Inhalt

OLG München, Endurteil v. 26.01.2023 – 24 U 1742/21
Titel:

Keine sittenwidrige Schädigung des Erwerbers eines mit Thermofenster und Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung ausgestatteten Mercedes-Diesel-Fahrzeugs (hier: Mercedes-Benz GLK 220 BlueTec 4Matic)

Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
VO (EG) Nr. 715/2007 Art. 5
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
Leitsätze:
1. Vgl. auch zur Thematik des "Thermofensters" bei Mercedes-Fällen grundlegend BGH BeckRS 2021, 847; BeckRS 2021, 30607 sowie BGH BeckRS 2022, 12054; BeckRS 2022, 12451; BeckRS 2022, 7010; BeckRS 2021, 33847; BeckRS 2021, 33038; BeckRS 2021, 31797 mit zahlreichen weiteren Nachweisen in dortigem Ls. 1; OLG München BeckRS 2021, 39386; OLG Stuttgart; OLG Karlsruhe BeckRS 2022, 34840. (redaktioneller Leitsatz)
2. Vgl. auch zur Thematik der "Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung" bei Mercedes-Fällen grundlegend BGH BeckRS 2021, 33038; BeckRS 2021, 38651; BeckRS 2022, 7010; BeckRS 2022, 12628; BeckRS 2022, 14779 sowie OLG Koblenz BeckRS 2020, 9935; BeckRS 2021, 51800; BeckRS 2022, 25058; BeckRS 2022, 25061; BeckRS 2022, 25064; BeckRS 2022, 25076; OLG Schleswig BeckRS 2020, 37024; OLG Brandenburg BeckRS 2021, 7532; OLG München BeckRS 2021, 29932; OLG Karlsruhe BeckRS 2022, 34840; anders OLG Köln BeckRS 2021, 10226. (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Umstellung vom kleinen Schadensersatzanspruch auf den großen, verbunden mit Anträgen auf Verurteilung zur Leistung Zug um Zug und auf Feststellung des Annahmeverzugs ist nach § 264 Nr. 2 ZPO nicht als Klageänderung anzusehen und wird daher auch in der Berufungsinstanz nicht durch § 533 ZPO ausgeschlossen. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
4. Selbst wenn entsprechend der in den Schlussanträgen des Generalanwaltes Rantos vertretenen Auffassung davon ausgegangen würde, die RL 2007/46/EG solle (auch) das Interesse des individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs schützen, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, handelte es sich bei den zur Umsetzung der Richtlinie erlassenen § 6 und § 27 EG-FGV nicht um Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, OM 651, unzulässige Abschalteinrichtung, Sittenwidrigkeit, Thermofenster, Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung, (keine) Prüfstandserkennung, (keine) Erkenntnis eines möglichen Gesetzesverstoßes, Generalanwalt, Schlussanträge
Vorinstanz:
LG Memmingen, Urteil vom 26.02.2021 – 32 O 710/20
Fundstelle:
BeckRS 2023, 405

Tenor

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Memmingen vom 26.02.2021, Az. 32 O 710/20, wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Memmingen ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Entscheidungsgründe

1
I. Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit dem Erwerb eines Fahrzeugs mit Dieselmotor.
2
Der Kläger erwarb von dem Autohaus H. & W. GmbH in I. am 21.04.2018 (Anlage K 1) einen Gebrauchtwagen Mercedes-Benz GLK 220 BlueTec 4Matic (Erstzulassung 22.01.2015) mit einer Laufleistung von 51.654 km zu einem Kaufpreis von 28.825,00 €. In dem Fahrzeug ist ein von der Beklagten hergestellter Dieselmotor der Baureihe OM 651 (Schadstoffklasse Euro 6) verbaut. Für das streitgegenständliche Fahrzeug besteht ein amtlicher Rückruf seitens des Kraftfahrt-Bundesamts (KBA), der allerdings nicht bestandskräftig ist. Der Kilometerstand am 13.01.2023 lag bei 80.336 km.
