Inhalt

VGH München, Beschluss v. 21.12.2023 – 2 N 21.2595
Titel:

Normenkontrollantrag gegen technische Baubestimmungen

Normenketten:
VwGO § 47
BayBO Art. 63, Art. 81a
Leitsätze:
1. Ist nach dem Regelungszusammenhang von Gesetz und normkonkretisierender Vorschrift (hier: Art. 81a, 63 BayBO und BayTB) noch eine Entscheidung des Normanwenders über das Vorliegen eines Regel- oder eines Ausnahmefalls vorgesehen, lässt sich eine generelle Verbindlichkeit und damit der Charakter einer Rechtsvorschrift nicht bejahen. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Antragsrecht gegen eine Norm steht nur demjenigen zu, dessen Belange bei der Entscheidung über den Erlass oder den Inhalt der Norm als privates Interesse in der Abwägung berücksichtigt werden mussten. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Statthaftigkeit eines Normenkontrollantrags gegen technische Baubestimmungen, Antragsbefugnis von nur mittelbar Betroffenen, Instandhaltung von Betonbauwerken, Bayerische Technische Baubestimmungen (BayTB), Außenrechtswirkung von Verwaltungsvorschriften, normkonkretisierende Vorschrift
Fundstellen:
DVBl 2025, 40
BeckRS 2023, 40646
LSK 2023, 40646

Tenor

I. Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt haben, wird das Verfahren eingestellt. Im Übrigen wird der Normenkontrollantrag abgelehnt.
II. Die Antragstellerinnen tragen die Kosten des Verfahrens jeweils zu einem Drittel.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Antragstellerinnen können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, sofern nicht der Antragsgegner vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
V. Der Streitwert wird auf 75.000,-- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerinnen wenden sich gegen bestimmte im dortigen Abschnitt A.1 enthaltene Bayerische Technische Baubestimmungen (BayTB), die Anforderungen an die Instandhaltung von Betonbauwerken bzw. Anforderungen an den Schutz und die Instandsetzung von Betonbauteilen betreffen.
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Sie sind nach eigenen Angaben deutsche Hersteller von Instandhaltungsprodukten und die führenden Anbieter für diese Produkte in Bayern. Die BayTB seien einschließlich der darin in Bezug genommenen technischen Regel Instandhaltung (TR Instandhaltung) sowie der DAfStb-Richtlinie – Schutz und Instandsetzung von Betonbauteilen (RL Instandsetzung) als Rechtsvorschriften, die im Rang unter dem Landesgesetz stehen, zulässiger Gegenstand eines Normenkontrollantrages. Es handle sich um eine abstrakt-generelle Regelung mit Außenwirkung. Ihnen werde über den gesetzlichen Anwendungsbefehl in der Bayerischen Bauordnung verordnungsgleiche Wirkung verliehen. Die Antragstellerinnen seien auch antragsbefugt. Sie könnten geltend machen, in ihrer Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG verletzt zu sein. Darüber hinaus komme auch eine Berufung auf einen Verstoß gegen das Behinderungsverbot nach Art. 8 Abs. 4 der Verordnung (EU) Nr. 305/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2011 zur Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Vermarktung von Bauprodukten und zur Aufhebung der RL 89/106/EWG des Rates (BauPVO) in Betracht.
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Sie beantragten zuletzt,
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die im Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 21. September 2020, auf den insoweit Bezug genommen wird, auf den Seiten 3 und 4 im Einzelnen bezeichneten Bayerischen Technischen Baubestimmungen, Ausgabe Juni 2022, für unwirksam zu erklären.
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Der Antragsgegner hält den Antrag wegen fehlender Antragsbefugnis für unzulässig.
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Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
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1. Die Entscheidung kann im Beschlussweg ergehen, weil der Senat eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (§ 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Aus dem Zusammenwirken von § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO und Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK ergibt sich nichts anderes, nachdem die Antragstellerinnen nicht Adressaten der angegriffenen Verwaltungsvorschriften sind und sich im Kern auf Art. 12 Abs. 1 GG und nicht auf das Eigentumsgrundrecht berufen.
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2. Der Antrag ist unzulässig. Er ist unstatthaft (a), außerdem fehlt den Antragstellerinnen die Antragsbefugnis (b).
