Inhalt

OLG München, Endurteil v. 22.12.2023 – 13 U 892/21
Titel:

Anspruch des Erwerbers eines Diesel-Fahrzeugs mit Fahrkurvenerkennung auf Ersatz des Differenzschadens und Verbotsirrtum

Normenketten:
BGB § 31, § 823 Abs. 2, § 826
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
Fahrzeugemissionen-VO Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2
Leitsatz:
Zur Darlegung eines unvermeidbaren Verbotsirrtums hat der Fahrzeughersteller vorzutragen, dass sich sämtliche seiner verfassungsmäßig berufenen Vertreter im Sinne des § 31 BGB über die Rechtmäßigkeit einer unzulässigen Abschalteinrichtung (hier Fahrkurvenerkennung) mit allen für die Prüfung nach Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 bedeutsamen Einzelheiten im Zeitpunkt des Vertragsschlusses der Klagepartei in einem Rechtsirrtum befanden oder im Falle einer Ressortaufteilung den damit verbundenen Pflichten genügten (hier Verbotsirrtum verneint). (Rn. 71) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Schadensersatz, Schutzgesetz, Kfz-Hersteller, Dieselskandal, unzulässige Abschalteinrichtung, EA 288, Fahrkurvenerkennung, EG-Typgenehmigung, Differenzschaden, Verbotsirrtum
Vorinstanz:
LG Passau, Endurteil vom 11.01.2021 – 1 O 817/20
Fundstelle:
BeckRS 2023, 39580

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Endurteil des Landgerichts Passau vom 11.01.2021, Az. 1 O 817/20, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger einen Betrag in Höhe von 2.198,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 19.09.2023 zu bezahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Von den Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens trägt der Kläger 89%, die Beklagte 11%. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger zu 69%, die Beklagte zu 31%.
IV. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 7.010,84 € festgesetzt.

Entscheidungsgründe

A.
1
Gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO bedarf es des Tatbestandes nicht, weil ein Rechtsmittel gegen dieses Urteil unzweifelhaft nicht zulässig ist, 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.
B.
2
Die nach §§ 511, 513, 517, 519, 520 ZPO zulässige Berufung des Klägers (im Folgenden: die Klagepartei) gegen das Endurteil des Landgerichts Passau vom 11.01.2021 hat teilweise Erfolg.
3
Der Hauptanspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrags („großer Schadensersatz“) besteht nicht. Insbesondere ist weder ein Anspruch nach §§ 826, 31 BGB (dazu Ziffer I) noch ein solcher nach §§ 823 Abs. 2, 31 BGB i.V.m. § 263 Abs. 1 StGB (dazu Ziffer II) gegeben. Der hilfsweise geltend gemachte Anspruch aus §§ 823 Abs. 2, 31 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV auf Ersatz des objektiven Minderwerts („Differenzschaden“) ist in Höhe von 2.198,00 € gegeben (dazu Ziffer III). Die geltend gemachten Nebenansprüche bestehen zum Teil (dazu Ziffer IV).
Im Einzelnen:
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I. Das Landgericht Passau hat einen Schadensersatzanspruch der Klagepartei wegen vorsätzlich sittenwidriger Schädigung gemäß §§ 826, 31 BGB zu Recht verneint. Insoweit scheidet bereits eine sittenwidrige Verhaltensweise der Beklagten aus.
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1. Dies gilt zum einen hinsichtlich des Vorwurfs des Vorhandenseins einer Fahrkurvenerkennung bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug mit NOx-Speicher-Katalysator (NSK).
6
a) Unstreitig ist, dass in der Steuerungssoftware des streitgegenständlichen Motors vom Typ EA 288 mit NSK (zum Vorhandensein eines NSK vgl. S. 2 des Protokolls über die mündliche Verhandlung vom 27.09.2023 = Bl. 405 d. A.) beim Erwerb durch die Klagepartei am 20.08.2018 eine Fahrkurvenerkennung enthalten war. Diese erkennt, ob sich das Fahrzeug im Straßenverkehr bewegt oder auf dem Prüfstand zum Durchfahren des Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) befindet, und regelt in diesem Fall die Abgasbehandlung in anderer Weise als im normalen Straßenverkehr.
7
b) Der bloße Verbau einer Fahrkurven-, Zyklus- oder Prüfstanderkennung stellt aber für sich genommen noch keine unzulässige Abschalteinrichtung dar. Erst wenn die Ermittlung von Parametern genutzt wird, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird, liegt eine (grundsätzlich unzulässige) Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2, Art. 3 Abs. 10 VO (EG) Nr. 715/2007 vor.
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Bei Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung kommt die Bewertung des Verhaltens eines Fahrzeugherstellers als besonders verwerflich und damit sittenwidrig im Sinne von § 826 BGB dann in Betracht, wenn dieser im eigenen Kosten- und Gewinninteresse durch bewusste und gewollte Täuschung des Kraftfahrt-Bundesamtes (KBA) systematisch Fahrzeuge in Verkehr bringt, deren Motorsteuerungssoftware so programmiert ist, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwertemittels einer unzulässigen Abschalteinrichtung nur auf dem Prüfstand eingehalten werden. Denn damit geht einerseits eine erhöhte NOx-Belastung der Umwelt und andererseits die Gefahr für den Fahrzeugerwerber einher, dass bei einer Aufdeckung des Sachverhalts eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung erfolgen könnte (BGH, Urteil vom 25. 05.2020 – VI ZR 252/19 –, juris Rn. 16 ff.).
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c) Nach diesen Maßstäben und bei Gesamtabwägung aller Umstände ist im vorliegenden Fall jedenfalls nicht vom sittenwidrigen Einsatz einer Fahrkurvenerkennung durch die Beklagte auszugehen.
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Der Klagepartei zufolge seien im streitgegenständlichen Fahrzeug unzulässige Abschalteinrichtungen vorhanden:
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Das Fahrzeug habe im Rollenprüfstandmodus die Euro 6-Norm nur einhalten können, weil es manipuliert gewesen sei; ohne die Manipulation hätte der Ausstoß von Stickoxiden so hoch gelegen, dass nicht einmal die Euro 4-Norm hätte eingehalten werden können (S. 61 f. des Schriftsatzes vom 04.12.2020 = Bl. 159 f. d.A.).
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Dieser Vortrag zu den Auswirkungen der Prüfstanderkennung wurde von der Beklagten bestritten. Sie behauptet, dass das Fahrzeug vom Typ VW Golf VII GTD 2,0 TDI mit einem 135 kW-Aggregat auch ohne die in der Steuerungssoftware verbaute Fahrkurvenerkennung den gesetzlichen NOx-Emissionsgrenzwert im Zeitpunkt der EG-Typgenehmigung eingehalten hätte. Die Fahrkurvenerkennung stelle mithin keine unzulässige Abschalteinrichtung dar (S. 8 des Schriftsatzes vom 29.08.2023 = Bl. 337 d.A.).
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Der Senat legt den Vortrag der Beklagten zur fehlenden Grenzwertkausalität zugrunde, weil er durch die von der Beklagten vorgelegten Auskünfte des KBA zum Ergebnis der Überprüfung verschiedener Fahrzeugtypen mit EA 288-Dieselmotor belegt wird (s. etwa die Anlage BE 16 für das streitgegenständliche Aggregat mit NSK). Für den klägerischen Pkw gibt es unstreitig auch keinen Fahrzeugrückruf und kein verpflichtendes Software-Update. Im Hinblick auf den Zeitablauf seit dem Bekanntwerden von Einzelheiten zur Motorsteuerung ist hiermit auch nicht mehr zu rechnen.
