Inhalt

OLG München, Hinweisbeschluss v. 11.10.2023 – 25 U 2494/22
Titel:

Verfrühte Signatur des Verkündungsprotokolls

Normenkette:
ZPO § 130b, § 160 Abs. 3 Nr. 7
Leitsatz:
Die verfrühte Signatur des Verkündungsprotokolls ist nicht zwangsläufig einer fehlenden Signatur gleichzustellen, sondern einer inhaltlichen Unstimmigkeit des Protokolls. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verkündungsprotokoll, Signatur, Vorzeitigkeit
Vorinstanz:
LG Landshut, Endurteil vom 14.04.2022 – 82 O 1710/20
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Hinweisbeschluss vom 13.12.2023 – 25 U 2494/22
Fundstelle:
BeckRS 2023, 39474

Tenor

Das Berufungsgericht weist auf seine Absicht hin, aufgrund der – mit Beschluss vom 4. September 2023 (Bd. II Bl. 23/24 d. A.) erbetenen – dienstlichen Erklärung der Einzelrichterin des Landgerichts vom 14. September 2023 (Bd. II Bl. 30 d. A.) für bewiesen zu erachten, dass das angefochtene Urteil (Bd. I Bl. 335/343 d. A.) am 14. April 2022 so verkündet wurde, wie es dem Inhalt des verfrüht signierten Protokolls (Bd. I Bl. 334 d. A.) entspricht.

