Titel:
Nachweis der Ursächlichkeit psychisch vermittelter Unfallfolgen
Normenketten:
ZPO § 287 Abs. 1
BGB § 253 Abs. 2
Leitsätze:
Zur Problematik psychisch vermittelter Unfallfolgen (PTBS; anhaltende somatoforme Schmerzstörung).
1. Die Entstehung einer posttraumatischen Belastungsstörung kann nicht allein auf ein subjektiv infolge eines Ereignisses empfundenes großes Leid gestützt werden. Erforderlich ist auch, dass das auslösende Trauma objektiv eine solche außergewöhnliche Bedrohung von katastrophalem Ausmaß darstellt, dass nahezu bei jedem Menschen eine tiefgreifende Verzweiflung ausgelöst werden würde. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ist eine HWS-Verletzung folgenlos ausgeheilt, besteht kein Interesse mehr an einer Feststellungsklage. (Rn. 49) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
HWS, PTBS, Nachweis
Vorinstanzen:
OLG München vom 20.05.2021 – 24 U 37/20
LG Memmingen, Urteil vom 22.11.2019 – 33 O 1196/17
Fundstellen:
NJOZ 2024, 240
BeckRS 2023, 40768
LSK 2023, 40768
r+s 2024, 475
Tenor
1. Das Teil-Versäumnisurteil des Senats vom 20.05.2021, Az. 24 U 37/20, wird aufrechterhalten.
2. Die Klägerin zu 1) hat auch die weiteren Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Dieses Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin zu 1) kann die Vollstreckung durch die Beklagten wegen der Kosten (auch aus dem in Nr. 1 genannten Versäumnisurteil) gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages leisten.
4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.
Entscheidungsgründe
1
Am 02.01.2016 befand sich die Klägerin zu 1) mit ihren beiden damals minderjährigen Kindern, den Klägern zu 2) und 3), im Auto auf dem Weg in den Skiurlaub, als der Beklagte zu 2) auf der A 7 Richtung F. auf Höhe H. auf das am Ende eines Staus stehende klägerische Fahrzeug auffuhr. Bilder des von der Klägerin zu 1) gefahrenen Autos, die dessen Zustand nach dem Auffahrunfall darstellen, finden sich im klägerseits in Auftrag gegebenen Gutachten des Sachverständigen A., das die Beklagten mit der Klageerwiderung als Anlage B 1 eingereicht haben, und in der beigezogenen Ermittlungsakte Tgb.-Nr. BY7573-000005-xxx/x der Autobahnpolizeistation G.
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Die Klägerin zu 1) macht geltend, durch diesen Auffahrunfall erhebliche Gesundheitsschäden erlitten zu haben. Zunächst sei es zu einer HWS-Distorsion mit Streckschonhaltung der gesamten Halswirbelsäule sowie Kopf- und Nackenschmerzen gekommen. Ihr Gesundheitszustand habe sich seither immer weiter verschlechtert. Sie leide unter Kopfschmerzen und häufigen Schwindelattacken. Wegen Schmerzen im Bereich der Hals- und Brustwirbelsäule könne sie täglich nur insgesamt drei Stunden gehen, laufen oder sitzen. Sie verbringe etwa 80% ihres Tages liegend und könne wegen der Beschwerden keine Haushaltstätigkeiten ausüben. Eine Berufstätigkeit in einer Kaffeerösterei habe sie nur vom 15.11.2016 bis zum 15.04.2017 in Teilzeit (30 Stunden pro Woche) ausüben können; das Arbeitsverhältnis sei dann beendet worden.
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Aufgrund dieses Unfalls machten im erstinstanzlichen Verfahren geltend:
- die Klägerin zu 1): materiellen Schadensersatz in Höhe von 19.098,78 € (Heilbehandlungskosten, Haushaltsführungsschaden und entgangener Verdienst, da unfallbedingt eine neue unbefristete Arbeitsstelle mit einem Bruttogehalt von 2.800,00 € nicht zum 01.02.2016 habe angetreten werden können; der Fahrzeugschaden wurde außergerichtlich erstattet), Schmerzensgeld in Höhe von nicht weniger als 18.000,00 € (über die vorgerichtlich bereits geleisteten 2.000,00 € hinaus) sowie die Feststellung, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet seien, ihr aus dem streitgegenständlichen Unfall entstehende weitere materielle und immaterielle Schäden zu ersetzen;
- der Kläger zu 2): Heilbehandlungskosten in Höhe von 2.148,45 € (Kosten für die Behandlung zweier Zehenfrakturen, die durch einen infolge des Auffahrunfalls herabgestürzten Laptop entstanden sind), Schmerzensgeld in Höhe von nicht weniger als 7.500,00 € (über die vorgerichtlich geleisteten 2.500,00 € hinaus) sowie die Feststellung, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet seien, ihm aus dem streitgegenständlichen Unfall entstehende weitere materielle und immaterielle Schäden zu ersetzen;
- der Kläger zu 3): Heilbehandlungskosten in Höhe von 1.357,40 € sowie Schmerzensgeld in Höhe von nicht weniger als 1.000,00 €.