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Damit kann insgesamt nicht von einem sittenwidrigen Verhalten der Beklagten ausgegangen werden. Wenn das Fahrzeug den NOx-Grenzwert auch ohne Fahrkurvenerkennung einhält, muss der Fahrzeugerwerber nicht mit betriebsbeschränken den Maßnahmen des KBA rechnen und es entfällt die verwerfliche Täuschung des Käufers über die uneingeschränkte Straßenverkehrstauglichkeit des von ihm erworbenen Fahrzeugs (BGH, Urteil vom 12.10.2023 – VII ZR 412/21 –, juris Rn. 15). Auch wenn zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Fahrzeugs das Risiko einer abweichenden Bewertung bestand, war dieses so gering, dass eine Sittenwidrigkeit bereits objektiv nicht vorlag.
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2. Ein Schadensersatzanspruch wegen vorsätzlich sittenwidriger Schädigung gemäß §§ 826, 31 BGB ergibt sich ferner nicht im Hinblick auf den von der Klagepartei behaupteten Einsatz einer unzulässigen Abschalteinrichtung in Form eines sog. „Thermofensters“.
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a) Unstreitig ist zunächst, dass im Fahrzeug der Klagepartei ein Thermofenster zum Einsatz kommt.
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Die Klagepartei trägt vor, dass außerhalb des Temperaturfensters von +20 °C bis +30 °C die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems sinke und die Stickoxidemissionen stiegen (S. 8 der Klageschrift vom 08.10.2020 = Bl. 8 d. A.).
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Die Beklagte hat in beiden Instanzen bestritten, dass es sich bei dem im streitgegenständlichen Fahrzeug verwendeten Thermofenster um eine unzulässige Abschalteinrichtung handele. Die Beklagte behauptet, dass die Abgasrückführung bei einer Außentemperatur zwischen -24 °C und +70 °C zu 100% aktiv sei. Innerhalb dieses Thermofensters und der darin jeweils aktiven Motorbetriebsarten gebe es keine sog. „Abrampung“, mithin keine kontinuierliche Abstufung in Abhängigkeit zur Außentemperatur (S. 23 der Klageerwiderung vom 25.11.2020 = Bl. 76 d.A.; S. 1 der Berufungserwiderung vom 29.08.2023 = Bl. 330 d.A).
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b) Zugrunde zu legen ist der Vortrag der Beklagten. Das klägerische Vorbringen zur Ausgestaltung des unstreitig vorhandenen Thermofensters ist als Behauptung ins Blaue zu werten. Die Klagepartei hat keine hinreichenden Anhaltspunkte für ihre Behauptung vorgebracht, dass die Abgasreinigung nur innerhalb eines Temperaturfensters von +20 °C bis +30 °C optimal funktioniere.
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c) Abgesehen davon hat die Klagepartei nicht ausreichend zu Umständen vorgetragen, die für ein Bewusstsein der für die Beklagten handelnden Personen sprechen könnten, eine – hier unterstellt – unzulässige Abschalteinrichtung in Gestalt eines Thermofensters zu verwenden (zu dieser Voraussetzung der objektiven Sittenwidrigkeit beim Einsatz eines Thermofensters vgl. BGH, Beschluss vom 09.03.2021 – VI ZR 889/20 –, juris Rn. 27 f.).
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3. Ein Schadensersatzanspruch wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung ergibt sich schließlich auch nicht wegen einer sonstigen Manipulation der Abgasrückführung.
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a) Soweit die Klagepartei pauschal vorgetragen hat, dass das Abgasrückführungssystem ab einer bestimmten Drehzahl reduziert oder ganz abgeschaltet werde (S. 10 der Klageschrift = Bl. 10 d. A.), ergibt sich hieraus kein Anspruch der Klagepartei nach § 826 BGB.
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Die Beklagte trug vor, dass die Abgasrückführung aus physikalischen Gründen an die jeweiligen Betriebszustände des Fahrzeugs (Drehzahl und Motorlast) angepasst werde; dies erfolge auf der Rolle und im Normalbetrieb in identischer Weise (S. 29 f. des Schriftsatzes vom 25.11.2020 = Bl. 82 f. d. A.).
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Bei der gegenteiligen Behauptung der Klagepartei handelt es sich um eine prozessual unwirksame Behauptung ins Blaue hinein, da hierfür keinerlei Anhaltspunkte vorgebracht werden.
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Bei Zugrundelegung des Vortrags der Beklagten liegt keine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 3 Nr. 10 VO (EG) Nr. 715/2207 vor. Bei der Grundbedatung des Fahrzeugs und deren Korrekturen handelt es sich um integrale Bestandteile eines einheitlichen Emissionskontrollsystems und nicht um zusätzliche Emissionsstrategien, die darauf angelegt wären, die Wirksamkeit der Standardemissionsstrategie zu beeinflussen (vgl. hierzu auch VG Schleswig, Urteil vom 20.02.2023 – 3 A 113/18, juris Rn. 411 ff.). Insbesondere bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass das System darauf ausgelegt wäre, die Emissionswerte unter den Bedingungen des NEFZ zu optimieren.
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b) Der Vortrag, dass in dem streitgegenständlichen Fahrzeug eine Software aufgrund eines „unnatürlichen Fahrverhaltens“ (hohe Raddrehzahlen ohne Bewegung des Fahrzeugs) die Prüfungssituation erkenne und unter diesen Bedingungen die Abgasaufbereitung so optimiere, dass möglichst wenige Stickoxide entstünden (S. 11 der Klageschrift = Bl. 11 d. A.), ist identisch mit dem Vortrag oben unter Ziffer 1.c); dass der Prüfstand erkannt wird, ist unstreitig.
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c) Der Vortrag, dass eine sog. Akustikfunktion verbaut sei, die sich aktiviere, wenn die Temperaturen von Motorkühlwasser, Motorschmieröl und Kraftstoff in einem Bereich von 18 °C bis 33 °C und zusätzlich der Umgebungsdruck über 930 mbar lägen, und durch deren Aktivierung die Einspritzstrategie und die Abgasrückführungsrate die Stickoxidemissionen verminderten (S. 13 f. der Klageschrift = Bl. 13 f. d. A.), erfolgt wiederum ins Blaue hinein, da hierfür keinerlei Anhaltspunkte vorgebracht werden.
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Das von der Klagepartei herangezogene Gutachten (Anlage K 5) betrifft Fahrzeuge der Abgasnorm EU4.
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d) Soweit die Klagepartei im Rahmen des Berufungsverfahrens behauptet, die Beklagte moduliere die Abgasreinigung mittels einer Zeitschaltuhr (S. 1 ff. des Schriftsatzes vom 19.10.2023 = Bl. 416 ff. d. A.), führt auch dies nicht zu einer Haftung der Beklagten wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung.
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Dem entsprechenden Vortrag fehlt es an jeglicher Substanz. Es ist bereits unklar, ob vorgetragen werden soll, dass im streitgegenständlichen Fahrzeug eine Zeitschaltuhr zum Einsatz komme oder die Abgasreinigung in anderer Weise „moduliert“ werde.
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Jedenfalls handelt es sich um eine Behauptung ins Blaue hinein. Soweit die Klagepartei vorträgt, dass die Firma B. ihren Kunden die Optimierung im Zyklusbereich mit Einfluss auf Motorsteuerung und Emissionen durch eine Systemsteuerung ermöglicht habe, fehlt es an einem Bezug zum streitgegenständlichen Fahrzeug. Ein solcher ergibt sich auch nicht aus Anlage BK 4.