3
Der Kläger hat im Verfahren vor dem Landgericht Memmingen geltend gemacht, der in seinem Fahrzeug verbaute Motor der Baureihe OM 651 sei mit unzulässigen Abschalteinrichtungen versehen. Da ihn die Beklagte vorsätzlich sittenwidrig geschädigt habe, könne er Rückzahlung des Kaufpreises abzüglich einer Nutzungsentschädigung Zug um Zug gegen Übereignung des Fahrzeugs verlangen. Bezüglich des Sach- und Streitstands der ersten Instanz wird auf den Tatbestand des Ersturteils vom 26.02.2021 Bezug genommen .
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Das Landgericht hat die auf Erstattung des kleinen Schadensersatzes nach Ermessen des Gerichts, jedoch mindestens von 7.206,25 €, sowie auf Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten gerichtete Klage mit dem angegriffenen Urteil abgewiesen. Es bestünden keine vertraglichen oder vertragsähnlichen Ansprüche. Mit deliktischen Ansprüchen könne ein kleiner Schadensersatzanspruch nicht begründet werden. Zudem bestehe insgesamt kein Anspruch aus vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung sowie aus § 823 Abs. 2 BGB i.V. m. § 263 StGB, §§ 6, 27 EG-FGV oder aus § 831 BGB.
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Mit der form- und fristgerecht eingelegten Berufung macht der Kläger nunmehr den großen Schadensersatzanspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises abzüglich einer Nutzungsentschädigung Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs sowie die Feststellung des Annahmeverzugs sowie weiterhin die Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten geltend.
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Er beanstandet, das Landgericht habe ein unvertretbares Normverständnis der Beklagte zugrunde gelegt; diese habe im Bewusstsein gehandelt, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden. Die Beklagte sei ihrer sekundären Darlegungslast nicht nachgekommen, indem sie nicht substantiiert dargelegt habe, wieso kein sittenwidriges vorsätzliches Verhalten vorgelegen haben soll. Es gebe zudem weitere Erkenntnisse zur Funktionsweise des „Thermofensters“ und der „Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung“.
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Der Kläger beantragt in der Berufungsinstanz zuletzt:
1. Die Beklagte wird unter Abänderung des am 26.02.2021 verkündeten Urteils des Landgerichts Memmingen, Az.: 32 O 710/20 verurteilt, an die Klagepartei € 26.844,65 nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz zu bezahlen, Zug-um-Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs Mercedes-Benz GLK 220 BlueTEC 4MATIC, Baujahr 2014 mit der Fahrzeugidentifikationsnummer …11.
2. Unter Abänderung des am 26.02.2021 verkündeten Urteils des Landgerichts Memmingen, Az.: 32 O 710/20 wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Rücknahme des in Ziffer 1 benannten Fahrzeugs im Annahmeverzug befindet.
3. Die Beklagte wird unter Abänderung des am 26.02.2021 verkündeten Urteils des Landgerichts Memmingen, Az.: 32 O 710/20 verurteilt, die Klagepartei von den durch die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten der Klagepartei entstandenen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von € 729,23 freizustellen.
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Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
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Hinsichtlich des Vorbringens der Parteien in der Berufungsinstanz wird auf die eingegangenen Schriftsätze Bezug genommen.
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Der Senat hat gemäß Beweisbeschluss vom 09.07.2021 (Bl. 287/289 d. A.) eine behördliche Auskunft des Kraftfahrt-Bundesamts vom 10.05.2022 (Bl. 298/300 d. A.) eingeholt. Er hat mit den Parteivertretern am 13.01.2023 mündlich verhandelt.
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II. Die Berufung des Klägers ist zulässig, aber unbegründet. Das angefochtene Urteil des Landgerichts Memmingen weist weder entscheidungserhebliche Rechtsfehler zum Nachteil des Klägers auf noch rechtfertigen die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung (§ 513 Abs. 1 ZPO).