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Nach Beweiserhebung durch Einvernahme zweier Zeugen (in einem Fall durch den ersuchten Richter) sowie Erholung dreier orthopädischer Gutachten der Sachverständigen Dr. W. (je eines betreffend die Klägerin zu 1), den Kläger zu 2) und den Kläger zu 3)) hat das Landgericht aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 15.11.2019 mit Endurteil vom 22.11.2019 (Bl. 214/228 d. A.), den Klägervertretern zugestellt am 04.12.2019,
- der Klägerin zu 1) einen Haushaltsführungsschaden in Höhe von 1.050,00 € nebst Zinsen sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten zugesprochen;
- dem Kläger zu 2) nicht erstattete Heilbehandlungskosten in Höhe von 826,11 € nebst Zinsen, ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 1.000,00 € sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten zugesprochen;
- dem Kläger zu 3) nicht erstattete Heilbehandlungskosten in Höhe von 28,66 €, ein Schmerzensgeld in Höhe von 150,00 € (über eine bereits erfolgt Zahlung in Höhe von 100,00 € hinaus) sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten zugesprochen;
- die Klage im Übrigen abgewiesen.
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Hinsichtlich des streitgegenständlichen Sachverhalts, der vom Landgericht getroffenen Feststellungen und des Inhalts der Entscheidung im Einzelnen wird gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf dieses Urteil Bezug genommen.
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Mit Schriftsatz vom 03.01.2020, eingegangen am selben Tag, legten die Klägervertreter zunächst für alle drei Kläger Berufung ein, die sie nach gewährter Fristverlängerung bis zum 04.03.2020 mit an diesem Tag eingegangenem Schriftsatz hinsichtlich der Klägerin zu 1) und des Klägers zu 2) begründeten, während sie hinsichtlich des Klägers zu 3) erklärten, die Berufungseinlegung sei unwirksam gewesen, da der Kläger zu 3) wegen zwischenzeitlich eingetretener Volljährigkeit nicht mehr durch seine Eltern vertreten worden sei. Mit der Berufungsbegründungsschrift (Bl. 244/253 d. A.) legten die Klägervertreter eine mit „Ärztliche Beurteilung“ überschriebene schriftliche Aussage der Hausärztin der Klägerin zu 1) vom 12.08.2019 (Anlage B 1) sowie die Kopie eines in einem sozialgerichtlichen Verfahren erstatteten, die Klägerin zu 1) betreffenden neurochirurgischen Gutachtens des Sachverständigen Dr. U. vom 06.11.2019 (Anlage B 2) vor. Während die Klägerin zu 1) erstinstanzlich geltend machte, die von ihr geklagten Beschwerden seien durch ihre infolge des streitgegenständlichen Unfalls erlittenen körperlichen Primärverletzungen vermittelt, weist sie nunmehr auch darauf hin, aus dem neurochirurgischen Gutachten des Sachverständigen Dr. U. ergebe sich der Verdacht auf das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) als Folge des Unfalls (Seiten 6 f. der Berufungsbegründung, Bl. 249 f. d. A.). Mit Schriftsatz vom 15.07.2021 (Seite 6, Bl. 304 d. A.) hat der neue Klägervertreter zudem, gestützt auf eine als Anlage A 2 vorgelegte ärztliche Stellungnahme vom 03.03.2021, ein „posttraumatische[s] Fibromyalgiesyndrom[…] (FMS) nach schwerem Autounfall“ ins Feld geführt.
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Im Übrigen wird hinsichtlich des Vortrags der Klägerin zu 1) im Berufungsverfahren auf die Schriftsätze ihrer Prozessbevollmächtigten vom 04.03.2020 (Bl. 244/253 d. A.), vom 15.07.2021 (Bl. 299/307 d. A.) und vom 11.04.2023 (Bl. 445/450 d. A.) sowie auf die Protokolle der mündlichen Verhandlung vom 29.04.2021 (Bl. 276/278 d. A.) und vom 13.07.2023 (Bl. 460/464 d. A.) Bezug genommen.
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Der Senat hat am 29.04.2021 mit den Parteivertretern sowie der Klägerin zu 1) und dem Kläger zu 2) mündlich verhandelt (Protokoll Bl. 276/278 d. A.). In diesem Verfahren stellte der Klägervertreter für die Klägerin zu 1) keinen Antrag. Mit Teil-Versäumnis- und Teil-Endurteil vom 12.05.2021 (Bl. 280/285 d. A.)
- wies der Senat die Berufung der Klägerin zu 1) zurück (Teil-Versäumnisurteil) und
- änderte bezüglich des Klägers zu 2) das landgerichtliche Urteil dahingehend ab, dass ihm weitere 2.500,00 € Schmerzensgeld zugesprochen werden (einschließlich der vorgerichtlichen Zahlung 5.000,00 €) und dass festgestellt wird, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger zu 2) alle ihm künftig aufgrund des streitgegenständlichen Unfallereignisses vom 02.01.2016 entstehenden materiellen und nicht vorhersehbaren immateriellen Schäden zu ersetzen (- nicht angegriffenes – Teil-Endurteil).
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Gegen dieses ihrem Prozessbevollmächtigten am 27.05.2021 zugestellte Teil-Versäumnisurteil legte die Klägerin zu 1) mit am 08.06.2021 eingegangenem Schriftsatz (Bl. 288 d. A.) Einspruch ein.