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4. Das On-Board-Diagnose-System (OBD-System) stellt bereits begrifflich keine Abschalteinrichtung im Sinne der Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 S. 1 VO (EG) Nr. 715/2007 dar. Nach insoweit unstreitigem Beklagtenvortrag überwacht das OBD-System die abgasbeeinflussenden Systeme während des Fahrbetriebs, wirkt auf diese aber nicht ein.
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II. Den geltend gemachten Anspruch auf „großen Schadensersatz“ kann die Klagepartei auch nicht aus §§ 823 Abs. 2, 31 BGB i.V.m. § 263 Abs. 1 StGB herleiten.
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Hierfür mangelt es jedenfalls an der Bereicherungsabsicht und der in diesem Zusammenhang erforderlichen Stoffgleichheit des auf Seiten der Beklagten erstrebten rechtswidrigen Vermögensvorteils mit einem etwaigen Vermögensschaden der Klagepartei (vgl. BGH, Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 5/20 –, juris Rn. 17 ff.).
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III. Der Klagepartei steht jedoch der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Erstattung des objektiven Minderwerts („Differenzschaden“) in Höhe von 2.198,00 € aus §§ 823 Abs. 2, 31 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV zu.
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Die im Berufungsverfahren erfolgte hilfsweise Geltendmachung des Differenzschadens stellt eine stets zulässige Klageänderung gemäß §§ 525 S. 1, 264 Nr. 2 ZPO dar. Die Beklagte hat vorliegend schuldhaft eine unzutreffende Übereinstimmungsbescheinigung erteilt und ist deshalb dem Kläger zum Ersatz des Betrags verpflichtet, um den er das Fahrzeug zu teuer erworben hat (sog. Differenzschaden). Bei Erkennen der Fahrkurve wird bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug die Abgasbehandlung in mehrfacher Hinsicht abweichend vom Normalbetrieb gesteuert; insoweit liegen zwei gemäß Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 unzulässige Abschalteinrichtungen vor. Der der Klagepartei entstandene Schaden ist nicht durch die geldwerte Nutzung des Fahrzeugs und den Restwert des Fahrzeugs im Zeitpunkt des Weiterverkaufs durch die Klagepartei aufgebraucht.
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1. Mit Schriftsatz ihrer anwaltlichen Vertreter vom 15.09.2023 machte die Klagepartei hilfsweise einen Anspruch auf Ersatz des Differenzschadens geltend. Hierbei handelt es sich um eine auch in der Berufungsinstanz stets zulässige Klageänderung gemäß §§ 525 S. 1, 264 Nr. 2 ZPO, weil dem von der Klagepartei in erster Linie auf §§ 826, 31 BGB gestützten Anspruch auf „großen Schadensersatz“ einerseits und dem Anspruch auf Differenzschaden nach §§ 823 Abs. 2, 31 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV andererseits lediglich unterschiedliche Methoden der Schadensberechnung zugrunde liegen, die im Kern an die Vertrauensinvestition des Käufers bei Abschluss des Kaufvertrags anknüpfen (BGH, Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21 –, juris Rn. 45). Wechselt der Kläger nur die Art der Schadensberechnung, ohne seinen Antrag auf einen abgewandelten Lebenssachverhalt zu stützen, liegt keine Klageänderung i. S. d. § 263 ZPO vor (vgl. BGH, Urteil vom 23.06.2015 – XI ZR 536/14 –, juris Rn. 33).
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2. Die Beklagte hat eine unzutreffende Übereinstimmungsbescheinigung erteilt.
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Unzutreffend ist eine Übereinstimmungsbescheinigung dann, wenn das betreffende Kraftfahrzeug mit einer gemäß Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 unzulässigen Abschalteinrichtung ausgerüstet ist oder das konkrete Kraftfahrzeug nicht mit dem genehmigten Typ übereinstimmt (BGH, Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21, Rn. 18 ff.).
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Die Beklagte hat für das streitgegenständliche Fahrzeug eine unzutreffende Übereinstimmungsbescheinigung erteilt, weil in dem Fahrzeug unzulässige Abschalteinrichtungen verbaut waren.
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a) Nach Art. 3 Nr. 10 VO (EG) Nr. 715/2007 bezeichnet der Ausdruck „Abschalteinrichtung“ ein Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird.
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Während in Bezug auf die Funktionsänderung auf Teile des Emissionskontrollsystems abgestellt werden kann, kommt es für die Wirkung der Funktionsänderung auf das Emissionskontrollsystem in seiner Gesamtheit an. Maßstab für die Frage der Zulässigkeit einer Funktionsänderung in Abhängigkeit von bestimmten Parametern ist nach Art. 3 Nr. 10 VO (EG) Nr. 715/2007 nicht die Einhaltung des gesetzlichen Emissionsgrenzwerts, sondern die Wirksamkeit des unverändert funktionierenden Emissionskontrollsystems unter den Bedingungen des normalen Fahrbetriebs. In diesem Zusammenhang bedarf es eines Vergleichs der Wirksamkeit des unverändert funktionierenden und derjenigen des verändert funktionierenden Gesamtsystems, und zwar jeweils unter den Bedingungen des normalen Fahrbetriebs im gesamten Unionsgebiet. Ob die Grenzwerte unter den Bedingungen des NEFZ auch bei veränderter Funktion eingehalten würden, ist hingegen mit Rücksicht auf den Wortlaut des Art. 3 Nr. 10 VO (EG) Nr. 715/2007 nicht von Bedeutung. Die Prüfung im NEFZ lässt nur in Bezug auf die dabei wirksamen Emissionskontrollsysteme Prognosen für den gewöhnlichen Fahrbetrieb zu und auch das nur dann, wenn die Wirksamkeit der betreffenden Systeme im gewöhnlichen Fahrbetrieb nicht verringert wird. Art. 3 Nr. 10 VO (EG) Nr. 715/2007 knüpft an die Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems in seiner Gesamtheit an und nicht an die Einhaltung der Grenzwerte im NEFZ (BGH, Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21, Rn. 51).
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Die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, ist grundsätzlich unzulässig, Art. 5 Abs. 2 S. 1 VO (EG) Nr. 715/2007. Gemäß Art. 5 Abs. 2 S. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 sind Abschalteinrichtungen nur ausnahmsweise und nur dann zulässig, wenn die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten (Buchstabe a), wenn die Einrichtung nicht länger arbeitet, als zum Anlassen des Motors erforderlich ist (Buchstabe b), oder wenn die Bedingungen in den Verfahren zur Prüfung der Verdunstungsemissionen und der durchschnittlichen Auspuffemissionen im Wesentlichen enthalten sind (Buchstabe c).
44
Während die Klagepartei als Anspruchstellerin die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen einer Abschalteinrichtung trägt, hat die Beklagte deren ausnahmsweise Zulässigkeit darzutun und zu beweisen (BGH a.a.O., Rn. 53 f.).
45
b) Das im streitgegenständlichen Fahrzeug vorhandene Thermofenster ist nicht als unzulässige Abschalteinrichtung zu bewerten (s. oben Ziffer I.2).
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c) Insoweit, als auf dem Prüfstand die beladungsgesteuerte Regeneration des NSK deaktiviert ist und eine Heizmaßnahme für den NSK aktiviert wird, werden jedoch Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu deaktivieren bzw. zu aktivieren.