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a) Ein Normenkontrollantrag nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO – ein Fall von § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO scheidet hier ersichtlich aus – ist in Bayern (Art. 4 Satz 1 BayAGVwGO) statthaft, wenn er sich gegen eine landesrechtliche Vorschrift richtet, die im Rang unter einem Gesetz im formellen Sinne steht. Der Begriff der Rechtsvorschrift wird dahingehend ausgelegt, dass es sich um geschriebene, abstrakt-generelle Regelungen handeln muss, die auf eine unmittelbare Außenwirkung zielen und daher Rechte des Normunterworfenen oder anderen Rechtssubjekten unmittelbar berühren. Sinn und Zweck des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO legen nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 20.11.2003 – 4 CN 6/03 – BVerwGE 119, 217) insoweit ein weites Verständnis nahe: Die Normenkontrolle diene der Rechtsklarheit und der ökonomischen Gestaltung des Prozessrechts. Ihr Zweck liege darin, durch eine einzige Entscheidung eine Reihe von Einzelklagen zu vermeiden und dadurch die Verwaltungsgerichte zu entlasten. Durch sie werde gegebenenfalls einer Vielzahl von Prozessen vorgebeugt, in denen die Gültigkeit einer bestimmten Rechtsvorschrift als Vorfrage zu prüfen wäre. Überdies sei sie geeignet, den individuellen Rechtsschutz zu verbessern (BVerwG, U.v. 25.11.1993 – 5 N 1. 92 – juris Rn. 92). Das Bundesverwaltungsgericht trägt der Grundtendenz, die in § 47 Abs. 1 VwGO nach dieser Rechtsprechung zum Ausdruck kommen soll, dadurch Rechnung, dass es auch Regelungen, die anhand formeller Kriterien nicht oder nicht eindeutig als Rechtsnormen zu qualifizieren sind, vom Kreis der Rechtsvorschriften nicht von vornherein ausschließt (etwa BVerwG, U.v. 25.11.2012 – 3 BN 1.12 – juris Rn. 4).
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Teilweise werden demgegenüber grundsätzliche Bedenken geltend gemacht, ob Verwaltungsvorschriften im Wege der Normenkontrolle nach § 47 VwGO angefochten werden können, da es sich nicht um Rechtsnormen handelt (Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, 2. Auflage 2017, Art. 55 BV, Rn. 66). Das soll auch dann gelten, wenn sie normkonkretisierend wirken (OVG Koblenz, B.v. 17.9.2020 – 2 C 10889/20 – DÖV 2021, 135). Ausnahmen lässt die Rechtsprechung bei Verwaltungsvorschriften zu, die angeblich subjektiv-öffentliche Rechte des Bürgers unmittelbar berühren. Diese im Vordringen befindliche Meinung, die die Möglichkeit einer Außenrechtswirkung von Verwaltungsvorschriften bejaht, ist nicht zweifelsfrei: Sie sprengt die vom Gewaltenteilungsprinzip geforderte Maxime der ausschließlich gesetzesgebundenen Rechtssetzung (mit Außenwirkung) durch die Exekutive, schwächt das Demokratieprinzip, untergräbt den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes und erhöht die ohnehin schon vorhandene Komplexität öffentlich-rechtlicher Handlungsformen (Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, 2. Auflage 2017, Art. 55 BV, Rn. 64).
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Insgesamt werden in Bezug auf Verwaltungsvorschriften von der wohl überwiegenden Rechtsprechung differenzierte Ansätze vertreten. Klar soll zunächst sein, dass allgemeine Verwaltungsvorschriften, die dazu bestimmt sind, verwaltungsintern das Handeln nachgeordneter Behörden zu binden und zu steuern, keine mit der Normenkontrolle angreifbare Rechtsvorschriften sind (BVerwG, B.v. 26.9.2012 – 3 BN 1/12 – VR 2013, 106). Dagegen soll Verwaltungsvorschriften Außenwirkung zukommen, wenn und soweit sie normkonkretisierend mit Anspruch auf strikte Beachtung durch den Normanwender einschließlich der Gerichte wirken (Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, § 47 Rn. 23 unter Berufung auf BVerwG, U.v. 28.10.1998 – 8 C 16/96 – BVerwGE 107, 338). Denn insoweit sollen die Regelungen den Einzelnen im gleichen Maße wie Satzungen oder Rechtsverordnungen auch belasten. Das soll insbesondere etwa dann der Fall sein, wenn ein materielles Gesetz auf die Verwaltungsvorschrift verweist und auf diesem Wege zwingend das Verhältnis zum Normanwender regelt (Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, § 47 Rn. 23 unter Berufung auf BayVGH, B.v. 12.2.2021 – 7 NE 21.434 – NVwZ-RR 2021, 668, zur Bayerischen Ferienordnung, wobei es sich dabei in der Sache tatsächlich um eine Rechtsverordnung handeln dürfte).