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Die Klägerin zu 1) beantragt im Berufungsverfahren:
Unter Aufhebung des Versäumnisurteils vom 20.05.2021 wird auf die Berufung der Klägerin zu 1.) das Urteil des Landgerichts Memmingen vom 22.11.2019 zum Aktenzeichen 33 O 1196/17 abgeändert, soweit es die Klage abgewiesen hat.
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Die Beklagten beantragen im Berufungsverfahren die Zurückweisung der Berufung.
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Hinsichtlich ihres Vortrags im Berufungsverfahren wird auf die Schriftsätze ihres Prozessbevollmächtigten vom 18.05.2020 (Bl. 258/261 d. A.), vom 13.09.2021 (Bl. 313/317 d. A.) und vom 25.01.2023 (Bl. 437 f. d. A.) sowie auf die Protokolle der mündlichen Verhandlung vom 29.04.2021 (Bl. 276/278 d. A.) und vom 13.07.2023 (Bl. 460/464 d. A.) Bezug genommen.
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Der Senat hat nach Eingang des Einspruchs gegen das Versäumnisurteil vom 20.05.2021 mit Beweisbeschluss vom 21.09.2021 (Bl. 320/322 d. A.) ein Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen PD Dr. Sch zur klägerischen Behauptung eines unfallbedingten posttraumatischen Fibromyalgiesyndroms erholt, welches der Sachverständige unter dem 19.12.2022 erstattete (Bl. 336/424 d. A.). Am 13.07.2023 hat er mit den Parteivertretern mündlich verhandelt und in diesem Termin den Sachverständigen PD Dr. Sch zur Erläuterung seines Gutachtens einvernommen. Hinsichtlich des Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll (Bl. 460/464 d. A.) Bezug genommen.
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Auf den von der Klägerin zu 1) form- und fristgerecht (§ 339 Abs. 1, § 340 Abs. 1 und 2 i. V. m. § 539 Abs. 3 ZPO) eingelegten, mithin zulässigen Einspruch gegen das Versäumnisurteil vom 20.05.2021 hin wurde der Prozess in die Lage zurückversetzt, in der er sich vor Eintritt der Säumnis (am 29.04.2021) befand (§ 342 i. V. m. § 539 Abs. 3 ZPO).
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1. Die Berufung der Klägerin zu 1) ist zulässig; der Inhalt ihres Antrags, das angegriffene Urteil des Landgerichts abzuändern, „soweit es die Klage abgewiesen hat“, lässt sich unschwer durch Auslegung ermitteln. Gleiches gilt im Übrigen für den im Berufungsverfahren gestellten Antrag der Beklagten. Mit dem Antrag auf „Zurückweisung der Berufung“ geben die Beklagten unmissverständlich zu verstehen, dass ihr Antrag auf einen vollständigen Misserfolg der von der Klägerin zu 1) eingelegten Berufung hin ausgerichtet ist. Dem entspricht nach dem Erlass des Teil-Versäumnisurteils vom 20.05.2021 dessen Aufrechterhaltung. Der Antrag der Beklagten, die Berufung zurückzuweisen ist daher mit Blick auf das von den Beklagten offenkundig verfolgte Verfahrensziel dahingehend auszulegen, dass sie die Aufrechterhaltung des Teil-Versäumnisurteils beantragt haben.
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2. Die Berufung der Klägerin zu 1) ist unbegründet. Ihr stehen aus dem streitgegenständlichen Unfall vom 02.01.2016 keine Ansprüche zu, die über das zu ihren Gunsten vom Landgericht Ausgeurteilte hinausreichten.
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a) Die von der Klägerin zu 1) geltend gemachten Beschwerden begründeten einen Schadensersatzanspruch gegen die Beklagten (aus § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG oder § 823 Abs. 1 BGB i. V. m. § 249 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1, § 253 Abs. 2 BGB sowie, bezüglich der Beklagten zu 1), i. V. m. § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG und § 1 Satz 1 PflVG) nur dann, wenn diese Beschwerden entweder auf die von der Klägerin zu 1) bei dem streitgegenständlichen Unfall erlittenen körperlichen Primärverletzungen zurückzuführen oder aber durch den Unfall psychisch vermittelt worden wären. Beides ist nicht festzustellen.
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aa) Das vom Landgericht erholte orthopädische Gutachten der Sachverständigen Dr. W. vom 27.05.2019 (Bl. 138/156 d. A.) gelangt aufgrund nachvollziehbarer und überzeugender Diskussion der zahlreich vorliegenden Befunde zu dem Ergebnis, dass die im hiesigen Verfahren von der Klägerin zu 1) geltend gemachten Beschwerden nicht auf ihre durch den Unfall erlittenen körperlichen Primärverletzungen zurückgeführt werden können. Gleiches ergibt sich aus den Ausführungen im von der Klägerin zu 1) selbst im Berufungsverfahren als Anlage B 2 vorgelegten neurochirurgischen Gutachten des Sachverständigen Dr. U. vom 06.11.2019.