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aa) Die Klagepartei behauptet, dass die Beklagte die Motorsteuerung des streitgegenständlichen Fahrzeugs bewusst mit einer Zykluserkennung ausgestattet habe und dass die Abgasbehandlung im NEFZ anders funktioniere als im Straßenbetrieb. Bei den Bedingungen der Prüfungssituation sei die Abgasaufbereitung so optimiert, dass möglichst wenige Stickoxide (NOx) entstünden, im normalen Fahrbetrieb würden dagegen Teile der Abgaskontrollanlage außer Betrieb gesetzt, weshalb die NOx-Emissionen dann erheblich höher seien (S. 11 der Klageschrift vom 08.10.2020 = Bl. 11 d.A.).
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bb) Die Beklagte beschreibt den Einfluss der Fahrkurvenerkennung auf die Funktionsweise des NSK im NEFZ sinngemäß wie folgt (S. 18 ff. der Klageerwiderung vom 25.11.2020= Bl. 71 ff. d.A.):
49
Im realen Fahrbetrieb werde der NSK entweder in Abhängigkeit von seinem Beladungszustand (beladungsgesteuert) oder in Abhängigkeit von der zurückgelegten Wegstrecke (streckengesteuert ca. alle 5 Kilometer) regeneriert, je nachdem welches der beiden Ereignisse zuerst eintrete. Jede NSK-Regeneration selbst wirke sich auf die CO₂- und Schadstoffemissionen aus.
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Die Fahrkurvenerkennung bewirke zum einen, dass der NSK an zwei bestimmten Punkten des eine Strecke von 11 km umfassenden NSK regeneriere, nämlich zum ersten Mal im ersten Drittel des außerstädtischen Teils (bei ca. 70 km/h) und zum zweiten Mal kurz vor dem Ende des außerstädtischen Teils und gleichzeitig kurz vor Ende des NEFZ (bei ca. 100 km/h). Eine bela-dungsgesteuerte Regeneration finde nicht statt.
51
Vor Beginn der NEFZ-Prüffahrt werde das Fahrzeug vorkonditioniert, sog. Preconditioning oder „Precon“, indem der NEFZ mehrmals durchfahren wird.
52
Durch die ausschließlich streckengesteuerte Regeneration an zwei definierten Punkten werde sichergestellt, dass sämtliche NOx-Emissionen, die während des NEFZ entstehen, erfasst werden, und gleichzeitig verhindert, dass NOx-Emissionen aus vorangegangenen Fahrten hinzugerechnet werden. Im Hinblick auf den vorgeschalteten Precon befänden sich die nach der zweiten Regeneration anfallenden Schadstoffe bei Beginn der NEFZ-Prüffahrt im NSK, sodass die Schadstoffmessung auf dem Prüfstand im Ergebnis alle bei der Prüffahrt anfallenden Emissionen abbilde. Ohne Veränderung der Regeneration auf dem Prüfstand wäre es dagegen schon im Hinblick darauf, dass die Regeneration alle 5 km stattfände, während die Prüffahrt eine Strecke von 11 km umfasst, dem Zufall überlassen, ob der NSK während der Prüffahrt zwei- oder dreimal regeneriert.
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Außerdem habe die im Fahrzeug der Klagepartei hinterlegte Fahrkurvenerkennung dazu geführt, dass in Abhängigkeit von der Abgastemperatur und der Alterung des NSK eine Heizmaßnahme im NEFZ habe aktiviert werden können. In diesem Falle habe dies dazu geführt, dass die Temperatur des NSK im NEFZ unmittelbar vor dem ersten NSK-Regenerationsevent erhöht worden sei.
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cc) Die Klagepartei hat den Beklagtenvortrag zur konkreten Funktionsweise des NSK im NEFZ einerseits und im normalen Fahrbetrieb anderseits nicht bestritten. Soweit die Klagepartei darüber hinausgehende Abweichungen des Prüfstandbetriebs behauptet, ist der Vortrag teils unsubstantiiert, teils handelt es sich um unzulässige Behauptungen ins Blaue (siehe oben Ziffer I.3). Der Senat legt den Vortrag der Beklagten seiner rechtlichen Beurteilung zu Grunde.
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dd) Dass die Platzierung der streckengesteuerten Regeneration an zwei bestimmten Punkten des NEFZ repräsentative Testergebnisse sicherstellt und nicht die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems im Prüfstandmodus erhöht, erscheint schlüssig. Die Klagepartei hat Einwendungen hiergegen nicht erhoben.
56
ee) Die Deaktivierung der beladungsgesteuerten Regeneration des NSK auf dem Prüfstand stellt demgegenüber eine Deaktivierung eines Teils des Emissionskontrollsystems dar.
57
Die sachliche Rechtfertigung dieser Maßnahme hat die Beklagte nicht zu erklären vermocht. Es leuchtet nicht ein, dass die Deaktivierung der Beladungssteuerung auf dem Prüfstand zur Sicherstellung der Erfassung ausschließlich der auf dem Prüfstand ausgestoßenen Emissionen erforderlich ist. Dies wird vielmehr nach dem Vortrag der Beklagten bereits durch die zweite Regeneration zu einem definierten Zeitpunkt am Ende des Zyklus im Precon ebenso wie im NEFZ sichergestellt. Warum die Funktionsweise im normalen Fahrbetrieb (entweder beladungs- oder streckengesteuert, je nachdem welches Ereignis zuerst eintritt) zu einer Verzerrung führen würde, hat die Beklagte nicht dargetan.
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ff) Entsprechendes gilt, soweit im streitgegenständlichen Fahrzeug im NEFZ eine an die Fahrkurvenerkennung geknüpfte Heizmaßnahme aktiviert wird.
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Eine plausible Erklärung hierfür wird von der Beklagten nicht vorgebracht und ist auch sonst nicht ersichtlich. Naheliegt, dass die Funktion die Leistungsfähigkeit eines älteren NSK auf dem Prüfstand durch Temperaturerhöhung erhöht bzw. den NSK schon zu einem früheren Zeitpunkt aufheizt, während dies im normalen Fahrzeugbetrieb auch bei älteren Katalysatoren nicht erfolgt.
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d) Durch die beschriebene Nutzung der Fahrkurvenerkennung zur Steuerung des Emissionskontrollsystems wurde im Sinne des Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2207 die Wirksamkeit im normalen Fahrzeugbetrieb verringert.
61
Die entsprechende Behauptung der Klagepartei wurde von der Beklagten nicht wirksam bestritten.
