.
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Überdies hat der Kläger für den Vertragsabschluss eine Provision erhalten und beabsichtigt offensichtlich nicht diese rückabzuwickeln. Er trägt vor, sie beruhe auf einem anderen Rechtsgrund. Damit will er letztlich aus dem Vertrag einen zusätzlichen Vorteil erzielen, indem er die aus dem Vertragsabschluss erzielte Provision behält.
36
Diese objektiven Umstände legen nahe, dass der Kläger mit dem Widerspruch einen Vorteil geltend machen wollte, der jedenfalls zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gerechtfertigt war. Der Widerspruch ist rechtsmissbräuchlich. Die entsprechende rechtliche Würdigung im angegriffenen Urteil vom 22.04.2022 hält den Angriffen des Klägers stand. Sowohl das Zeit- als auch das Umstandsmoment sind gegeben, wobei zusätzlich zu den Erwägungen des Landgerichts auf die unstreitige Rolle des Klägers beim Zustandekommen des Vertrags abzustellen ist. Es ist der Klagepartei vorliegend nach Treu und Glauben wegen unzulässiger Rechtsausübung gem. § 242 BGB verwehrt, sich nach jahrelanger Durchführung des Vertrags auf dessen angebliche Unwirksamkeit zu berufen und daraus Ansprüche herzuleiten.
37
Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen. Auf die Frage, ob die Höhe des geltend gemachten Anspruchs substantiiert dargelegt wurde, kommt es nicht mehr an.
38
Die Kostenentscheidung zweiter Instanz beruht auf § 97 ZPO.
39
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
40
Die Revision ist gemäß § 543 Abs. 2 Nr. 2 zuzulassen, weil zur Fortbildung des Rechts und der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts notwendig ist. Die Frage, ob die Grundsätze aus der Entscheidung des EuGH vom Urteil vom 09.09.2021 in C-33/20 allgemeine Gültigkeit haben und ob ein unionsrechtlich gewährleistetes Rücktrittsrecht überhaupt wegen eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens des Versicherungsnehmers erlöschen kann, wenn der Versicherungsnehmer nicht (ordnungsgemäß) über sein Rücktrittsrecht belehrt wurde, wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beantwortet (Ausschluss der Verwirkung: VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschl. vom 22.07.2022 – VGH B 70/21, Rn. 63, OLG Rostock, Beschluss vom 09.11.2021, Az. 4 U 51/21, Rn. 9; dagegen z.B.: OLG Brandenburg, Beschluss vom 17.08.2022 – 11 U 237/21, BeckRS 2022, 23131, Rn. 19/20; OLG Hamm im Hinweisbeschluss v. 27.07.2022 – 20 U 155/22, BeckRS 2022, 22828, Rn. 13, OLG Karlsruhe, Beschluss vom 19.02.2021, Az. 12 U 80/21, Rn. 9 ff). Eine höchstrichterliche Entscheidung hierzu liegt – im Hinblick auf das Urteil des EuGH vom 09.09.2021 – noch nicht vor.