Titel:
Erfolgloser Berufungszulassungsantrag in asylrechtlichem Streitverfahren
Normenketten:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 2, Nr. 3, Abs. 4 S. 4
VwGO § 86 Abs. 1, § 108 Abs. 2, § 138 Nr. 3
Leitsätze:
1. Eine auf tatsächliche Verhältnisse gestützte Grundsatzrüge erfordert auch die Angabe konkreter Anhaltspunkte dafür, dass die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen etwa im Hinblick auf hierzu vorliegende gegensätzliche Auskünfte oder abweichende Rechtsprechung einer unterschiedlichen Würdigung zugänglich sind. (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO begründet grundsätzlich keinen Gehörsverstoß oder einen sonstigen Verfahrensmangel iSd § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG iVm § 138 VwGO. Das gilt auch insoweit, als der gerichtlichen Aufklärungsverpflichtung verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylstreitverfahren, grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, Divergenz, Verletzung rechtlichen Gehörs, Darlegungsanforderungen, tatsächliche Verhältnisse, Einzelfall, Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht, divergenzfähiges Gericht
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 17.05.2023 – M 13 K 19.33678
Fundstelle:
BeckRS 2023, 40671
Tenor
I. Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 17. Mai 2023 – M 13 K 19.33678 – wird abgelehnt.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
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Der Antrag der Klägerin, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zuzulassen, bleibt ohne Erfolg.
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Die geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG), der Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) und der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) sind nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechend dargelegt.
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1. Um die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache darzulegen, muss der Rechtsmittelführer eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formulieren, zudem ausführen, weshalb diese Frage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, ferner erläutern, weshalb die formulierte Frage klärungsbedürftig ist, und schließlich darlegen, weshalb ihr eine über die einzelfallbezogene Rechtsanwendung hinausgehende Bedeutung zukommt (BayVGH, B.v. 22.6.2017 – 6 ZB 17.30679 – Rn. 3; B.v. 16.2.2017 – 6 ZB 16.1586 – juris Rn. 25 m.w.N.). Eine auf tatsächliche Verhältnisse gestützte Grundsatzrüge erfordert überdies die Angabe konkreter Anhaltspunkte dafür, dass die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen etwa im Hinblick auf hierzu vorliegende gegensätzliche Auskünfte oder abweichende Rechtsprechung einer unterschiedlichen Würdigung zugänglich sind (BayVGH, B.v. 12.6.2018 – 6 ZB 18.31347 – Rn. 3; B.v. 10.1.2018 – 6 ZB 18.30037 – Rn. 4; OVG NW, B.v. 23.2.2017 – 4 A 685/14.A – juris Rn. 5). Diesen Anforderungen genügt der Zulassungsantrag nicht.
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Es fehlt bereits an der Formulierung einer konkreten Frage, deren Klärung allgemeine Bedeutung zukommen könnte.
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Die Klägerin wirft als grundsätzlich bedeutsam allenfalls sinngemäß die Frage auf, ob angesichts der problematischen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Nigeria ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen sei. Diese Frage ist jedoch nicht geeignet, eine generelle („grundsätzliche“) Klärung im Sinn von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG herbeizuführen oder zu befördern, weil sie in der Regel nur nach den persönlichen Kriterien und Lebensumständen der betroffenen Person und damit einzelfallbezogen beantwortet werden kann. Sollte sie auf eine allgemeine Gefährdung aller Rückkehrer abzielen, so fehlt es ausgehend von den – strengen – rechtlichen Maßstäben für die Feststellung eines der in Rede stehenden Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG an der Angabe konkreter Anhaltspunkte dafür, dass die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen etwa im Hinblick auf hierzu vorliegende gegensätzliche Auskünfte oder abweichende Rechtsprechung einer unterschiedlichen Würdigung zugänglich sind. Insbesondere zu der erforderlichen Gefahrendichte (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – NVwZ 2013, 1167) legt die Zulassungsschrift nichts Stichhaltiges dar. Dies wäre jedoch ungeachtet der Kürze der Begründung des angegriffenen Urteils geboten gewesen. Der bloße Hinweis der Klägerin darauf, dass etwa zwei Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebten, genügt hierfür nicht.
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2. Auch für die behauptete Abweichung von obergerichtlicher Rechtsprechung (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) ist nichts dargelegt. Es wird nicht in der erforderlichen Weise (vgl. BayVGH, B.v. 6.11.2017 – 6 ZB 17.1011 – juris Rn. 27; B.v. 18.5.2016 – 6 ZB 15.2785 – juris Rn. 28 m.w.N.) ein inhaltlich bestimmter, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts tragender Rechts- oder Tatsachensatz benannt, mit dem das Verwaltungsgericht von einem in der Rechtsprechung eines der in § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG genannten Divergenzgerichte in Anwendung derselben Vorschrift aufgestellten und entscheidungstragenden Rechts- oder Tatsachensatz abgewichen sein soll.