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1. Die Umstellung vom kleinen Schadensersatzanspruch auf den großen, verbunden mit Anträgen auf Verurteilung zur Leistung Zug um Zug und auf Feststellung des Annahmeverzugs ist nach § 264 Nr. 2 ZPO nicht als Klageänderung anzusehen und wird daher auch in der Berufungsinstanz nicht durch § 533 ZPO ausgeschlossen.
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2. Ein Anspruch des Klägers aus Verschulden bei Vertragsschluss gemäß §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2, Abs. 3 BGB besteht nicht. Ein solcher Anspruch würde voraussetzen, dass die Beklagte als Vertreterin des Verkäufers wirtschaftlich betrachtet gleichsam in eigener Sache tätig geworden wäre (BGH, Urteil v. 13.06.2002 - VI ZR 30/01 -, NJW-RR 2002, 1309; Grüneberg, BGB, 81. Auflage, § 311 BGB Rn. 61) oder dass sie im Zug der Verhandlungen über den Kaufvertrag eine über das normale Verhandlungsvertrauen hinausgehende, von ihr persönlich ausgehende Gewähr für die Seriosität und die Erfüllung des Geschäfts oder die Richtigkeit und Vollständigkeit seiner Erklärungen geboten hat, die für den Willensentschluss des anderen Teils bedeutsam gewesen ist (BGH a.a.O., Grüneberg a.a.O., § 311 Rn. 63). Diese Voraussetzungen sind im Streitfall nicht erfüllt, zumal der Kläger das Fahrzeug aus zweiter Hand von einem Händler erworben hat.
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3. Dem Kläger steht ein Anspruch aus §§ 826, 31 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung gegen die Beklagte nicht zu.
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Der Kläger beruft sich insoweit darauf, dass die Beklagte unzulässige Abschalteinrichtungen in Form eines sog. Thermofensters und einer Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR) bei Beantragung zur Erlangung der EG-Typgenehmigung gegenüber dem KBA nicht offengelegt habe. Die Beklagte habe im Bewusstsein gehandelt, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden; das von ihr behauptete Normverständnis sei unvertretbar. Der Ausnahmetatbestand i. S. v. Art. 5 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 715/2007 sei nicht einschlägig.
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a) Hinsichtlich des vom Kläger beanstandeten Thermofensters verweist der Senat zunächst auf die Beschlüsse des Bundesgerichtshofs vom 19.01.2021 (VI ZR 433/19 ‒ juris Rn. 13 bis 19) und vom 09.03.2021 (VI ZR 889/20) sowie auf die Urteile des Bundesgerichtshofs vom 13.07.2021 (VI ZR 128/20) und vom 16.09.2021 (VII ZR 190/20, VII ZR 286/20, VII ZR 321/20 und VII ZR 322/20).
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Danach wäre Voraussetzung für ein sittenwidriges Handeln und damit für einen Anspruch des Klägers aus § 826 BGB, dass die Beklagte in Fahrzeugen des vom Kläger erworbenen Typs eine unzulässige Abschalteinrichtung verbaut und diesen Umstand dem KBA als für die Typgenehmigung zuständiger Behörde verschwiegen hat, um sich die begehrte Typgenehmigung zu erschleichen.