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(1) Die Sachverständige Dr. W. führt in ihrem Gutachten (Seiten 15 f., Bl. 153 f. d. A.) nachvollziehbar aus, dass die unmittelbar nach dem Unfall durchgeführten bildgebenden Untersuchungen weder Frakturen noch Instabilitäten oder Brüche erkennen ließen und eine im März 2016 (also etwa zwei Monate nach dem Unfall) durchgeführte Diagnostik an Hals- und Brustwirbelsäule keine Verletzungsanzeichen an der Muskulatur, den Ligamenten oder den Knochen gezeigt habe. Es haben sich demnach nach dem Unfall „keinerlei frische Verletzungszeichen“ gezeigt; ein traumatischer Bandscheibenvorfall an Hals- oder Brustwirbelsäule trete aber nur dann auf, wenn schützende Strukturen verletzt würden, die sich jedoch in einer wenige Monate nach dem Unfallereignis durchgeführten MRT-Untersuchung als vollkommen unauffällig erwiesen hätten. Zwar zeige die Diagnostik der Brustwirbelsäule einen Bandscheibenvorfall auf Höhe Th6/7, der jedoch mangels Verletzung der begleitenden und schützenden Strukturen als nicht unfallbedingt anzusehen sei. Auf dieser Grundlage gelangt die Sachverständige nachvollziehbar zu der Auffassung, dass die Klägerin zu 1) sich „eine folgenlos ausgeheilte HWS-Distorsion zugezogen“ habe, die maximal sechs bis acht Wochen behandlungsbedürftig gewesen sei (Seite 17 des Gutachtens, Bl. 155 d. A.).
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(2) Auch das von der Klägerin selbst mit der Berufung als Anlage B 2 vorgelegte neurochirurgische Gutachten vom 06.11.2019 führt (Seite 12) aus, die in der vorliegenden Schnittbilddiagnostik aus den Jahren 2016 und 2017 vorliegenden Befunde korrelierten nicht mit dem Ausmaß der Funktionsstörungen. Traumatische Veränderungen, die auf den Unfall vom Januar 2016 zurückzuführen wären, seien nicht erkennbar; der auch von der Sachverständigen Dr. W. erwähnte Bandscheibenvorfall könne zum einen keine „starken Rückenschmerzen“ erklären und weise zum anderen radiologisch Verkalkungen auf, was bedeute, dass er mehrere Jahre bestehe.
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(3) Der psychiatrische Sachverständige Dr. Sch gelangt in seinem schriftlichen Gutachten vom 19.12.2022 (Seite 82, Bl. 417 d. A.) ebenfalls nach Diskussion der Vorbefunde zu dem Ergebnis, dass die von der Klägerin zu 1) geklagten Beschwerden „nicht durch einen körperlichen Befund erklärt werden können, sondern praktisch ausschließlich psychogener Natur sind“.
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(4) Vor diesem Hintergrund ist der Senat nicht mit der im Rahmen des § 287 Abs. 1 ZPO erforderlichen deutlich überwiegenden, auf gesicherter Grundlage beruhenden Wahrscheinlichkeit (vgl. dazu etwa BGH vom 21.07.2005 – IX ZR 49/02 – juris Rn. 16) davon überzeugt, dass die von der Klägerin zu 1) geschilderten Beschwerden auf ihre bei dem streitgegenständlichen Unfall erlittenen körperlichen Primärverletzungen zurückgeführt werden können. Letztlich tritt dem die Klägerin zu 1) auch selbst nicht (mehr) entgegen. Im Schriftsatz vom 15.07.2023 (Seite 4, Bl. 302 d. A.) führt ihr Bevollmächtigter vielmehr aus, es sei „unstreitig zu stellen, dass gegebenenfalls nachweisbare Bandscheibendegenerationen nicht traumatischer Natur sind und daher nicht auf den streitbefangenen Verkehrsunfall zurückgeführt werden können. Andererseits sind die durch die Gutachterin Wagner beschriebenen Degenerationen eben nicht geeignet, die von der Klägerin vorgebrachten Funktionsstörungen zu erklären. Plausibel ist hingegen das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) infolge des Auffahrunfalls vom 02.01.2016.“
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bb) Mit diesen Ausführungen stellt die Klägerin zu 1) ihre Argumentation um, indem sie nicht mehr behauptet, die von ihr vorgebrachten Beschwerden seien aus ihrer beim Unfall erlittenen körperlichen Primärverletzung erwachsen; vielmehr macht sie nunmehr geltend, ihre Beschwerden seien psychisch durch den streitgegenständlichen Unfall vermittelt worden. Hierfür sieht der Senat jedoch ebenfalls keine deutlich überwiegende Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 287 Abs. 1 ZPO.