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Bei einer pauschalen Betrachtung einer normkonkretisierenden Vorschrift ist daher Vorsicht geboten. In seinen Entscheidungen vom 24. November 2021 (Az. 2 N 19.1938 und 2 N 21.2173 – jeweils juris) hatte der Senat vertreten, dass die dort inmitten stehenden Bestimmungen der BayTB (A.3.2.1) in Verbindung mit Anhang 8 (ABG) nach ihrem Inhalt darauf ausgerichtet seien, im Außenverhältnis in derselben Weise in subjektive Rechte einzugreifen, wie das auch bei sonstigen Rechtsvorschriften im Sinn von § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO der Fall ist. Ihnen komme insoweit unmittelbare Außenwirkung jedenfalls für die am Bau Beteiligten zu. Denn Art. 81a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BayBO, der auf die Technischen Baubestimmungen (BayTB) verweist, konkretisiere nach seinem Wortlaut die sich aus Art. 3 Satz 1, Art. 15 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 2 Satz 1 BayBO ergebenden Anforderungen an Anlagen und sehe insoweit eine Beachtenspflicht vor. Jedenfalls bei den hier inmitten stehenden BayTB wird die Beachtenspflicht jedoch nur dem Grunde nach statuiert. Von den BayTB kann abgewichen werden, wenn mit einer anderen Lösung in gleichem Maße die allgemeinen Anforderungen des Art. 3 Satz 1 BayBO erfüllt werden und in der BayTB eine Abweichung nicht ausgeschlossen ist (Art. 81a Abs. 1 Satz 2 BayBO). Die Bauaufsichtsbehörden können im Rahmen ihrer Entscheidungen zur Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe anstatt auf die BayTB grundsätzlich auch auf allgemein anerkannte Regeln der Technik zurückgreifen, die keine BayTB sind (vgl. Vorbemerkungen 1 BayTB Ausgabe Juni 2022). Nach Abschnitt A 1.1. BayTB sind die technischen Regeln nach Abschnitt A 1.2 BayTB zwar grundsätzlich zu beachten, eine Abweichung hiervon wird aber nicht ausdrücklich (zu diesem Erfordernis Busse/Kraus/Hofer, BayBO, Loseblatt, Stand Februar 2023, Art. 81a, Rn. 54) ausgeschlossen. Daneben verbleibt im Übrigen die Möglichkeit einer Abweichung nach Art. 63 BayBO, auch wenn die BayTB selbst eine Abweichung ausschließen sollten (Busse/Kraus/Hofer, 149. EL Januar 2023, BayBO Art. 81a Rn. 54). Damit ist nach dem Regelungszusammenhang der Art. 81a und 63 BayBO und der BayTB im hier zu entscheidenden Fall noch eine Entscheidung des Normanwenders über das Vorliegen eines Regel- oder eines Ausnahmefalls, der eine Abweichung rechtfertigt, vorgesehen, sodass sich eine generelle Verbindlichkeit und damit der Charakter einer Rechtsvorschrift nicht bejahen lässt (Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, § 47 Rn. 23).