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Das Verschweigen offenbarungspflichtiger Umstände hat der Kläger nicht hinreichend substantiiert vorgetragen. Der Vortrag des Klägers, die Beklagte habe das sog. Thermofenster gegenüber dem KBA nicht offengelegt, reicht nicht aus, um eine arglistige Täuschung im oben genannten Sinne darzulegen. Dem Senat ist aus zahlreichen Parallelverfahren und aus veröffentlichten Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte bekannt, dass in den Genehmigungsunterlagen im Zusammenhang mit den Motorenserien OM 642 und OM 651 regelmäßig der Parameter „Ladelufttemperatur“ mit dem Hinweis „kennfeldgesteuert“ genannt wurde (vgl. z. B. OLG Koblenz, Urteil vom 08.02.2021 - 12 U 471/20; OLG Nürnberg, Beschluss vom 27.07.2020 - 5 U 4765/19 - Rn. 17; OLG Köln, Urteil vom 28.11.2019 - 15 U 93/19 - Rn. 29; OLG Frankfurt a. M., Urteil vom 07.11.2019 - 6 U 119/18; OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019 - 10 U 134/19; siehe auch BGH, Beschluss vom 19.01.2021 - VI ZR 433/19, Rn. 22/23 und BGH, Urteil vom 13.07.2021 - VI ZR 128/20). Aus Sicht des Senats hat die Beklagte damit die nach Art. 3 Nr. 9 VO (EG) Nr. 692/2008 zu fordernden Angaben zur Arbeitsweise des AGR-Systems gemacht. Im Ergebnis ist der Vorwurf, die Beklagte habe den Kläger durch das Inverkehrbringen der mit einem Thermofenster ausgestatteten Fahrzeuge vorsätzlich und sittenwidrig geschädigt (§ 826 BGB), nicht begründet.
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bb) Der Kläger hat im Verfahren vor dem Landgericht schon nicht substantiiert dargelegt, dass die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR) auf dem Prüfstand in anderer Weise arbeite als im realen Fahrbetrieb; damit liegt keine Prüfstanderkennung vor. Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte relevante Angaben gegenüber dem KBA verschwiegen oder die Funktionsweise der KSR verschleiert haben könnte, sind nicht ersichtlich.
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cc) Auf die Frage, ob das Normverständnis der verantwortlichen Mitarbeiter der Beklagten nach heutigem Erkenntnisstand vertretbar ist, kommt es nicht an. Anhaltspunkte dafür, dass zur Zeit der Beantragung und Erteilung der Typgenehmigung für das am 22.01.2015 erstmals zum Verkehrs zugelassene Fahrzeug das von Landgericht angenommene Verständnis hinsichtlich der Auslegung der Normen der Verordnung (EG) 715/2007 bestand, ergeben sich gerade im Hinblick auf die Auskunft des KBA vom 10.05.2022 nicht. Beispielsweise war dem KBA bekannt, dass jedes Fahrzeug mit Dieselmotor und Abgasrückführung über eine temperaturbedingte AGR-Regelung (sog. „Thermofenster“) verfügt.
21
Eine sekundäre Darlegungslast der Beklagten besteht insoweit - anders als für die Frage einer Kenntnis von Vorstandsmitgliedern, wenn hinreichende Anhaltspunkte für die Kenntnis zumindest eines Vorstandsmitglieds von einer getroffenen strategischen Entscheidung vorliegen (vgl. BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19 -, BGHZ 225, 316-352) - nicht. Wollte man dies anders sehen, hat die Beklagte durch die Ausführungen auf S. 10/31 des Schriftsatzes vom 15.06.2022 ausreichend über die Erwägungen der Beklagte bei der Entwicklung des SCR-Systems für PKW vorgetragen und die technischen Herausforderungen der AdBlue-Dosierung dargelegt.
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dd) Dass einzelne Mitarbeiter der Beklagten vom AG Böblingen wegen Betrugs in zahlreichen Fällen im Zusammenhang mit dem Abgas-Skandal verurteilt wurden, genügt nicht zur Darlegung der Voraussetzungen einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung, die der Beklagten zuzurechnen wäre. Die Verurteilungen sind im summarischen Verfahren durch einen Strafbefehl ergangen, der aufgrund einer Absprache von den Angeklagten akzeptiert wurde; eine Nachprüfung der Tatvorwurfs im Rahmen einer Hauptverhandlung ist nicht erfolgt.
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c) Etwas anderes ergibt sich nicht wegen des Rückrufs durch das KBA, dem das klägerische Fahrzeug unterliegt (vgl. BGH, Beschluss vom 13.10.2021 - VII ZR 99/21, BeckRS 2021, 38651 Rn. 25).