62
Ihre diesbezüglichen Ausführungen leitete die Beklagte mit dem Satz ein, die Fahrkurvenerkennung habe keinen messbaren Einfluss auf die NOx-Emissionen, was eigene, interne Messungen der Beklagten belegten (S. 7 des Schriftsatzes vom 29.08.2023 = Bl. 336 d. A.; S. 1 f. des Schriftsatzes vom 18.09.2023 = Bl. 385 f. d. A.). In der Folge werden diese Ausführungen erläutert. Hierzu führte die Beklagte auf S. 7 ff. des Schriftsatzes vom 29.08.2023 (Bl. 336 ff. d. A.) aus, es seien umfangreiche Messungen durchgeführt worden „u.a. an zwei EA288 Feldfahrzeugen die technisch gleiche und z. T. identische Merkmale (insbesondere Hardwaresystematik, Leistung/Hubraum, Softwareschiene) wie das streitgegenständliche Fahrzeug aufweisen und deshalb mit diesem und weiteren Fahrzeugen mit technisch gleichen und z. T. identischen Merkmalen in einem Cluster zusammengefasst wurden“. Das eine der beiden Fahrzeuge habe der höchsten Gewichtsklasse, das andere der niedrigsten Gewichtsklasse der im Cluster zusammengefassten Fahrzeuge angehört, sodass aus den Messergebnissen Aussagen für alle im Cluster zusammengefassten Fahrzeuge abgeleitet werden könnten. Hierbei seien zunächst A-Messungen durchgeführt worden, bei denen sämtliche an die Fahrkurvenerkennung geknüpften Funktionen aktiviert gewesen seien. Sodann seien sogenannte B-Messungen durchgeführt worden, bei denen mit der Deaktivierung der Fahrkurvenerkennung im NEFZ die an die Fahrkurvenerkennung geknüpften Funktionen de-aktiviert gewesen seien. Die an die Fahrkurvenerkennung geknüpfte, gezielte Platzierung des Regenerationsevents im Precon sei hingegen sowohl in der A- als auch in der B-Messung aktiv gewesen. Unter Angebot von Sachverständigen- und Zeugenbeweis führte die Beklagte im Anschluss aus, die Messungen hätten ergeben, dass die Fahrkurvenerkennung überhaupt keinen außerhalb der üblichen Messstreuungen liegenden Einfluss auf die NOx-Emissionen habe. Aufgrund der beschriebenen Clusterbildung anhand übereinstimmender technischer Parameter seien die Messergebnisse auch auf das vorliegend streitgegenständliche Fahrzeug übertragbar. Vor diesem Hintergrund bestreite die Beklagte ebenfalls unter Beweisangebot, dass die in dem streitgegenständlichen Fahrzeug hinterlegte Fahrkurvenerkennung überhaupt einen messbaren Einfluss auf NOx-Emissionen habe.
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Den nach dem Vortrag der Beklagten durchgeführten Untersuchungen kann keine ausreichend sichere Grundlage für ihre Behauptung entnommen werden, dass im streitgegenständlichen Fahrzeug die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwartenden Bedingungen nicht verringert wird. Zum einen ist bereits nicht hinreichend dargestellt, was die Beklagte unter den „üblichen Messstreuungen“ versteht. Zum anderen ist unklar, welche konkreten Merkmale der den Messungen unterzogenen Fahrzeuge „technisch gleich“ und welche „identisch“ mit den Merkmalen des streitgegenständlichen Fahrzeugs waren und was unter diesen Begriffen zu verstehen ist. Offen bleibt damit sowohl, ob die gemessenen Fahrzeuge dem streitgegenständlichen Fahrzeug in den maßgeblichen Merkmalen entsprechen, als auch, ob die „üblichen Messstreuungen“ tatsächlich so gering sind, dass eine Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter bei normalem Fahrbetrieb vernünftigerweise zu erwartenden Bedingungen nicht gegeben ist.
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Das an die geschilderten Untersuchungen geknüpfte Bestreiten erfolgt daher ohne zureichende Anhaltspunkte unwirksam ins Blaue.
65
Zwar darf einer Partei grundsätzlich nicht verwehrt werden, eine tatsächliche Aufklärung auch hinsichtlich solcher Punkte zu verlangen, über die sie selbst kein zuverlässiges Wissen besitzt und auch nicht erlangen kann; sie kann deshalb genötigt sein, eine von ihr nur vermutete Tatsache zu behaupten (BGH, Urteil vom 27.05.2003 – IX ZR 283/99 –, juris Rn. 13). Wenn eine Partei mangels Kenntnis von Einzeltatsachen nicht umhinkann, von ihr zunächst nur vermutete Tatsachen als Behauptung in einen Rechtsstreit einzuführen, liegt keine unzulässige „Ausforschung“ vor (BGH, Urteil vom 10.01.1995 – VI ZR 31/94 –, juris Rn. 17). Unzulässig wird ein solches Vorgehen erst, wenn die Partei ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt (BGH, Urteil vom 22.01.2016 – V ZR 27/14 –, BGHZ 208, 316-330, Rn. 48; BGH, Urteil vom 27.05.2003 – IX ZR 283/99 –, juris Rn. 13; BGH, Urteil vom 20.06,2002 – IX ZR 177/99 –, juris Rn. 17).
66
Die Beklagte ist Herstellerin des Fahrzeugs und verfügt über sämtliche diesbezüglichen Informationen und über die Möglichkeit, Fahrzeuge im NEFZ zu testen. Sie hat an die Fahrkurvenerkennung eine abweichende Emissionsstrategie geknüpft, ohne dies vollständig mit der Sicherstellung repräsentativer Ergebnisse begründen zu können. Daher ist davon auszugehen, dass Ziel dieses Vorgehens eine Verringerung der Emissionen auf dem Prüfstand im Vergleich zum normalen Fahrbetrieb gewesen ist. Wenn die Beklagte nunmehr bestreiten möchte, dass dieses Ziel tatsächlich erreicht wurde, wäre sie gehalten gewesen, die Untersuchung an dem konkret streitgegenständlichen Fahrzeugtyp vorzunehmen. Die von ihr durchgeführten Tests lassen relevante Fragen offen und stellen damit keinen zureichenden Anhaltspunkt für ihr Vorbringen dar.
67
e) Die vorgenannten Abschalteinrichtungen sind auch nicht ausnahmsweise zulässig. Die insoweit darlegungs- und beweisbelastete Beklagte hat jeweils nicht substantiiert zu einem der Ausnahmetatbestände des Art. 5 Abs. 2 S. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 vorgetragen. Nach der unter Buchstabe a zitierten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommt es für die Beurteilung der Zulässigkeit einer Abschalteinrichtung insbesondere nicht auf die Frage der Grenzwertkausalität an.
68
3. Die Beklagte hat bei der Inverkehrgabe der Übereinstimmungsbescheinigung zumindest fahrlässig und damit schuldhaft gehandelt.
69
a) Ein Fahrzeughersteller haftet bereits bei einem fahrlässigen Verstoß nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV, wenn er gegen die EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung verstößt. Der subjektive Tatbestand des Schutzgesetzes ist auch für die Schadensersatzpflicht nach § 823 Abs. 2 BGB maßgebend. § 37 Abs. 1 EG-FGV sanktioniert sowohl den vorsätzlichen als auch den fahrlässigen Verstoß gegen § 27 Abs. 1 S. 1 EG-FGV (vgl. BGH, Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21 –, juris Rn. 38; BGH, Urteil vom 20.07.2023 – III ZR 267/20 –, juris Rn. 30).
70
Grundsätzlich ist der Anspruchsteller hinsichtlich des Verschuldens als anspruchsbegründender Voraussetzung gemäß § 823 Abs. 2 BGB darlegungs- und beweispflichtig. Jedoch muss derjenige, der objektiv ein Schutzgesetz verletzt hat, Umstände darlegen und erforderlichenfalls beweisen, die geeignet sind, die daraus folgende Annahme seines Verschuldens in Form einer Fahrlässigkeit auszuräumen. Insofern besteht eine von der objektiven Schutzgesetzverletzung ausgehende Verschuldensvermutung. Deshalb hat der Fahrzeughersteller, wenn er eine Übereinstimmungsbescheinigung trotz der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgegeben und dadurch §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV verletzt hat, Umstände darzulegen und zu beweisen, die sein Verhalten ausnahmsweise nicht als fahrlässig erscheinen lassen (BGH, Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21 –, juris Rn. 59).