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(1) Mit Blick auf ein von der Klägerin zu 1) geltend gemachtes „posttraumatisches Fibromyalgiesyndrom“ (vgl. Seite 6 des Schriftsatzes vom 15.07.2021, Bl. 304 d. A.) hat der Sachverständige Dr. Sch in seinem schriftlichen Gutachten vom 19.12.2022 (Seite 70, Bl. 405 d. A.) nach gründlicher und nachvollziehbarer Diskussion der problematischen und offenen Frage, ob es ein „Fibromyalgiesyndrom“ im Sinne einer exakten Diagnose überhaupt gibt, ausgeführt: „Die Existenz eines,posttraumatischen Fibromyalgie-Syndroms' ist empirisch nicht belegt. Ganz grundsätzlich kann also nach gegenwärtigem Wissensstand kein kausaler Zusammenhang zwischen einem Unfallereignis wie dem Auffahrunfall vom 02.01.2016 und dem Vorkommen eines,Fibromyalgie Syndroms' mit gerichtlich verwertbarem Beweiswert hergestellt werden. Nicht einmal die Existenz eines,Fibromyalgie-Syndroms' als solches kann aktuell belegt werden und wird von den meisten wissenschaftlich tätigen Psychiatern bestritten.“
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Die Klägerin zu 1) ist diesen verständlichen und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. Sch, denen sich auch der Senat anschließt, nicht entgegengetreten, sondern hat vielmehr im Gegenteil in ihrer Reaktion auf sein Gutachten ausdrücklich erklärt, den gutachterlichen Darstellungen könne „noch insoweit gefolgt werden, wonach die Diagnose eines posttraumatischen Fibromyalgiesyndroms aus wissenschaftstheoretischen Gründen grundsätzlich nicht mit gerichtlich verwertbarer Beweiskraft und ausreichend empirisch belegt werden kann“.
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(2) Die Klägerin zu 1) hat in ihrer Reaktion auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. Sch vielmehr ausschließlich dessen Auffassung bekämpft, eine bei der Klägerin zu 1) infolge des streitgegenständlichen Unfalls entstandene PTBS sei auszuschließen (Seiten 2 bis 5 des Schriftsatzes vom 11.04.2023, Bl. 446/449 d. A.). Dem vermag der Senat insbesondere mit Blick auf die überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. Sch sowohl in seinem schriftlichen Gutachten vom 19.12.2022 als auch in der Verhandlung vom 13.07.2023 nicht zu folgen.
27
(a) Der Sachverständige hat unter zutreffendem Verweis auf den Diagnoseschlüssel F43.1 des im Internet frei abrufbaren ICD-10 ausgeführt, dass die Entstehung einer PTBS nicht allein auf ein subjektiv infolge eines Ereignisses empfundenes großes Leid gestützt werden kann, sondern dass im Sinne einer notwendigen Bedingung (condicio sine qua non) das A-Kriterium für Diagnose einer PTBS ist, dass das auslösende Trauma objektiv eine solche außergewöhnliche Bedrohung von katastrophalem Ausmaß darstellen muss, dass nahezu bei jedem Menschen eine tiefgreifende Verzweiflung ausgelöst werden würde, auch wenn das fragliche Ereignis nicht bei nahezu jedem auch eine PTBS nach sich ziehen muss (vgl. Seiten 73 bis 76 des schriftlichen Gutachtens vom 19.12.2022, Bl. 408/411 d. A., und Seite 3 des Protokolls der Verhandlung vom 13.07.2023, Bl. 462 d. A.).
28
(b) Vor diesem Hintergrund irrt der Klägervertreter, wenn er aus der Formulierung, dass das in Rede stehende Ereignis „nahezu“ bei jedem Menschen eine tiefgreifende Verzweiflung auslösen muss, schließt, dass demnach „nicht bei jedem Menschen das auslösende Trauma von solcher Vehemenz sein“ müsse (Seite 3 des Schriftsatzes vom 11.04.2023, Bl. 447 d. A.). Gemeint ist nicht, dass die Schwelle des A-Kriteriums von Fall zu Fall in Abhängigkeit der individuellen psychischen Disposition unterschiedlich wäre, sondern dass der Umstand dass die – für die Bejahung des A-Kriteriums ausnahmslos erforderliche – katastrophale Bedrohung nicht ausnahmslos bei jedem einzelnen, sondern „nur“ bei „nahezu jedem Betroffenen“ zu einer tiefgreifenden Verzweiflung führt, der Bejahung des A-Kriteriums nicht entgegensteht, wie der Sachverständige auch in der Verhandlung vom 13.07.2023 noch einmal verständlich dargelegt hat.
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(c) Der Sachverständige hat zu Recht ausgeführt, dass die aus der Aktenlage ersichtliche Charakteristik des streitgegenständlichen Unfalls es ausschließt, diesen als Ereignis „mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß“ im Sinne des Eingangskriteriums nach dem Diagnoseschlüssel F43.1 des ICD-10 anzusehen. Dass der psychiatrische Sachverständige Dr. Sch kein Unfallanalytiker ist, steht dem entgegen der Kritik der Klägerin (Seiten 2 f. des Schriftsatzes vom 11.04.2023, Bl. 446 f. d. A.) nicht entgegen.
30
(aa) Der Sachverständige hat aus dem aus der polizeilichen Ermittlungsakte ersichtlichen Schadensbild sowie den Umständen, dass
- der Airbag nicht auslöste,
- der klägerische Pkw nach der Kollision weiterhin fahrbereit war und
- tatsächlich im Anschluss an den Unfall zur Weiterfahrt in den Skiurlaub nach K. genutzt wurde und
- keiner der Insassen eine schwere Verletzung erlitt,
geschlossen, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Unfall „um einen gewöhnlichen Auffahrunfall mit nur mäßiger Geschwindigkeit“ gehandelt habe (Seite 74 des schriftlichen Gutachtens vom 19.12.2022, Bl. 409 d. A., sowie Seite 3 des Protokolls der Verhandlung vom 13.07.2023, Bl. 462 d. A.).
