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OLG München, Endurteil v. 11.01.2024 – 24 U 3811/23 e
Titel:

Fiktive Abrechnung bei Schaden zwischen Wiederbeschaffungsaufwand und -wert

Normenkette:
BGB § 249
Leitsatz:
Die regelmäßig erforderliche mindestens sechsmonatige Weiternutzung des bei einem Verkehrsunfall beschädigten Pkw ist nicht nur dann keine Fälligkeitsvoraussetzung, wenn der Geschädigte einen zwischen Wiederbeschaffungswert und 130% des Wiederbeschaffungswertes liegenden Schaden konkret abrechnet (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 18. November 2008 – VI ZB 22/08 –, BGHZ 178, 338-346), sondern auch dann nicht, wenn der Geschädigte einen zwischen Wiederbeschaffungsaufwand und Wiederbeschaffungswert liegenden Schaden fiktiv abrechnet. (Rn. 9 – 15)
Schlagworte:
Fiktive Abrechnung, 6-monatige Weiternutzung
Vorinstanz:
LG Kempten, Urteil vom 22.08.2023 – 14 O 730/23
Fundstellen:
MDR 2024, 436
LSK 2023, 40757
NJW-RR 2024, 374
BeckRS 2023, 40757
ZfS 2024, 140

Tenor

(abgekürzt gemäß § 313a Abs. 1 Satz 1, § 540 Abs. 2 ZPO)
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 22.08.2023, Az. 14 O 730/23, abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit in der Hauptsache hinsichtlich der beantragten Zahlung von 5.359,33 € sowie der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 160,89 € erledigt ist.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 5.359,33 € für die Zeit vom 18.03.2023 bis einschließlich 11.09.2023 zu bezahlen.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen.
III. Dieses Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