71
b) Der Fahrzeughersteller, der sich unter Berufung auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum entlasten will, muss sowohl den Verbotsirrtum als solchen als auch die Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums konkret darlegen und beweisen. Erforderlich ist also zunächst die Darlegung eines Rechtsirrtums (BGH, a.a.O., Rn. 63). Dazu hat der Fahrzeughersteller vorzutragen, dass sich sämtliche seiner verfassungsmäßig berufenen Vertreter im Sinne des § 31 BGB über die Rechtmäßigkeit einer unzulässigen Abschalteinrichtung mit allen für die Prüfung nach Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 bedeutsamen Einzelheiten im Zeitpunkt des Vertragsschlusses der Klagepartei (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 62 ff.) in einem Rechtsirrtum befanden (BGH, Urteil vom 25.09.2023 – VIa ZR 1/23 –, juris Rn. 14; BGH, Urteil vom 16.10.2023 – VIa ZR 1511/22 –, juris Rn. 13) oder im Falle einer Ressortaufteilung den damit verbundenen Pflichten genügten (vgl. BGH, Urteil vom 25.09.2023 – VIa ZR 1/23 –, juris Rn. 14). Hierauf wurden die Vertreter der Beklagten mit Verfügung der Vorsitzenden vom 31.08.2023 hingewiesen.
72
c) Die Beklagte hat umfangreich zum Thema der Unvermeidbarkeit ausgeführt:
73
Sie habe das KBA bereits im Herbst 2015 darüber informiert, dass bestimmte Fahrzeuge mit EA 288-Motor über eine Fahrkurvenerkennung verfügen würden. Sie habe auch den künftigen Umgang mit der Fahrkurvenerkennung bei Fahrzeugproduktionen ab Ende 2015, d. h. den freiwilligen schrittweisen Verzicht auf die Fahrkurvenerkennung ab bestimmten Neuproduktionen oder Modellwechseln in EA 288-Fahrzeugkonzepten, sowie die freiwillige schrittweise Entfernung bei bereits produzierten Feldfahrzeugen durch Software-Updates mit dem KBA im Detail abgestimmt (S. 18 f. des Schriftsatzes vom 29.08.2023 = Bl. 347 f. d.A.). Auch habe das KBA die in EA 288-Fahrzeugen zum Einsatz kommende Fahrkurvenerkennung zu keinem Zeitpunkt beanstandet. Hintergrund sei, dass das KBA die Grenzwertkausalität als unverzichtbaren Bestandteil des Verbotstatbestands einer unzulässigen Abschalteinrichtung i. S. d. Art. 5 Abs. 2 Satz 2 lit. c) VO (EG) 715/2007 ansehe. Das KBA hätte auch bei einer unterstellten früheren Mitteilung über die Existenz der Fahrkurvenerkennung in bestimmten EA 288-Fahrzeugen die Erteilung der Typgenehmigung nicht aufgrund der Verwendung einer vermeintlich unzulässigen Abschalteinrichtung verweigert (S. 21 des Schriftsatzes vom 29.08.2023 = Bl. 350 d.A.).
74
Zu einem Irrtum ihrer verfassungsgemäß berufenen Vertreter im relevanten Zeitraum fehlt jedoch jeder Vortrag der Beklagten.
75
4. Die Klagepartei hätte das streitgegenständliche Fahrzeug nach der Überzeugung des Senats nicht zum vereinbarten Preis erworben, hätte sie von der unzutreffenden Übereinstimmungsbescheinigung Kenntnis gehabt.
76
a) Zur Erwerbskausalität kann sich die Klagepartei bei der Inanspruchnahme der Beklagten auf Erstattung des Differenzschadens auf den Erfahrungssatz stützen, dass sie den Kaufvertrag zu diesem Kaufpreis nicht geschlossen hätte (BGH, Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21 – juris Rn. 55).
77
Ohne Bedeutung ist dabei, ob dem Käufer beim Erwerb des Kraftfahrzeugs die vom Fahrzeughersteller ausgegebene unzutreffende Übereinstimmungsbescheinigung vorgelegen und ob er von deren Inhalt Kenntnis genommen hat. Erwirbt ein Käufer ein zugelassenes oder zulassungsfähiges Fahrzeug auch zur Nutzung im Straßenverkehr, wird er regelmäßig darauf vertrauen, dass die Zulassungsvoraussetzungen, zu denen nach § 6 Abs. 3 S. 1 FZV die Übereinstimmungsbescheinigung gehört, vorliegen und dass außerdem keine ihn einschränkenden Maßnahmen nach § 5 Abs. 1 FZV mit Rücksicht auf unzulässige Abschalteinrichtungen erfolgen können. Der Käufer geht auch ohne Kenntnisnahme der vom Fahrzeughersteller ausgegebenen Übereinstimmungsbescheinigung typischerweise davon aus, dass der Hersteller für das erworbene Fahrzeug eine Übereinstimmungsbescheinigung ausgegeben hat und dass diese die gesetzlich vorgesehene Übereinstimmung mit allen maßgebenden Rechtsakten richtig ausweist (BGH, a.a.O., Rn. 56).
78
b) Der Anwendung des Erfahrungssatzes steht auch keine Verhaltensänderung der Beklagten entgegen.
79
Voraussetzung wäre, dass der Fahrzeughersteller sein Verhalten vor dem Abschluss des konkreten Erwerbsgeschäfts dahin geändert hat, dass er die Ausrüstung der Fahrzeuge mit Motoren einer dem erworbenen Fahrzeug entsprechenden Baureihe mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung in einer Art und Weise bekannt gegeben hat, die einem objektiven Dritten die mit dem Kauf eines solchen Kraftfahrzeugs verbundenen Risiken verdeutlichen muss (BGH, Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21 –, juris Rn. 57).
80
Die hierzu getätigten Ausführungen der insoweit darlegungs- und beweispflichtigen Beklagten (BGH, Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21 –, juris Rn. 57) reichen nicht aus.
81
Soweit die Beklagte vorträgt, die Diesel-Thematik sei vor Abschluss des streitgegenständlichen Kaufvertrags öffentlich bekannt gewesen und in der Presse breit diskutiert worden, ist dem nicht zu entnehmen, dass bekannt geworden wäre, dass hinsichtlich der konkreten Baureihe unzulässige Abschalteinrichtungen vorliegen.
82
Soweit die Beklagte ausführt, sie habe das KBA informiert, dass in bestimmten Fahrzeugen mit EA 288-Motor eine Fahrkurvenerkennung hinterlegt ist, und sich mit diesem bezüglich des weiteren Vorgehens bei EA 288-Fahrzeugen abgestimmt, ergibt sich daraus nicht eine Bekanntgabe gegenüber potentiellen Käufern.
83
Der von der Beklagten vorgetragene Hinweis, dass für das jeweilige Fahrzeug ein freiwilliges und kostenloses Software-Update zur Reduzierung der NOx-Emissionen zur Verfügung stehe (beispielhafte Kundeninformation zum Software-Update 23X4: Anlage BE 148), enthält keinen Hinweis, dass bei Fahrzeugen der entsprechenden Baureihe an die Erkennung des Prüfstands eine abweichende Abgasbehandlung gekoppelt ist.
84
5. Die §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV schützen nicht das Interesse der Klagepartei, nicht an dem Kaufvertrag über das Fahrzeug festgehalten zu werden. Vielmehr hat die Beklage der Klagepartei lediglich den sog. Differenzschaden zu erstatten. Dieser beträgt vorliegend 2.198,00 €.