31
(bb) Das ist entgegen der klägerischen Kritik nicht zu beanstanden. Der Senat ist wegen seiner langjährigen Spezialzuständigkeit für Verkehrsunfallsachen ständig mit dem Schadensbild von Verkehrsunfällen befasst und kann auf dieser Grundlage (wie im Übrigen auch aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung seiner Mitglieder) sicher einschätzen, dass die aus der Anlage B 1 wie aus der polizeilichen Ermittlungsakte ersichtlichen Bilder der Heckpartie des klägerischen Fahrzeugs nach dem Unfall keinen Zustand nach Auffahrunfall mit einer Geschwindigkeit von 80 bis 100 km/h zeigen, wie von der Klägerin zu 1) behauptet. Es ist vielmehr – auch mit Blick auf die weiteren zu (aa) genannten Gesichtspunkte – offenkundig, dass hier nur ein Auffahrunfall mit mäßiger Geschwindigkeit stattgefunden hat wie er sich ohne größere Folgen häufig bei Anfahrten auf ein Stauende zu ereignet. Der Senat tritt dem Sachverständigen Dr. Sch darin bei, dass es sich hierbei keinesfalls – in der Formulierung des Diagnoseschlüssels F43.1 des ICD-10 – um „ein belastendes Ereignis […] mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß“ handelt, das „bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“.
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(d) Da es sich bei dem Trauma- oder A-Kriterium um eine notwendige Bedingung (condicio sine qua non) für die Diagnose einer PTBS handelt und dieses Kriterium nicht vorliegt, kommt es auf die Kritik der Klägerin zu 1) an der Verneinung auch der weiteren Kriterien durch den Sachverständigen Dr. Sch (Seiten 4 f. des Schriftsatzes vom 11.04.2023, Bl. 448 f. d. A.) nicht mehr an.
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(3) Auch die Ausführungen des Sachverständigen Dr. Sch zu einer bei der Klägerin zu 1) vorliegenden anhaltenden somatoformen Schmerzstörung im Sinne des Diagnoseschlüssels F45.4 des ICD-10 (Seiten 85 bis 89 des schriftlichen Gutachtens vom 19.12.2022, Bl. 420/424 d. A.; Seiten 3 f. des Protokolls der Verhandlung vom 13.07.2023, Bl. 462 f. d. A.) können der Berufung schließlich nicht zum Erfolg verhelfen.
34
(a) Zunächst ist festzuhalten, dass die Klägerin bis zuletzt selbst nicht vorgetragen hat, sie habe infolge des streitgegenständlichen Unfalls eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung erlitten. Sie hat sich diese Ausführungen des Sachverständigen Dr. Sch auch nicht zu eigen gemacht und damit hilfsweise konkludent vorgetragen; vielmehr erschöpft sich ihre Reaktion auf das schriftliche Gutachten des Sachverständigen Dr. Sch (Schriftsatz vom 11.04.2023, Bl. 445/450 d. A.) darin, die Verneinung einer PTBS durch den Sachverständigen anzugreifen.
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(b) Aber selbst wenn man die bloße Symptomschilderung der Klägerin zu 1) unabhängig von ihrer Einordnung in die Systematik psychischer Erkrankungen und Störungen für ausreichend hielte, führte das nicht zum Erfolg der Berufung.
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(aa) Der Senat ist nicht mit der gemäß § 287 Abs. 1 ZPO erforderlichen deutlich überwiegenden Wahrscheinlichkeit davon überzeugt, dass die von der Klägerin zu 1) geschilderten Beschwerden überhaupt bestehen.
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(aaa) Der Senat ist zunächst sowohl aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen Dr. Sch (Seiten 56 f., 64 f. und 85 des schriftlichen Gutachtens vom 19.12.2022, Bl. 391 f., 399 f.und 420 d. A.; Seite 3 des Protokolls der Verhandlung vom 13.07.2023, Bl. 462 d. A.) als auch aufgrund der Ausführungen im von der Klägerin zu 1) selbst im Berufungsverfahren als Anlage B 2 vorgelegten neurochirurgischen Gutachten des Sachverständigen Dr. U. vom 06.11.2019 (dort Seite 8) davon überzeugt, dass bei der Schilderung ihrer Beschwerden durch die Klägerin zu 1) eine erhebliche Aggravation vorliegt, die Schmerzen also jedenfalls nicht in der vorgetragenen Stärke bestehen.
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(bbb) Darüber hält es der Senat nicht einmal für deutlich überwiegend wahrscheinlich im Sinne des § 287 Abs. 1 ZPO, dass die von der Klägerin zu 1) geklagten Beschwerden überhaupt bestehen. Ebenso gut ist es aus Sicht des Senats möglich, dass die Klägerin zu 1) ihre Beschwerden lediglich simuliert.