Entscheidungsgründe

I.
1
Gegen das seine Klage als derzeit unbegründet abweisende Urteil des Landgerichts Kempten vom 22.08.2023, Az. 14 O 730/23, seinem Prozessbevollmächtigten zugestellt am 23.08.2023, hat der Kläger mit am 21.09.2023 eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit am 13.10.2023 eingegangenem Schriftsatz begründet. Unter Verweis auf die am 12.09.2023 erfolgte Bezahlung der Hauptsacheforderung und der geltend gemachten außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten hat der Kläger seinen Antrag in der Berufungsinstanz dahingehend abgeändert, dass er hinsichtlich der Hauptsacheforderung und der geltend gemachten vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten die Feststellung der Erledigung und im Übrigen nur noch die Zahlung von Zinsen auf die Hauptforderung für den Zeitraum vom 18.03.2023 bis einschließlich 11.09.2023 beantragt. Der Beklagtenvertreter ist dem entgegengetreten, indem er mit der Berufungserwiderung vom 27.11.2023 die Zurückweisung der Berufung beantragt hat.
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Auf die Verfügung des Berichterstatters vom 28.11.2023 hin erklärten beide Parteivertreter ihr Einverständnis mit der Durchführung eines schriftlichen Verfahrens gemäß § 128 Abs. 2 ZPO (Schriftsätze vom 29. bzw. 30.11.2023), in welchem daher gemäß Beschluss vom 04.12.2023 entschieden wird.
II.
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1. Die gemäß § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO statthafte Berufung gegen das den Kläger beschwerende Urteil des Landgerichts Kempten vom 22.08.2023, Az. 14 O 730/23, ist form- und fristgerecht im Sinne der §§ 517, 519 Abs. 1 und 2, § 520 Abs. 1 bis 3 ZPO eingelegt worden und somit zulässig.
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2. Die Umstellung des Klageantrags in der Hauptsache sowie bezüglich der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten von einem Leistungsantrag zu einem Feststellungsantrag dahingehend, dass der Rechtsstreit insoweit durch die Zahlung vom 12.09.2023 erledigt wurde, ist gemäß § 264 Nr. 2 ZPO nicht als Klageänderung anzusehen (BGH vom 19.06.2008 – IX ZR 84/07 – juris Rn. 8) und daher auch in der Berufungsinstanz ohne Rücksicht auf die Beschränkungen des § 533 ZPO zulässig (vgl. BGH vom 19.03.2004 – V ZR 104/03 – juris Rn. 25).
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3. Die Berufung ist sowohl hinsichtlich des Feststellungsantrags als auch hinsichtlich des verbliebenen Leistungsantrags (bezüglich Zinsen auf die Hauptforderung für die Zeit vom 18.03.2023 bis zum 11.09.2023) begründet.
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a) Die Erledigungserklärung des Klägers hinsichtlich der Hauptsacheforderung und der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten (Seite 2 der Berufungsbegründung vom 13.10.2023) ist einseitig geblieben, da der Beklagtenvertreter ihr nicht zugestimmt hat, sondern ihr mit dem Antrag auf Zurückweisung der Berufung entgegengetreten ist. In der einseitig gebliebenen Erledigungserklärung liegt eine (wie ausgeführt gemäß § 264 Nr. 2 ZPO privilegierte) Klageänderung in eine Feststellungsklage mit der dreifachen klägerischen Behauptung, dass die Klage im Zeitpunkt des nach Auffassung des Klägers erledigenden Ereignisses (1) zulässig und (2) begründet war, jedoch (3) nachträglich durch ein bestimmtes Ereignis nach Rechtshängigkeit (hier: Zahlung am 12.09.2023) unzulässig oder unbegründet geworden sei (vgl. BGH vom 02.03.1999 – VI ZR 71/98 – juris Rn. 12).
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Diese Voraussetzungen liegen vor. Unabhängig davon, ob man (mit dem Landgericht) bei fiktiver Abrechnung eines Unfallschadens in Höhe zwischen Wiederbeschaffungsaufwand und Wiederbeschaffungswert im Erfordernis einer regelmäßig mindestens sechsmonatigen Weiternutzung des Fahrzeugs (vgl. BGH vom 23.05.2006 – VI ZR 192/05 – juris Rn. 8 bis 10) eine Fälligkeitsvoraussetzung sieht oder (mit dem Kläger) nicht, ist die Klage jedenfalls mit Ablauf des Sechsmonatszeitraums während der Berufungsinstanz – da das Auto nach dem von niemandem angegriffenen unstreitigen Tatbestand jedenfalls am 03.03.2023 wieder in einem verkehrssicheren Zustand befand, spätestens seit dem 04.09.2023 – zulässig und begründet gewesen. Die somit jedenfalls seit dem 04.09.2023 bestehenden fälligen klägerischen Zahlungsansprüche (Hauptsachebetrag und vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten) haben sich durch die am 12.09.2023 erfolgte Zahlung erledigt. Der Antrag auf Feststellung der Erledigung in der Hauptsache sowie bezüglich der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten ist also vollumfänglich begründet, ohne dass es insoweit auf die Frage ankommt, ob im Erfordernis einer mindestens sechsmonatigen Weiternutzung des Autos eine Fälligkeitsvoraussetzung liegt oder nicht.
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b) Dem Kläger stehen aus dem Gesichtspunkt des Verzugs auch Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz (§ 288 Abs. 1 BGB) aus dem Hauptsachebetrag in Höhe von 5.359,33 € für die Zeit vom 18.03.2023 bis einschließlich 11.09.2023 zu.