85
a) Der Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Kraftfahrzeugs ist nach dem Unionsrecht nicht so zu stellen, als habe er den Kaufvertrag nicht abgeschlossen. Dem unterschiedlichen Unwertgehalt einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung einerseits und einer schuldhaften Schutzgesetzverletzung andererseits ist Rechnung zu tragen. Die §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV i.V.m. Art. 5 VO (EG) Nr. 715/2007 schützen (lediglich) das Vertrauen des Käufers auf die Übereinstimmung des Fahrzeugs mit allen maßgebenden Rechtsakten beim Fahrzeugkauf (BGH, Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21 –, juris Rn. 19 ff.; BGH, Urteil vom 20.07.2023 – III ZR 267/20 –, juris Rn. 20).
86
b) Aufgrund der Tatsache, dass das von der Klagepartei erworbene Fahrzeug mit unzulässigen Abschalteinrichtungen ausgestattet ist, hat sich der objektive Wert des Fahrzeugs verringert, so dass der Klagepartei ein Vermögensschaden entstanden ist.
87
aa) Nach Maßgabe der Differenzhypothese ist zu ermitteln, ob ein Schaden besteht. Dazu ist die infolge des haftungsbegründenden Ereignisses eingetretenen Vermögenslage mit der Vermögenslage, die ohne jenes Ereignis eingetreten wäre, zu vergleichen. Ein Vermögensschaden des Käufers im Sinne der Differenzhypothese liegt danach vor, wenn sich bei einem Vergleich der infolge des haftungsbegründenden Ereignisses eingetretenen Vermögenslage mit der Vermögenslage ohne das haftungsbegründende Ereignis ein rechnerisches Minus zeigt bzw. der objektive Wert des erworbenen Fahrzeugs hinter dem Kaufpreis zurückbleibt. Wegen der Enttäuschung des Käufervertrauens ist der Geschädigte so behandeln, als wäre es ihm in Kenntnis der wahren Sachlage und der damit verbundenen Risiken gelungen, den Vertrag zu einem niedrigeren Preis abzuschließen. Sein Schaden liegt daher in dem Betrag, um den er den Kaufgegenstand mit Rücksicht auf die mit der unzulässigen Abschalteinrichtung verbundenen Risiken zu teuer erworben hat. Insofern unterscheidet sich der Anspruch auf Ersatz eines Differenzschadens gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV nicht von dem unter den Voraussetzungen der §§ 826, 31 BGB zu gewährenden „kleinen“ Schadensersatz (BGH, Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21 –, juris Rn. 40).
88
Die zweckentsprechende Nutzung eines Fahrzeugs, das dem Gebrauch als Fortbewegungsmittel im Straßenverkehr dient, stand durch drohende Maßnahmen bis hin zu einer Betriebsbeschränkung infolge unzulässiger Abschalteinrichtungen in Frage. Die damit einhergehende, zeitlich nicht absehbare Unsicherheit, das erworbene Kraftfahrzeug jederzeit seinem Zweck entsprechend nutzen zu dürfen, setzt den objektiven Wert des Kaufgegenstands im maßgeblichen Zeitpunkt der Vertrauensinvestition des Käufers bei Abschluss des Kaufvertrags herab, weil schon in der Gebrauchsmöglichkeit als solcher ein geldwerter Vorteil liegt (BGH, Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21 –, juris Rn. 41; BGH, Urteil vom 20.07.2023 – III ZR 267/20 –, juris Rn. 31). Darauf, dass es hinsichtlich des streitgegenständlichen Fahrzeugs bisher tatsächlich keine Beanstandungen des KBA gegeben hat, kommt es dementsprechend nicht an.
89
bb) Die ohne die Einholung eines Sachverständigengutachtens mögliche Schätzung des Differenzschadens in den Fällen des Vertrauens eines Käufers auf die Richtigkeit der Übereinstimmungsbescheinigung bei Erwerb eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Kraftfahrzeugs unterliegt unionsrechtlichen Vorgaben (EuGH, Urteil vom 21.03.2023 – C-100/21 –, juris Rn. 90, 93). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist für die Anwendung des nationalen Rechts in Umsetzung dieser Vorgaben sowohl in Bezug auf die Untergrenze als auch auf die Obergrenze des nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV zu gewährenden Schadensersatzes das Schätzungsermessen innerhalb einer Bandbreite zwischen 5% und 15% des gezahlten Kaufpreises rechtlich begrenzt. Maßgebliche Faktoren für die Bestimmung des objektiven Werts des Fahrzeugs im Zeitpunkt des Vertragsschlusses sind unter anderem die mit der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung verbundenen Nachteile, insbesondere das Risiko behördlicher Anordnungen, der Umfang in Betracht kommender Betriebsbeschränkungen und die Eintrittswahrscheinlichkeit solcher Beschränkungen mit Rücksicht auf die Einzelfallumstände, das Gewicht des der Haftung zugrundeliegenden konkreten Rechtsverstoßes für das unionsrechtliche Ziel der Einhaltung gewisser Emissionsgrenzwerte sowie der Grad des Verschuldens nach Maßgabe der Umstände des zu beurteilenden Einzelfalls (BGH, Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21 –, juris Rn. 73 ff.; BGH, Urteil vom 20.07.2023 – III ZR 267/20 –, juris Rn. 34).
90
cc) Der Senat schätzt den Differenzschaden auf 10% des Kaufpreises.
91
Zu berücksichtigen ist einerseits, dass die Beklagte – vorsätzlich – eine Fahrkurvenerkennung genutzt hat, um das Emissionsverhalten des Fahrzeugs im NEFZ anders zu regeln als im realen Straßenverkehr. Dies konnte die Beklagte nur teilweise nachvollziehbar mit der Sicherstellung repräsentativer Prüfergebnisse im Zyklus erklären. Die Abschaltung der beladungsgesteuer-ten Regeneration im Zyklus und die Implementierung einer Heizmaßnahme stellen zwei unzulässige Abschalteinrichtungen dar.
92
Auf der anderen Seite ist zugunsten der Beklagten zu berücksichtigen, dass die Emissionsgrenzwerte auch bei Deaktivierung der Fahrkurvenerkennung, mithin auch im Normalbetrieb, eingehalten werden und daher die Gefahr einer Betriebsuntersagung oder nachträglicher Anordnungen des KBA gering war.
93
6. Nutzungsvorteil und Restwert sind nicht vorteilsausgleichend zu berücksichtigen, weil sie in der Summe den Kaufpreis abzüglich des Differenzschadens nicht übersteigen.
94
a) Nutzungsvorteil und Restwert sind im Rahmen des Anspruchs auf Ersatz eines Differenzschadens gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV erst dann und nur insoweit schadensmindernd zu berücksichtigen, als sie den tatsächlichen Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags übersteigen (BGH, Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21 –, juris Rn. 44; BGH, Urteil vom 24.01.2022 – VIa ZR 100/21 –, juris Rn. 16 ff. und 22).
95
b) Die Nutzungsentschädigung ist im Vergleich zwischen tatsächlichem Gebrauch und voraussichtlicher Gesamtnutzungsdauer ausgehend vom Bruttokaufpreis im Wege der Schätzung gemäß § 287 Abs. 1 ZPO zu ermitteln (BGH NJW 1995, 2159, 2161; OLG München, Endurteil vom 05.02.2020 – 13 U 4071/18 –, BeckRS 2020, 657 Rn. 94).