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α) Der Sachverständige Dr. S. hat bereits in seinem schriftlichen Gutachten vom 19.12.2022 (Seite 57, Bl. 392 d. A.) darauf hingewiesen, dass „eine Simulation zumindest als nicht ausschließbar in die differentialdiagnostischen Überlegungen mit einbezogen werden“ habe müssen. In der Verhandlung vom 13.07.2023 (Seite 3 des Protokolls, Bl. 462 d. A.) hat der Sachverständige erklärt, der Nachweis einer Simulation sei nicht zu führen; ausgeschlossen sei sie nicht. Er erklärte weiter, auch wenn die von der Klägerin zu 1) geklagten Schmerzen nicht körperlichen, sondern psychischen Ursprungs seien, müsste die Schmerzsituation bei ihr unabhängig davon, ob sie sich beobachtet oder unbeobachtet wähnt, gleich bleiben.
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β) Vor diesem Hintergrund sieht der Senat keine deutlich überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die darlegungs- und beweisbelastete Klägerin zu 1) die von ihr vorgebrachten Beschwerden nicht simuliert. Der Sachverständige Dr. Sch, der auf den Senat nicht nur aufgrund seines schriftlichen Gutachtens, sondern auch aufgrund seines Auftretens in der Verhandlung vom 13.07.2023 einen überaus sorgfältigen Eindruck machte, hat in seinem schriftlichen Gutachten (Seite 56, Bl. 391 d. A.) ausgeführt, „der sorgfältigen Beobachtung der körperlichen Bewegungsmöglichkeiten und Funktionsfähigkeit gerade in Situationen, in denen sich die Probandin nicht in einer körperlichen Untersuchungssituation befand und sich demzufolge unbeobachtet wähnte, besondere Bedeutung beigemessen“ zu haben. Seine diesbezüglichen Beoachtungen beschreibt der Sachverständige sodann (a. a. O.) wie folgt: „In Momenten, in denen sich die Probandin von dem Untersucher beobachtet fühlte, wurde der Rollator meist zum Gehen benutzt bzw. konnte die Probandin ohne Rollator nur kurze Gehstrecken mit nach außen deutlich vorgebrachten Mühen und Anstrengungen und nur sehr schleppend zurückgelegen [!], während sie in aus ihrer Sicht unbeobachteten Momenten ein für den Untersucher unauffälliges Gangbild bot.“
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Das deckt sich insofern mit den eigenen Beobachtungen des Senats, als das Gangbild der Klägerin zu 1) beim Wiedereintreten in den Sitzungssaal nach einer Unterbrechung der Sitzung vom 29.04.2021 (Protokoll Bl. 276/278 d. A.) nach der Erinnerung aller Senatsmitglieder flüssig und leicht wirkte. Das tatsächliche Vorhandensein der klägerseits geltend gemachten Leiden kann vor diesem Hintergrund nicht als deutlich überwiegend wahrscheinlich im Sinne des § 287 Abs. 1 ZPO angesehen werden.
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(bb) Selbst wenn man, anders als der Senat, annehmen wollte, die von der Klägerin zu 1) vorgebrachten Beschwerden seien mit deutlich überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht simuliert, sondern lediglich aggraviert, könnten sie nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht auf den streitgegenständlichen Unfall zurückgeführt werden.
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(aaa) Der Senat verkennt nicht, dass der (mit Äußerungen zu Rechtsfragen ohnehin nicht beauftragte) Sachverständige Dr. Sch in seinem schriftlichen Gutachten (Seite 86, Bl. 421 d. A.) unzutreffenderweise angenommen hat, die Beurteilung der Kausalität des streitgegenständlichen Unfalls für die von der Klägerin zu 1) geschilderten Beschwerden richte sich nach der im Sozialrecht maßgeblichen „Theorie der wesentlichen Bedingung“ (vgl. etwa BSG vom 03.07.2012 – B 1 KR 22/11 R – juris Rn. 17).
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(bbb) Aus den auf sein Fachgebiet bezogenen Ausführungen des Sachverständigen sowohl in seinem schriftlichen Gutachten (Seiten 85 bis 88, Bl. 420/423 d. A.) als auch in der Verhandlung vom 13.07.2023 (Seiten 3 f. des Protokolls, Bl. 462 f. d. A.) ergibt sich jedoch eindeutig, dass der streitgegenständliche Autounfall auch nicht im Sinne der für das Zivilrecht maßgeblichen „Äquivalenztheorie“ als notwendige Bedingung für die von der Klägerin zu 1) geklagten Beschwerden angesehen werden kann, so dass es auf eine Einschränkung der „Äquivalenztheorie“ durch die Aspekte der Adäquanz und des Schutzzwecks der Norm (vgl. zum Ganzen Grüneberg in Grüneberg, BGB, 82. Aufl. 2023, vor § 249 Rn. 25 ff. m. w. N.) nicht ankommt.