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aa) Zwar ist vorliegend unstreitig, dass das KBA einen verpflichtenden Rückruf zur Überarbeitung der Software erlassen hat, welcher infolge einer Klage der Beklagten vor dem Verwaltungsgericht nicht bestandskräftig ist (vgl. KBA-Auskunft, Bl. 298/300 d. A.).
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Ein verpflichtender Rückruf kann eine unzulässige Abschalteinrichtung indizieren. Es bestehen aber keine Anhaltspunkte dafür, dass der Rückruf auf der Verwendung von den Prüfstand erkennenden Abschaltvorrichtungen beruht. Dies wird bestätigt durch die vom Senat im vorliegenden Verfahren eingeholte behördliche Auskunft des KBA vom 10.05.2022. Aus dieser Auskunft lassen sich weder Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Prüfstandserkennung, noch solche für eine Täuschung des KBA entnehmen. Dass das Fahrzeug für die Abgasnachbehandlung per SCR-Katalysator zwei unterschiedliche Regelstrategien (Modi) hinsichtlich der Eindüsung von AdBlue wähle, sei grundsätzlich nicht unzulässig und werde von vielen Herstellern angewendet. Während unter Bedingungen, wie sich auch für die Typprüfung vorgegeben seien, nach Motorstart ein vergleichsweise effektiver Modus genutzt werde, werde nach dem Erreichen einer bestimmten Stickoxidmasse nach Ablauf des Prüfzyklus dauerhaft ein weniger effektiver Modus genutzt. Dies wurde vom KBA als „unzulässige Abschalteinrichtung“ bewertet, weil eine Nutzung des effektiven Modus danach nicht mehr erfolge, sondern erst nach Motorneustart. Das KBA teilt ausdrücklich mit, dass es sich bei der beanstandeten Funktion „nicht um keine Prüfstanderkennung“ handele, „da die Funktion bei Vorliegen der Typprüfbedingungen auch im Straßenbetrieb aktiv“ sei.
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bb) Zudem wurde auch eine Schadstoff- und Abgasstrategie „Geregeltes Kühlmittelthermostat“ festgestellt, die bei einigen Fahrzeugen mit einem Dieselmotor OM 640, OM 642 und OM 651 aktiv genutzt werde. Für den streitgegenständlichen Fahrzeugtyp beanstandete das KBA eine derartige Schadstoff- und Abgasstrategie jedoch nicht, da durch ein „Testing-Out“ der Nachweis erbracht werden konnte, „dass das Fahrzeug Mercedes-Benz GLK 250 BlueTec 4MATIC OM 651 Euro 6 Geländewagen mit dem Getriebe NAG2i auch mit aktivierter Abschalteinrichtung und damit mit verringerter Abgasrückführung die gesetzlich vorgeschriebenen Grenzwerte einhält“.
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Daher ergeben sich auch daraus keine Anhaltspunkte für eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Erwerber.
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d) Auch der weitere klägerische Vortrag im Schriftsatz vom 03.06.2022 (Bl. 302/319 d. A.) genügt angesichts der vorliegenden Auskunft nicht zum schlüssigen Vortrag der Voraussetzungen des § 826 BGB.
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aa) Die Erkenntnisse aus dem vor dem LG Konstanz anhängigen Parallelverfahren 10 O 71/20 decken sich vielmehr mit der Auskunft des KBA im hiesigen Verfahren.
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bb) Dass die Justiz in den USA der Beklagten die Verwendung von insgesamt 16 in dem Schriftsatz tabellarisch aufgezählten Abschalteinrichtungen vorwirft, ist für das streitgegenständliche Verfahren irrelevant, da es keinen Bezug zu einem bestimmten Fahrzeugtyp oder -baujahr enthält, schon gar nicht zu der im Inland verkauften Version des Mercedes-Benz GLK 250 BlueTec 4MATIC OM 651 Euro 6. cc) Die in einem von der Deutschen Umwelthilfe veröffentlichten Gutachten des Sachverständigen F. D. vom 28.09.2020 zu einer Abgassystemanalyse bei einem Mercedes E350T des Modelljahres 2015 enthalten - selbst wenn die Ergebnisse auf das streitgegenständliche Fahrzeug übertragbar wären - keine Anhaltspunkte für eine Prüfstandserkennung oder sonstige Gesichtspunkte, aus denen auf ein Bewusstsein geschlossen werden könnte, dass die programmierenden Ingenieure einen Verstoß gegen die Maßgaben der Verordnung (EG) 715/2007 zumindest billigend in Kauf genommen hätten.