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b) Die Normenkontrolle kann nur erheben, wer durch die Rechtsvorschrift oder ihre Anwendung eine Rechtsverletzung erlitten oder in absehbarer Zeit zu erwarten hat (§ 47 Abs. 2 VwGO). Diese Voraussetzung muss schlüssig dargelegt werden. Das Erfordernis, mit der Normenkontrolle eine Rechtsverletzung geltend zu machen (vgl. § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO) ist § 42 Abs. 2 VwGO entlehnt. Erforderlich, aber auch ausreichend ist es daher, dass der Antragsteller hinreichend substantiiert Tatsachen vorträgt, die es zumindest möglich erscheinen lassen, dass er durch die Norm in seinen Rechten verletzt wird (BVerwG, U.v. 10.3.1998 – 4 CN 6/97 – NVwZ 1998, 732). Wenn eine Rechtsverletzung offensichtlich und eindeutig ausscheidet, muss die Antragsbefugnis verneint werden. Darüber hinaus muss auch eine gewisse Beeinträchtigungsintensität vorliegen. Wann das der Fall ist, lässt sich nicht einheitlich, sondern nur in Ansehung der Gegebenheiten des konkreten Einzelfalles entscheiden (BVerwG, B.v. 19.2.1992 – 4 NB 11/91 – NJW 1992, 2844). Ein zur Antragstellung im Normenkontrollverfahren berechtigender Nachteil – worauf es nach der alten Fassung des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO ankam – wurde angenommen, wenn der Antragsteller durch die angegriffene Norm in seinen rechtlich geschützten Interessen beeinträchtigt wurde. Ausgeschlossen bleiben sollten in jedem Falle Beeinträchtigungen rein wirtschaftlicher oder ideeller Interessen (BayVGH, U.v. 30.8.1984 – 22 N 84 A.1515 – NJW 1985, 1180). Für die aktuelle Fassung des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO kann auf die früher ergangene Rechtsprechung zurückgegriffen werden (Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 47 Rn. 160).
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Die Antragstellerinnen sind nicht Adressaten der angegriffenen Regelungen. Abschnitt A 1 – Mechanische Festigkeit und Standsicherheit – der BayTB umfasst u. a. die Eurocodes zu den Grundlagen für die Tragwerksplanung, zu den Einwirkungen auf Bauwerke sowie zur Bemessung. Aus deren Anwendung ergibt sich, welche Merkmale und konkreten Leistungen die verwendeten Produkte am Bauwerk zur Erfüllung der bauwerksbezogenen Anforderungen ausweisen müssen. Gemäß Art. 3 und Art. 10 BayBO muss jede bauliche Anlage im Ganzen, in ihren einzelnen Teilen und für sich allein standsicher sein. Die Standsicherheit anderer baulicher Anlagen und die Tragfähigkeit des Baugrundes der Nachbargrundstücke dürfen nicht gefährdet werden. Darüber hinaus dürfen die während der Errichtung und Nutzung möglichen Einwirkungen keine Beschädigungen anderer Teile des Bauwerks oder Einrichtungen und Ausstattungen infolge zu großer Verformungen der tragenden Baukonstruktion zur Folge haben. Zur Erfüllung dieser Anforderungen an bauliche Anlagen sind die technischen Regeln nach diesem Abschnitt im Grunde – auch wenn Abweichungen gestattet werden können – zu beachten. Sie richten sich ausschließlich an die am Bau Beteiligten, zu denen die Antragstellerinnen unter keinem Gesichtspunkt zu rechnen sind.
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aa) Eine Berufung auf Grundrechte bleibt den Antragstellerinnen dennoch grundsätzlich unbenommen. Das Grundrecht der freien Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 GG), das im hier zu entscheidenden Fall inmitten steht, wird aber nicht unmittelbar betroffen, da es (nur) um Bedingungen und Modalitäten geht, unter denen sich ein Beruf vollzieht. Die Antragstellerinnen berufen sich daher auf eine faktische oder mittelbare Grundrechtsbeeinträchtigung. Eine solche kann jedoch die Antragsbefugnis nur unter bestimmten, hier nicht gegebenen Voraussetzungen eröffnen. Dies ergibt sich sowohl aus der überwiegenden Rechtsprechung zu dieser Thematik als auch aus der überwiegenden Rechtsprechung zu der hier einschlägigen Fallgruppe.