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α) Der Sachverständige Dr. Sch hat in seinem Gutachten (Seiten 80 ff., Bl. 415 ff. d. A.) überzeugend ausgeführt, dass die Beschwerden der Klägerin zu 1) ausschließlich psychogener Natur und auf eine persönlichkeitsbedingte psychische Fehlverarbeitung der Trennung von ihrem Ehemann durch die Klägerin zu 1) zurückzuführen seien. Bei der Klägerin zu 1) liege eine Unfähigkeit, im eigenen Gemüt zu lesen (Alexithymie) vor, weshalb psychische Probleme nicht als solche adressiert werden könnten, woraus sich so-matoforme Störungen entwickeln könnten. Aus der in Bezug genommenen Passage des Gutachtens ergibt sich schlüssig, dass die vor dem streitgegenständlichen Unfall erfolgte Trennung der Klägerin zu 1) von ihrem Ehemann und die daraus für sie resultierenden nachteiligen Folgen als Ursache ihrer so-matoformen Störung anzusehen sind.
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β) Demgegenüber führt der Sachverständige unmissverständlich aus, der „nach objektiven Kriterien eher harmlose“ streitgegenständliche Auffahrunfall sei „von seiner Art her nicht geeignet, derart umfassende und lange andauernde psychische Gesundheitsschäden wie das mehrjährige Vorkommen einer,anhaltenden somatoformen Schmerzstörung' mit schweren Funktionseinbußen im Alltagsleben hervorzurufen“ (Seite 87 des Gutachtens, Bl. 422 d. A.), weshalb er „allenfalls“ (Seiten 86, 88 und 89 des Gutachtens, Bl. 421, 423 und 424 d. A.) als „Gelegenheitsursache“, als „zufällig hinzukommender Ko-Faktor“ (Seite 80 des Gutachtens, Bl. 415 d. A.) angesehen werden könne.
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γ) Den Begriff des „Ko-Faktors“ bzw. der „Gelegenheitsursache“ hat der Sachverständige sowohl in seinem schriftlichen Gutachten (Seite 84, Bl. 419 d. A.) als auch in der Verhandlung vom 13.07.2023 (Seite 4 des Protokolls, Bl. 463 d. A.) dahingehend erläutert, dass die Klägerin zu 1) lediglich ihre bereits vorbestehende psychische (und von ihr somatisierte) Problematik in das (spätere) streitgegenständliche Unfallgeschehen „hineinprojiziert“ und (fälschlicherweise) darauf bezieht. Damit ist der streitgegenständliche Unfall aber keine notwendige Bedingung (condicio sine qua non) für die von der Klägerin zu 1) geschilderten Beschwerden.
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b) Vor diesem Hintergrund konnte die Berufung der Klägerin zu 1) auch bezüglich ihres Feststellungsantrags und ihres Antrags auf Ersatz von Verdienstausfall keinen Erfolg haben.
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aa) Da die Klägerin zu 1) sich durch den streitgegenständlichen Unfall lediglich eine folgenlos ausgeheilte HWS-Distorsion zugezogen hat (Seite 17 des Gutachtens der Sachverständigen Dr. W., Bl. 155 d. A.), sind, wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, weitere Beeinträchtigungen nicht zu befürchten, so dass kein Feststellungsinteresse im Sinne des § 256 Abs. 1 ZPO besteht.
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bb) Auch einen Verdienstausfall hat das Landgericht zutreffenderweise nicht zugesprochen. Es hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der zwischen der Klägerin zu 1) und ihrem Arbeitgeber getroffene Aufhebungsvertrag mangels Schriftform nichtig war (§§ 623, 125 Satz 1 BGB) und der streitgegenständliche Unfall die Klägerin zu 1) allenfalls bis zu zwei Wochen nach dem anvisierten Arbeitsbeginn an der Erbringung ihrer Arbeitsleistung gehindert hat. Die Klägerin zu 1) hat damit den Verdienstausfall selbst herbeigeführt. Der Einwand der Klägerin zu 1) (Seiten 3 f. der Berufungsbegründung, Bl. 246 f. d. A.), ein schriftlicher Aufhebungsvertrag sei nicht erforderlich gewesen, da der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis innerhalb der Probezeit ohne Weiteres hätte kündigen können, überzeugt nicht. Zum einen war eine Probezeit ausweislich des Arbeitsvertrages, den der Zeuge Z. bei seiner Einvernahme durch das Amtsgericht Frankfurt am Main 23.08.2018 vorgelegt hat (Bl. 91a d. A.) gar nicht vereinbart. Zum anderen ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass der Arbeitgeber den Vertrag wegen einer Verzögerung der Arbeitsaufnahme um lediglich zwei Wochen tatsächlich gekündigt hätte; dagegen spricht im Gegenteil, dass die Klägerin später in derselben Kaffeerösterei in der Zeit vom 15.11.2016 bis zum 15.04.2017 gearbeitet hat.
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1. Da dieses Urteil mit dem Teil-Versäumnisurteil vom 20.05.2021 übereinstimmt, war auszusprechen, dass es aufrechterhalten wird (§ 343 i. V. m. § 539 Abs. 3 ZPO).
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2. Über die Kosten für das Berufungsverfahren wurde bereits mit Teil-Versäumnis- und Teil-Endurteil vom 20.05.2021 entschieden. Soweit nach Erlass des Teil-Versäumnisund Teil-Endurteils im Berufungsverfahren weitere ausscheidbare Kosten entstanden sind, hat sie die Klägerin zu 1) gemäß § 97 Abs. 1 ZPO zu tragen.
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3. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
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4. Ein Grund für die Zulassung der Revision (vgl. § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO) war nicht gegeben.