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(1) Die in dem Gutachten auf S. 6/23 aufgezählten Kriterien für die Umschaltung von dem effektiveren „Füllstandsmodus“ oder „Ammoniaklastmodus“ in den weniger effektiven „Fast-Forward-Mode“ oder „Online-Modus“ oder „Alternativ-Modus“ bedeuten keine Prüfstandserkennung.
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So wird ein Grenzwert für den Abgasmassenstrom genannt, der beim untersuchten Fahrzeug bei ca. 100 km/h überschritten werde. Unterhalb dieser Grenze dürfte sich ein Großteil des realen Fahrbetriebs innerorts und auf Landstraßen abspielen. Der angegebene, zudem von einem „SCR-Alterungsfaktor“ abhängige Schwellenwert für den Stickoxidmassenstrom lässt ebenfalls keinen Bezug zum Prüfstandsbetrieb erkennen. Wenn ein Wechsel in den Alternativ-Modus ab einer Ansaugtemperatur von 12 °C erzwungen und eine Rückkehr in den Ammoniallast-Modus erst ab 15 °C ermöglicht wird, handelt es sich um ein Thermofenster, dessen Schaltbedingungen keinen Bezug zu den für einen Prüfstandsbetrieb vorgeschriebenen Temperaturen von 20 bis 30 °C aufweist. Ein Zusammenhang des „Schutzes gegen Neustart“ mit einem Prüfstandsbetrieb ist ebensowenig erkennbar wie eine SCR-Temperatur von ca. 300 °C, die nach einer ausreichenden Aufwärmzeit bei einer Geschwindigkeit von etwa 120 km/h erreicht werde, oder ein durchschnittlicher AdBlue-Verbrauch, der einen bestimmten Grenzwert überschreite.
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(2) Dasselbe gilt sinngemäß für die auf S. 25/27 des Gutachtens genannten Kriterien, die im Bereich der Abgasrückführung wirksam werden sollen, wie eine Starttemperatur des Motors zwischen 18 und 35 °C. Ein Bezug auf den Prüfstandsbetrieb ist auch bei dem als „Hot & Idle“ bezeichneten Kriterium, wenn der Motor warmgelaufen ist und sich im Leerlauf befindet, nicht ersichtlich.
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2. Eine Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil weder eine für den Kaufentschluss ursächliche Täuschung des Klägers durch die Beklagte noch ein entsprechender Vorsatz auf der Seite der Beklagten festgestellt ist. Zudem würde es an der erforderlichen Stoffgleichheit der beabsichtigten Bereicherung der Beklagten mit dem Schaden beim Kläger fehlen, da dieser das Fahrzeug gebraucht aus zweiter Hand von einem Händler erworben hat.
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3. Ein Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 bzw. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV kommt ebenfalls nicht in Betracht. Wie der Bundesgerichtshof in seinen Urteilen vom 25.05.2020 (VI ZR 252/19 ‒ juris Rn. 76) und vom 30.07.2020 (VI ZR 5/20 ‒ juris Rn. 12) ausgeführt hat, liegt das Interesse, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, weder im Aufgabenbereich des § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV noch des Art. 5 VO (EG) Nr. 715/2007.
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Daran ändert der Schlussantrag des Generalanwalts Rantos vom 02.06.2022 in der Rechtssache C-100/21 nichts.