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Nach geltendem Recht und der dazu ergangenen Rechtsprechung sind im Wesentlichen drei Gesichtspunkte der Antragsbefugnis entgegenzuhalten. Nach der grundlegenden, auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gestützten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu mittelbaren bzw. faktischen Grundrechtsbeeinträchtigungen lösen solche Beeinträchtigungen nur ausnahmsweise ein Antragsrecht aus, wenn sie von staatlicher Seite final und grundrechtsspezifisch erfolgen (U.v. 18.4.1985 – 3 C 34/84 – BVerwGE 71, 183/194). Dies ist dann der Fall, wenn der Staat zielgerichtet gewisse Rahmenbedingungen verändert, um zulasten bestimmter Unternehmen einen im öffentlichen Interesse erwünschten Erfolg herbeizuführen. Anderenfalls handelt es sich – als Rechtsreflex – um gesellschaftliche Rahmenbedingungen, deren Dynamik der Unternehmer stets in Rechnung stellen muss. Wie oben näher dargestellt wurde, umfasst die Frage der Standsicherheit von Bauwerken bestimmte Beteiligte und ihre Rechtsbeziehungen. Nur innerhalb dieses Kreises können dem Antragsgegner finale Einwirkungsabsichten unterstellt werden. Für die Antragstellerinnen, die nicht zu diesem Kreis gehören, werden dabei Rahmenbedingungen gesetzt, mit deren Veränderung sie jederzeit rechnen müssen.
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Nach der ebenfalls grundlegenden Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts betreffend den Zusammenhang zwischen dem Verfahrensrecht und dem materiellen Recht (B.v. 9.11.1979 – 4 N 1/78 – BVerwGE 59, 87; fortgeführt etwa von BVerwG, B.v. 10.3.1993 – 3 B 113/92 – DVBl 1994, 478) ist davon auszugehen, dass ein Antragsrecht gegen eine Norm demjenigen und nur demjenigen zusteht, dessen Belange bei der Entscheidung über den Erlass oder den Inhalt der Norm als privates Interesse in der Abwägung berücksichtigt werden mussten. Kernfrage ist daher, ob der Antragsgegner bei erstmaliger Schaffung der BayTB bzw. ihren jeweiligen Änderungen die Belange der Antragstellerinnen hätte berücksichtigen müssen. Zu berücksichtigen sind die öffentlichen Interessen an der Standsicherheit von baulichen Anlagen, aber nicht darüber hinaus auch die Interessen derjenigen Firmen, die auf diesem Gebiet gewissermaßen als Zulieferer tätig werden. Im Übrigen spricht auch das praktische Interesse an einem wirksamen Vollzug für diese Sichtweise. Die Statuierung elementarer sicherheitsrechtlicher Anforderungen an die Standsicherheit von baulichen Anlagen und die dabei zu berücksichtigenden Belange sind komplex genug; müssten bei Technischen Baubestimmungen daneben noch letztlich monetäre Interessen der als Zulieferer tätigen Unternehmen berücksichtigt und austariert werden, nähme die Schwerfälligkeit übermäßig zu und der Gestaltungsspielraum übermäßig ab.
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Im Besonderen sind solche privaten Belange nicht berücksichtigungsbedürftig, die deshalb nicht schutzwürdig sind, weil sich ihr Träger vernünftigerweise darauf einstellen muss, dass „so etwas geschieht“ (BVerwG, B.v. 9.11.1979 – 4 N 1/78 – BVerwGE 59, 87). Damit ist wiederum das Thema der Rahmenbedingungen berührt, mit deren Veränderung ein Unternehmer jederzeit rechnen muss. Im Anschluss an diese Grundsatzentscheidung hat sich eine zahlreiche und gefestigte Rechtsprechung zu einer auch hier einschlägigen Fallgruppe herausgebildet, die wie folgt umschrieben werden kann: Eine Regelung verbietet oder beschränkt die Verwendung eines bestimmten Produktes, und der Hersteller oder Anbieter des Produkts wendet sich dagegen mit einem Normenkontrollantrag. Ob es sich bei dem Produkt um eine Ware oder eine Dienstleistung handelt, ist dabei rechtlich nicht von Bedeutung. Solche Anträge wurden überwiegend als unzulässig beurteilt (etwa BayVGH, B.v. 29.4.1980 – 135 XIV 78 – BayVBl 1980, 537; BayVGH, B.v. 30.11.1995 – 8 N 95.3030 – BayVBl 1996, 180; Hess. VGH, B.v. 28.7.1988 – 11 N 873/85 – juris; BayVGH, B.v. 28.6.2005 – 20 CE 05.1142 – juris; BayVGH, U.v. 22.9.2005 – 20 N 05.1564 – juris).