96
Der Senat schätzt die Gesamtlaufleistung des streitgegenständlichen Fahrzeugs auf 250.000 km. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Gesamtlaufleistung eines Fahrzeugs von verschiedenen Faktoren wie der Lebensdauer des Motors und derjenigen der anderen Bauteile abhängig ist. Die Lebensdauer des Motors ist unter anderem von seiner Größe und Leistung und insbesondere auch vom Nutzungsverhalten abhängig. Für Dieselfahrzeuge der vorliegenden Preisklasse und Qualität wurde die durchschnittliche Laufleistung in der Rechtsprechung überwiegend auf 250.000 km geschätzt (BGH BeckRS 2015, 1267; OLG Karlsruhe BeckRS 2019, 28272 Rn. 104; OLG München, a.a.O., Rn. 95). Der Senat sieht auch mit Blick auf die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zu den sog. „Dieselfällen“ (vgl. etwa BGH, Urteil vom 19.01.2021 – VI ZR 8/20, Rn. 12 ff.; Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 354/19, Rn. 11 ff.) keine Veranlassung, von seiner ständigen Rechtsprechung abzuweichen. Dem Bundesgerichtshof zufolge ist der Tatrichter grundsätzlich auch nicht gehalten, für die Ermittlung der prognostizierten Gesamtlaufleistung ein Sachverständigengutachten einzuholen (BGH, Urteil vom 18.05.2021 – VI ZR 720/20 –, ju-ris Rn. 3).
97
Das Fahrzeug hatte beim Kauf durch die Klagepartei am 20.08.2018 noch eine Restlaufleistung von 173.400 km (250.000 km – 76.600 km) und war bis zum 14.12.2020 unstreitig 45.667 km (122.267 km – 76.600 km) gefahren worden.
98
Bei Anwendung der Berechnungsformel „Nutzungsvorteil = Bruttokaufpreis x seit Erwerb gefahrene Strecke: erwartete Restlaufleistung im Erwerbszeitpunkt“ (vgl. BGH, Urteil vom 24.01.2022 – VIa ZR 100/21 –, juris Rn. 24) errechnet sich im vorliegenden Fall folgender Nutzungsvorteil:
21.980,00 € x 45.667 km: 173.400 km = 5.788,70 €.
99
c) Ferner war bei der Bemessung der Vorteile der vom Kläger erzielte Weiterverkaufspreis in Höhe von 13.200,00 € zu berücksichtigen.
100
aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs tritt bei Geltendmachung des „großen Schadensersatzes“ im Falle des Weiterverkaufs der erzielte marktgerechte Verkaufserlös an die Stelle des herauszugebenden und zu übereignenden Fahrzeugs (BGH, Urteil vom 20.07.2021 – VI ZR 533/20 – juris Rn. 26, 29). Dies gilt grundsätzlich auch für den kleinen Schadensersatz (BGH, Urteil vom 24.01.2022 – VIa ZR 100/21 –, juris Rn. 22) und auch für die Geltendmachung des Differenzschadens (BGH, Urteil vom 26.06.2023 – VIa 335/21 –, juris Rn. 80). Realisiert der Geschädigte den Restwert durch den Verkauf des Fahrzeugs, ist grundsätzlich der Verkaufserlös der Schadensberechnung zugrunde zu legen; der Schädiger hat die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass beim Verkauf ein höher Restwert hätte erzielt werden müssen (BGH, Urteil vom 12.07.2005 – VI ZR 132/04 –, juris Rn. 13 f.).
101
Die Klagepartei trug unter Vorlage des Verkaufsvertrags (BK 1) vor, sie habe das streitgegenständliche Fahrzeug am 10.12.2020 für 13.200,00 € verkauft (bei dem auf S. 20 der Berufungsbegründung vom 19.05.2021 = Bl. 286 d.A. genannten Betrag handelt es sich, wie aus Anlage BK 1 ersichtlich, um ein offensichtliches Schreibversehen).
102
Die Beklagte konnte nicht dartun, dass die Klagepartei mit diesem Verkauf gegen ihre Schadensminderungspflicht nach § 254 Abs. 2 BGB verstoßen hätte.
103
Die von der Beklagten als Anlage zum Schriftsatz vom 29.08.2023 (Bl. 330/370 d. A.) vorgelegte DAT-Abfrage weist einen Händlerverkaufswert zum 14.12.2020 von 14.761,00 € aus. Dies ist der Betrag, den ein Händler beim Verkauf des streitgegenständlichen Fahrzeugs zu diesem Zeitpunkt hätte erzielen können. Dieser Betrag ist aber nicht maßgeblich, denn die Klagepartei als Verkäuferin ist nicht Händlerin. Sie hat das Fahrzeug als Privatperson an einen Händler verkauft, sodass allenfalls ein höherer Händlereinkaufswert einen Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht belegen könnte. Diesbezüglich hat die Beklagte jedoch keine DAT-Abfrage vorgelegt.
104
d) Die Vorteile übersteigen nach der folgenden Berechnung den verringerten Kaufpreis nicht:
Tatsächlicher Wert des Fahrzeugs bei Kauf:
Kaufpreis brutto 21.980,00 €
- Differenzschaden – 2.198,00 € (10%)
= 19.782,00 €
Vorteilsausgleich:
Verkaufspreis 13.200,00 €
+ Nutzungsvorteil + 5.788,70 €
= 18.988,70 €
105
Im Ergebnis kann die Klagepartei von der Beklagten daher einen Betrag in Höhe 2.198,00 € als Differenzschaden verlangen.
106
IV. Die geltend gemachten Nebenansprüche stehen der Klagepartei teilweise zu.
107
1. Der Anspruch auf objektiven Minderwert („Differenzschaden“) wurde erstmals mit Schriftsatz vom 15.09.2023 (= Bl. 374/382 d.A.) geltend gemacht. Dieser Schriftsatz wurde am 18.09.2023 an die anwaltlichen Vertreter der Beklagten zugestellt (= zu Bl. 374/382 d.A.). Der Geldbetrag in Höhe von 2.198,00 € ist somit gemäß §§ 291, 288 Abs. 1 BGB, § 187 Abs. 1 BGB analog mit 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 19.09.2023 zu verzinsen.
108
2. Die Klagepartei kann die Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten gemäß Nr. 2300 VV RVG nicht verlangen.
109
Mit Rechtsanwaltsschreiben der anwaltlichen Vertreter der Klagepartei vom 03.06.2020 (Anlage K 9) wurde die Beklagte zur Rückabwicklung des streitgegenständlichen Kaufvertrags aufgefordert und der große Schadensersatz geltend gemacht. Dieser Anspruch bestand aber zu keinem Zeitpunkt.
110
Auf der Grundlage der §§ 823 Abs. 2, 31 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV kann eine Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten darüber hinaus ohnehin nicht verlangt werden (BGH, Urteil vom 16.10.2023 – VIa ZR 14/22 –, juris Rn. 13).
C.
111
I. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 97 Abs. 1, 92 Abs. 1 ZPO.
112
II. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713, 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.
113
III. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 S. 1 ZPO liegen nicht vor.
114
Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern kein Urteil des Revisionsgerichts. Es handelt sich vorliegend um eine Einzelfallentscheidung auf Grundlage der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.
115
IV. Der Streitwert ergibt sich aus §§ 63, 47, 48, 40, 43 Abs. 1 und 2, 45 Abs. 1 S. 2 und 3 GKG, § 3 ZPO.
116
Der Antrag auf Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten war nur teilweise als Nebenforderung zu werten; im Übrigen war er streitwerterhöhend zu berücksichtigen.