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aa) Das setzt allerdings zunächst voraus, dass der in der Hauptsache beanspruchte Betrag in Höhe von 5.359,33 € am 18.03.2023 bereits zur Zahlung fällig war, was nicht der Fall wäre, wenn es sich bei dem vom Bundesgerichtshof aufgestellten Erfordernis, das Fahrzeug (erforderlichenfalls verkehrssicher teilrepariert) mindestens sechs Monate weiterzunutzen, um einen Reparaturschaden in Höhe zwischen dem Wiederbeschaffungsaufwand und dem Wiederbeschaffungswert fiktiv abrechnen zu können, um eine Fälligkeitsvoraussetzung handelte; dann wäre die Fälligkeit frühestens sechs Monate nach dem Unfall (23.07.2023), spätestens sechs Monate nach Wiederherstellung eines verkehrssicheren Zustands (04.09.2023) eingetreten. Der Senat ist der Auffassung, dass es sich bei dem vom Bundesgerichtshof aufgestellten regelmäßigen Erfordernis der mindestens sechsmonatigen Weiternutzung nicht um eine Fälligkeitsvoraussetzung handelt.
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(1) Entschieden hat der Bundesgerichtshof diese Frage bislang nur für den Fall, dass der Geschädigte einen Unfallschaden, dessen Höhe zwischen dem Wiederbeschaffungswert und 130% des Wiederbeschaffungswertes liegt, konkret abrechnet. Für diesen Fall hat der Bundesgerichtshof (Beschluss vom 18.11.2008 – VI ZB 22/08 – juris Rn. 14 bis 17) in der notwendigen sechsmonatigen Weiternutzung keine Fälligkeitsvoraussetzung gesehen und dies wie in der Berufungsbegründung (Seiten 3 f.) zitiert begründet.
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(2) Der Senat verkennt nicht, dass sich die vom Bundesgerichtshof genannten Gründe gegen die Annahme einer Fälligkeitsvoraussetzung nicht samt und sonders auf den hier gegebenen Fall einer fiktiven Abrechnung eines Unfallschadens (in Höhe zwischen Wiederbeschaffungsaufwand und Wiederbeschaffungswert) übertragen lassen. Der Aspekt, dass es dem Geschädigten nicht zumutbar wäre, die Reparatur seines Fahrzeugs innerhalb dieses Sechsmonatszeitraums entschädigungslos vorzufinanzieren (BGH, a. a. O., juris Rn. 15), käme im hier gegebenen Fall der fiktiven Abrechnung allenfalls insoweit in Betracht, als zur Erlangung der Verkehrssicherheit eine Teilreparatur erforderlich ist.
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(3) Hingegen ist die weitere Argumentation des Bundesgerichtshofs (a. a. O., juris Rn. 16) dahingehend, dass es sich bei der Weiternutzung für sechs Monate lediglich um ein (nur regelmäßig erforderliches) Indiz für das nötige fortbestehende Integritätsinteresse handelt, auf die hiesige Fallkonstellation ohne Weiteres übertragbar. Die vom Bundesgerichtshof angesprochenen Fallgestaltungen, in denen es vor Ablauf des Sechsmonatszeitraums zu einer Nutzungsaufgabe kommt, ohne dass dies dem Schadensersatzanspruch entgegenstünde – weiterer Unfall, aus finanziellen Gründen (z. B. Arbeitslosigkeit) erzwungene Nutzungsaufgabe – sind hingegen bei der hier geltend gemachten fiktiven Abrechnung im Bereich zwischen Wiederbeschaffungsaufwand und Wiederbeschaffungswert genauso denkbar wie in der vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fallkonstellation einer konkreten Abrechnung im Bereich zwischen Wiederbeschaffungswert und 130% des Wiederbeschaffungswertes.
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(4) Vor diesem Hintergrund vertritt – worauf der Kläger in der Berufungsbegründung (Seite 4) hingewiesen hat – auch W., ein früheres Mitglied des 6. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs, in einer literarischen Stellungnahme die Auffassung, dass die sechsmonatige Weiternutzung auch in der hiesigen Konstellation keine Fälligkeitsvoraussetzung darstellt (NJW 2012, 7/8). Wie vom Kläger in der Berufungsbegründung (Seite 4) nachgewiesen, wird diese Auffassung auch in der amts- und landgerichtlichen Rechtsprechung teilweise vertreten (vgl. etwa AG Lübeck vom 13.01.2011 – 22 C 2797/10 – juris Rn. 16; AG Langenfeld vom 14.12.2015 – 34 C 249/15 – juris Rn. 3 f.).
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(5) Dieser Auffassung stehen entgegen den Ausführungen im landgerichtlichen Urteil (Seite 3) auch nicht die Urteile des Bundesgerichtshofs vom 29.04.2008 (VI ZR 220/07 – juris) und vom 23.11.2010 (VI ZR 35/10 – juris) entgegen. In beiden Fällen hat der Geschädigte das beschädigte Auto aus freien Stücken vor Ablauf des Sechsmonatszeitraums weiterveräußert und damit sein Integritätsinteresse, das erst eine fiktive Abrechnung im Bereich zwischen Wiederbeschaffungsaufwand und Wiederbeschaffungswert rechtfertigt, selbst widerlegt. Die Frage, ob das Verstreichen des Sechsmonatszeitraums eine Fälligkeitsvoraussetzung ist, stellte sich damit in diesen Fällen von vornherein nicht.
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(6) Der Senat schließt sich der oben zu (4) genannten Auffassung an, weil zum einen die vom Bundesgerichtshof für den Fall einer konkreten Abrechnung gegen die Annahme einer Fälligkeitsvoraussetzung ins Feld geführten Argumente (vgl. oben zu (3)) jedenfalls teilweise auf die hier gegebene Konstellation einer fiktiven Abrechnung übertragbar sind; zum anderen dient die Gleichbehandlung dieser Fallkonstellationen dazu, die Rechtsprechung zum Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall nicht unnötigerweise noch weiter zu verkomplizieren.
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bb) Der Kläger hat die Zahlung des Hauptsachebetrags mit E-Mailschreiben vom 07.03.2012 (Anlage K 3) mit Frist bis zum 17.03.2023 angemahnt, so dass die Beklagte mit Beginn des 18.03.2023 in Verzug geraten ist, weshalb der Betrag von da an bis zur am 12.09.2023 erfolgten Zahlung gemäß § 288 Abs. 1 BGB zu verzinsen war.
III.
17
1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
18
2. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 708 Nr. 10, § 713 ZPO.
19
3. Ein Grund für die Zulassung der Revision (vgl. § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO) war nicht gegeben.