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Soweit der VGH Baden-Württemberg in seiner Entscheidung vom 7. Oktober 2020 (Az. 8 S 2959/18 – juris) eine Antragsbefugnis von Herstellern von Spanplatten gegen technische Baubestimmungen, die deren Verwendung verbieten bzw. beschränken, bejaht, vermag dies nicht zu überzeugen, nachdem er hierfür ohne Berücksichtigung der oben angeführten Gesichtspunkte ausschließlich die Berufung auf eine mittelbare Beeinträchtigung von Art. 12 Abs. 1 GG ausreichen lässt. Auch in den Entscheidungen des Senats vom 24. November 2021 (Az. 2 N 19.1938 und 2 N 21.2173 – jeweils juris), mit denen eine Antragsbefugnis bei einem der Entscheidung des VGH Baden-Württemberg vergleichbaren Sachverhalt bejaht wurde, wurden diese Gesichtspunkte nicht berücksichtigt, sodass an der dortigen Rechtsauffassung nicht mehr festgehalten wird.
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bb) Eine Antragsbefugnis ergibt sich auch nicht aus Art. 8 Abs. 4 oder 6 der Verordnung (EU) Nr. 305/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9.3.2011 (im Folgenden: BauPVO) bzw. aus einem Zusammenspiel der beiden Vorschriften. Nach Absatz 4 der Vorschrift darf ein Mitgliedstaat in seinem Hoheitsgebiet oder in seinem Zuständigkeitsbereich die Bereitstellung auf dem Markt oder die Verwendung von Bauprodukten, die die CE-Kennzeichnung tragen, weder untersagen noch behindern, wenn die erklärten Leistungen den Anforderungen für diese Verwendung in dem betreffenden Mitgliedstaat entsprechen. Nach Absatz 2 der Vorschrift passen die Mitgliedstaaten die Verfahren, die sie in ihren Anforderungen an Bauwerke verwenden, sowie andere nationale Regeln in Bezug auf die wesentlichen Merkmale von Bauprodukten an die harmonisierten Normen an. Die Antragstellerinnen berufen sich auf einen Verstoß gegen das Behinderungsverbot und behaupten darüber hinaus eine Verletzung der Anpassungspflicht.
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Bei der BauPVO handelt es sich um eine unionsrechtliche Verordnung im Sinne von Art. 288 Abs. 2 AEUV, die in Deutschland unmittelbar gilt. Welche weiteren Voraussetzungen eine Norm des Gemeinschaftsrechts erfüllen muss, um dem Einzelnen ein Recht einzuräumen, ist noch nicht abschließend geklärt. Grundsätzlich müssen auch gemeinschaftsrechtlich begründete Rechtspositionen im Weg des nationalen Verfahrens- und Prozessrechts durchgesetzt werden (EuGH Slg. 1999, I – 223 Rz. 32 Upjohn Ltd./The Licensing Authority; Ruthig, BayVBl. 1997, S. 289). Vom Gemeinschaftsrecht ist dabei vorgegeben, dass der nationale Rechtsschutz diskriminierungsfrei und effektiv sein muss; die Ausübung der Gemeinschaftsrechte darf nicht praktisch unmöglich gemacht werden (grundlegend EuGH Rs. 199/82, Slg. 1983, 3595 San Giorgio). Gegen diese Vorgaben verstößt grundsätzlich die verwaltungsprozessuale Vorschrift des § 47 Abs. 2 VwGO auch dann nicht, wenn sie im Sinn der Schutznormtheorie gehandhabt wird (Burgi, Verwaltungsprozess- und Europarecht, München 1996, S. 65). Nach der Schutznormtheorie kommt es darauf an, ob der Rechtssatz nur die Allgemeinheit oder zumindest auch den einzelnen schützen soll. Die Schutzrichtung des Rechtssatzes ist durch Auslegung zu ermitteln. Die BauPVO ist ein Rechtsakt zur Produktharmonisierung innerhalb der Europäischen Union, der der Errichtung und Verwirklichung eines Binnenmarktes dient (Held/Jaguttis/Rupp, BauPVO, 2019, Einf., Rn. 1). Art. 8 Abs. 4 BauPVO ist die für die Wirksamkeit der BauPVO insgesamt zentrale Vorschrift (Held/Jaguttis/Rupp, BauPVO, 2019, Art. 8, Rn. 22). Konkret folgt aus der Vorschrift, dass Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich der BauPVO Anforderungen an die Leistung von Bauprodukten nur noch anhand der gemeinsamen Fachsprache (Kommission, KOM(2008) 311 endg., S. 3) festlegen dürfen. Anforderungen an die Leistung von Bauprodukten werden anhand von Leistungsstufen, -klassen