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Selbst wenn entsprechend der in den Schlussanträgen (dort Rn. 50 und Rn. 78 Ziff. 1) vertretenen Auffassung davon ausgegangen würde, die RL 2007/46/EG solle (auch) das Interesse des individuellen Erwerber seines Kraftfahrzeugs schützen, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, handelte es sich bei den zur Umsetzung der Richtlinie erlassenen §§ 6 und 27 EG-FGV nicht um Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB.
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Der VO (EG) Nummer 715/2007, die unmittelbar anwendbar ist, misst selbst der Generalanwalt keine Schutzwirkung zugunsten von Vermögensinteressen von Fahrzeugerwerbern zu.
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Bereits das bestehende deutsche Vertrags- und Deliktsrecht hält zahlreiche - abgestufte - Instrumente bereit, die hinreichend wirksam das Interesse eines Erwerbers schützen, nicht ein mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattetes Fahrzeug zu erwerben und zugleich auch einen erheblichen Anreiz für die Hersteller von Motoren bedingen, unionsrechtliche Vorschriften einzuhalten. Vor diesem Hintergrund bedarf es in der deutschen Rechtsordnung über die bestehenden Institute des Vertrags- und Deliktsrechts hinaus nicht der Einordnung der Vorschriften der EG-FGV als Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, um das Interesse der Käufer von Fahrzeugen, die mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet sind, angemessen zu schützen (im gleichen Sinne OLG Stuttgart, Urteil vom 28.06.2022, 24 U 115/22, Seite 27 ff; dort auch eingehend zu entstehenden nicht hinnehmbaren Wertungswidersprüchen, wollte man den Bestimmungen der §§ 6 und 27 EG-FGV Schutzgesetzcharakter im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB beimessen).
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Soweit das im Verfahren C-100/21 vorlegende Landgericht Ravensburg hierzu eine abweichende Auffassung (insbes. hinsichtlich des Erfordernisses einer Herstellerhaftung bereits für fahrlässiges Verhalten) vertritt, ist als Beleg für den gegenteiligen Befund darauf zu verweisen, dass in den vergangenen Jahren hunderttausende Käufer von Dieselfahrzeugen erfolgreiche, auf unzulässige Abschalteinrichtungen gestützte Klagen gegen unterschiedliche Hersteller von Pkw und darin eingesetzten Dieselmotoren geführt haben.
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Im Übrigen erkennt der Senat auch keine unmittelbaren Wirkungen für anhängige Verfahren, soweit es in den Schlussanträgen des Generalanwalts unter Ziffer 57 wörtlich lautet:
„Im Einklang mit dem Effektivitätsgrundsatz ist es Sache dieses Gerichts (gemeint ist das vorlegende Gericht) zu prüfen, ob die in § 826 BGB vorgesehenen Voraussetzungen die Ausübung des Ersatzanspruchs, der dem Erwerber eines Fahrzeugs nach der RL 2007/46 zusteht, praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren können. Wenn ja, wären diese nationalen Verfahrensvorschriften nicht mit dem Unionsrecht vereinbar.“
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Da die Umsetzung einer Richtlinie in nationales Recht infrage steht, dürfte selbst bei (unterstellten) Defiziten zuerst der nationale Gesetzgeber gefordert sein, soweit nicht im Auslegungswege abgeholfen werden kann, was hier vom Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung hinsichtlich der Regelungen der EG-FGV mit Recht verneint wird.
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4. Ein Anspruch aus § 831 BGB setzt eine deliktische Handlung eines Verrichtungsgehilfen voraus, für die es - gerade in Hinblick auf die erteilte Auskunft des KBA - an einem ausreichenden Vortrag fehlt. Hinsichtlich der Strafbefehle gegen einzelne Mitarbeiter der Beklagten wird auf die obigen Ausführungen unter 1. c, dd) verwiesen.
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5. Da eine im Unternehmen der Beklagten durch Verrichtungsgehilfen begangene deliktische Handlung nicht feststeht, kommt auch ein Anspruch aus § 831 BGB nicht in Betracht.
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6. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor. gez.