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Die Klägerin rügt, das Verwaltungsgericht habe weder die Abschiebungsandrohung noch das Einreise und Aufenthaltsverbot aufgehoben und sei damit von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (B.v. B.v. 15.2.2023 – C 484/22) abgewichen, wonach das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen bereits bei Erlass der Rückkehrentscheidung zu berücksichtigen seien.
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Beim Europäischen Gerichtshof handelt es sich jedoch schon nicht um ein divergenzfähiges Gericht im Sinn des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG. Darauf, ob das Verwaltungsgericht den vom Gerichtshof aufgestellten Anforderungen im Einzelfall ausreichend und zutreffend Rechnung getragen hat, kommt es bei der Zulassungsentscheidung nicht an (vgl. BayVGH, B.v. 5.6.2023 – 11 ZB 23.30200 – juris Rn. 7; B.v. 1.8.2023 – 6 ZB 22.31073 – juris Rn. 35). Abgesehen davon, dass weder vorgetragen noch sonst ersichtlich ist, dass den Eltern oder Geschwistern der Klägerin ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland zustehen und sich daher aus Gründen des Wohls des Kindes und seiner familiären Bindungen ein inländisches Abschiebungsverbot zugunsten der Klägerin ergeben könnte, sind ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils als Zulassungsgrund in der abschließenden und gegenüber § 124 VwGO vorrangigen Regelung des § 78 Abs. 3 AsylG nicht vorgesehen.
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3. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der Verletzung rechtlichen Gehörs (§ (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) greift ebenfalls nicht durch.
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Das Gebot rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dieses fundamentale Prozessgrundrecht ist allerdings erst dann verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Denn grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Beteiligtenvorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Sie sind dabei nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Deshalb müssen, um einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO festzustellen, im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (vgl. BVerfG, B.v. 19.5.1992 – 1 BvR 986/91 – BVerfGE 86, 133/145 f.; B.v. 25.9.2020 – 2 BvR 854/20 – NVwZ-RR 2021, 131 Rn. 26).
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Die Zulassungsschrift legt schon nicht dar, inwieweit das Gericht Ausführungen der Klägerin bzw. ihrer Eltern nicht zur Kenntnis genommen und erwogen haben soll. Hierfür ist auch nichts ersichtlich. Ausweislich der vorgelegten Gerichtsakte wurde die Klage nicht begründet und ist in der mündlichen Verhandlung für die Klagepartei niemand erschienen. Soweit der Zulassungsantrag beanstandet, „wesentliche Umstände bezüglich der Lebensunterhaltssicherung“ seien nicht gewertet worden, wird nicht dargelegt, welche Umstände dies sein sollen.
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Die Zulassungsschrift beanstandet weiter, das Gericht habe die Akten der Eltern und Geschwister der Klägerin nicht beigezogen und daher zu Unrecht auf die Urteile in deren Verfahren Bezug genommen. Zudem sei dem Urteil nicht zu entnehmen, ob das Gericht davon ausgehe, dass in Nigeria eine Lebensgrundlage für die Klägerin und ihre Familie bestehe. Mit diesem Vorbringen zielt sie (wohl) auf eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO, die jedoch grundsätzlich keinen Gehörsverstoß oder einen sonstigen Verfahrensmangel im Sinn des § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 VwGO begründet. Das gilt auch insoweit, als der gerichtlichen Aufklärungsverpflichtung verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt (vgl. BayVGH, B.v. 29.12.2017 – 6 ZB 17.31951 – Rn. 3; B.v. 8.2.2011 – 9 ZB 11.30039 – juris Rn. 3; OVG NW, B.v. 17.11.2015 – 4 A 1439/15.A – juris, Rn. 7 f.). Im Übrigen kann eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht grundsätzlich dann nicht geltend gemacht werden, wenn ein anwaltlich vertretener Beteiligter, wie hier die Klägerin, es in der mündlichen Verhandlung unterlassen hat, selbst auf eine eingehende Erörterung bestimmter, für entscheidungserheblich erachteter Umstände hinzuwirken und sich so das ihm zustehende Gehör nicht verschafft hat, obwohl ihm dies möglich und zumutbar war (vgl. BVerfG, B.v. 10.2.1987 – 2 BvR 314/86 – BVerfGE 74, 220/225). Denn die Rüge unzureichender Sachaufklärung ist kein Mittel, um insbesondere das Unterlassen der Ausschöpfung bestehender Verfahrensrechte in der mündlichen Verhandlung zu kompensieren (vgl. BVerwG, B.v. 16.4.2012 – 4 B 29.11 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 4.9.2017 – 6 ZB 17.1325 – juris Rn. 6). Der Sache nach werden auch hier lediglich ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidung geltend gemacht, die im Asylverfahren nicht zur Zulassung der Berufung führen können.
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Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 78 Abs. 5 Satz 1 AsylG).
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG; Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.
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Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).