oder einer Beschreibung festgelegt, die der Hersteller erklären muss, damit er sein Bauprodukt für den fraglichen Verwendungszweck in dem jeweiligen Mitgliedstaat vermarkten darf (Held/Jaguttis/Rupp, BauPVO, 2019, Art. 8, Rn. 24). Die Vorschrift dient damit allgemeinen Interessen der Europäischen Union, nämlich der Statuierung eines Binnenmarktes und der Durchsetzung der Warenverkehrsfreiheit. Ein individuell geschütztes privates Interesse, die Art seiner Verletzung und der Kreis der unmittelbar geschützten Personen werden demgegenüber noch nicht einmal ansatzweise klargestellt und abgegrenzt. Soweit die Antragstellerinnen eine mögliche Verletzung von Art. 8 Abs. 6 BauPVO geltend machen, fehlt es nach der Schutznormlehre ebenfalls an einer subjektiven Rechtsposition, auf die sie sich berufen könnten. Diese Vorschrift richtet sich nach ihrem Wortlaut allein an die Mitgliedstaaten und begründet eine Verpflichtung dieser zur Anpassung der nationalen Vorschriften an die gemeinsame Fachsprache. Eine subjektive Rechtsposition der Antragstellerinnen wird hierdurch nicht begründet.
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Eine klare Dogmatik der subjektiven Gemeinschaftsrechte hat der Europäische Gerichtshof bislang nicht entwickelt. Aus seiner neueren Rechtsprechung kann möglicherweise entnommen werden, dass er Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts in großzügigerer Weise Rechte einzelner entnimmt, als das mit Hilfe der Schutznormtheorie bei deutschen Gesetzen geschieht. Dem Gerichtshof reicht es teilweise aus, um Rechte einzelner begründet zu sehen, wenn im Gemeinschaftsrecht auf personenbezogene Rechtsgüter Bezug genommen wird (Schach, NVwZ 1999, 457). Eine EU-Verordnung wäre danach daraufhin zu überprüfen, ob sie unmittelbar Rechte und Pflichten Einzelner begründet (Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 42 Rn. 400). Aber auch nach dieser Vorgehensweise ergibt sich kein anderes Ergebnis. Weder Art. 8 Abs. 4 BauPVO noch Art. 8 Abs. 6 BauPVO lassen eine Bezugnahme auf personenbezogene Rechtsgüter erkennen, sodass hieraus keine Begründung von Rechten Einzelner gefolgert werden kann. Vielmehr geht es um die Festlegung einer gemeinsamen Fachsprache und um die Beachtenspflicht des Vorrangs bzw. der Ausschließlichkeit der unionsrechtlichen Fachsprache durch die Behörden der Mitgliedstaaten. Entgegen dem VGH Baden-Württemberg (U.v. 7.10.2020 – 8 S 2959/18 – juris; offen gelassen von BayVGH, U.v. 24.11.2021 – 2 N 19.1938 und 2 N 21.2173 – jeweils juris) entfalten Art. 8 Abs. 4 und 6 BauPVO damit keinen drittschützenden Charakter, der eine Antragsbefugnis der Antragstellerinnen begründen würde. Die dortige Bezugnahme auf die überaus umfänglichen Erwägungsgründe, die zum Erlass der BauPVO geführt haben (ABl. L 88 vom 4.4.2011, S. 5), überzeugt nicht. Für die Auslegung einer Vorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgebend, so wie er sich dem Wortlaut und dem Sinnzusammenhang der Bestimmung entnehmen lässt; nicht entscheidend ist hingegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder (Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 42 VwGO, Rn. 391 mit umfänglichen Rechtsprechungsnachweisen). Folgerichtig ist zur Durchsetzung der Regelungen in Art. 8 BauPVO das Vertragsverletzungsverfahren einschlägig (etwa EuGH, U.v. 16.10.2014 – Rs. C-100/13 – EuZW 2014, 957 – Kommission/Deutschland).
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 159 Satz 1 und § 161 Abs. 2 VwGO.
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4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 173 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
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5. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 52 Abs. 1 und 8 GKG.
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6. Gründe für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.