Tatbestand

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1. Gemäß § 165 Satz 1 ZPO kann die Beachtung der für die Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten, zu denen nach § 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO die Verkündung der Entscheidungen gehört, nur durch das Protokoll bewiesen werden. Nicht ausreichend ist der Verkündungsvermerk des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Februar 1989 – III ZB 38/88, juris Rn. 5; vom 7. Februar 1990 – XII ZB 6/90, FamRZ 1990, 507; vom 13. Juni 2012 – XII ZB 592/11, FamRZ 2012, 1287 Rn. 16). Dem Protokoll fehlt die formelle Beweiskraft des § 165 ZPO, wenn es nicht gemäß § 163 ZPO unterschrieben oder nach § 130b ZPO signiert ist (MünchKomm-ZPO/Fritsche, 6. Aufl., § 165 Rn. 9; vgl. BGH, Beschluss vom 16. Februar 1989, aaO Rn. 6; BeckOK-ZPO/Wendtland, 2023, § 165 Rn. 10; Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 20. Aufl., § 165 Rn. 4; Zöller/Schultzky, ZPO, 34. Aufl., § 165 Rn. 6). Es fehlt am Nachweis einer Verkündung gemäß § 310 ZPO, wenn kein ordnungsgemäß unterschriebenes Protokoll besteht (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Januar 2017 – XII ZB 504/15, Rn. 11 mwN).
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Soweit das Protokoll offensichtliche Lücken aufweist, fehlt ihm ebenfalls die Beweiskraft des § 165 ZPO; in diesem Fall ist der fragliche Vorgang unter Heranziehung aller verfügbaren Erkenntnisquellen im Wege der freien Beweiswürdigung zu ermitteln (vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 1958 – V ZR 12/57, BGHZ 26, 340 = NJW 1958, 711, 712; vom 19. Dezember 1985 – X ZB 5/85, VersR 1986, 487 unter 2.c; vom 26. April 1989 – I ZR 220/87, NJW 1990, 121, 122; OLG Frankfurt, FamRZ 1982, 809 = BeckRS 2010, 14304). Entsprechendes gilt für sonstige inhaltliche Unstimmigkeiten und Widersprüche (BeckOK-ZPO/Wendtland, aaO; MünchKomm-ZPO/Fritsche, aaO; Musielak/Voit/Stadler, aaO Rn. 5).
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2. Hier liegt ein Protokoll über die Verkündung des landgerichtlichen Urteils am 14. April 2022 als elektronisches Dokument vor (Bd. I Bl. 334 d. A.), welches – wie in § 130b Satz 1 ZPO vorgesehen – am Ende des Dokuments den Namen der verantwortenden Einzelrichterin enthält und mit einer technisch gültigen qualifizierten elektronischen Signatur der Richterin versehen ist. Die Besonderheit des Streitfalls liegt darin, dass ausweislich des Signaturprüfprotokolls das Protokoll schon am 13. April 2022 signiert worden ist, also am Tag vor der darin zu beurkundenden Urteilsverkündung. Nach Auffassung des Senats ist dies nicht dem Fall einer gänzlich fehlenden oder (technisch) ungültigen Signatur des Protokollverantwortlichen gleichzustellen, sondern wie eine offensichtliche Lücke oder Widersprüchlichkeit des Protokolls zu behandeln. Die hiernach vorzunehmende freie Beweiswürdigung dürfte zum Nachweis der Verkündung führen.
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a) Die verfrühte Signatur des Protokolls ist hier keiner fehlenden Signatur gleichzustellen, sondern einer inhaltlichen Unstimmigkeit des Protokolls.
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Nach §§ 130b, 163 ZPO war das Protokoll von der Einzelrichterin (vgl. § 159 Abs. 1 ZPO) zu signieren. Diese Signatur ist vorhanden. Die mangelnde Beweiskraft des Protokolls ergibt sich nicht aus dem Fehlen oder der (technischen) Ungültigkeit der Signatur, sondern aus einem Widerspruch, der mit dem beurkundeten Inhalt in Zusammenhang steht.
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Die qualifizierte elektronische Signatur tritt gemäß § 130b ZPO zusammen mit der Namensangabe an die Stelle der in § 163 ZPO vorgeschriebenen Unterschrift. Unterschreiben heißt, die Verantwortung für die Richtigkeit und Vollständigkeit des Protokolls zu übernehmen (MünchKomm-ZPO/Fritsche, 6. Aufl., § 163 Rn. 2; vgl. Anders/Gehle/Bünnigmann, ZPO, 81. Aufl., § 163 Rn. 1; BeckOK-ZPO/Wendtland, 2023, § 163 Rn. 1; Kern/Diehm/Müller-Teckhof, ZPO, 2. Aufl., § 163 Rn. 2; Zöller/Schultzky, ZPO, 34. Aufl., § 163 Rn. 2; vgl. auch BVerwG, NJW 1977, 264). Dies ist nicht möglich, wenn ein Dokument unterschrieben oder signiert wird, bevor der darin beurkundete Vorgang überhaupt stattgefunden hat. Vielmehr ist das Protokoll in der Sitzung oder bald danach zu unterschreiben (vgl. BGH, Urteil vom 15. April 1958 – VIII ZR 72/57, NJW 1958, 1237) beziehungsweise zu signieren.
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Wann das Protokoll signiert worden ist, lässt sich dem Signaturprüfprotokoll entnehmen. Dass dieser Zeitpunkt vor dem zu beurkundenden Vorgang liegt, ergibt erst ein Vergleich mit dem im Text des Protokolls angegebenen Sitzungsdatum. Nur der hieraus ersichtliche Widerspruch ermöglicht den Schluss darauf, dass die – verfrüht signierende – Urkundsperson die Richtigkeit und Vollständigkeit eines Protokolls einer später stattfindenden Sitzung nicht verantwortet haben kann. Das bedeutet aber nicht, dass bei einem sich so darstellenden Protokoll der Signatur jede Wirkung abzusprechen wäre.
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Dies zeigt sich insbesondere, wenn man in Erwägung zieht, dass einem äußerlich identischen Protokoll auch ein Sachverhalt zugrunde liegen kann, der sich nicht als verfrühte Signatur darstellt: Hat ein Richter an einem Tag eine Entscheidung verkündet und anschließend am selben Tag ein Verkündungsprotokoll signiert, das (fälschlich) den nächsten Tag als Sitzungstag ausweist, so liegt ein ordnungsgemäß signiertes Protokoll vor, das lediglich inhaltlich unrichtig ist, was den Sitzungstag betrifft, und gemäß § 164 ZPO berichtigt werden kann. Von einem solchen Fall ist das hier vorliegende Protokoll äußerlich nicht zu unterscheiden.
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Um den Widerspruch zwischen Signaturdatum und protokolliertem Sitzungsdatum aufzuklären, muss auf außerhalb der Urkunde liegende Umstände zurückgegriffen werden (wie beispielsweise die Anberaumung des Verkündungstermins, die aber auch nur indizielle Bedeutung hat). Dies lässt es unumgänglich erscheinen, bei einer (vermeintlich) verfrühten Signatur den Ablauf unter Heranziehung aller verfügbaren Erkenntnisquellen nach freier Beweiswürdigung, insbesondere unter Anhörung der beteiligten Gerichtspersonen zu rekonstruieren. So ist beispielsweise der Bundesgerichtshof von einem lückenhaften Protokoll und der Notwendigkeit einer freien Würdigung aller verfügbaren Erkenntnisquellen ausgegangen, nachdem in ein Protokoll der angegebene Verkündungstermin erst rund ein Jahr später eingetragen worden war (vgl. BGH, Urteil vom 19. Dezember 1985 – X ZB 5/85, VersR 1986, 487 unter 2.b und c).
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b) Die freie Beweiswürdigung unter Heranziehung aller verfügbaren Erkenntnisquellen dürfte hier – vorbehaltlich neuer Erkenntnisse aus etwaigen Stellungnahmen der Parteien – ergeben, dass das angefochtene Urteil des Landgerichts am 14. April 2022 so verkündet worden ist, wie es dem Inhalt des Protokolls entspricht.
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Das Landgericht hat mit Beschluss vom 23. März 2022 (Bd. I Bl. 332 d. A.) Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf den 14. April 2022 bestimmt. Nach Aktenlage hat die Einzelrichterin am 13. April 2022 innerhalb weniger Minuten das angefochtene Urteil, das Protokoll über dessen Verkündung am 14. April 2022 sowie die auf den 14. April 2022 datierten Verfügungen zur Hinausgabe des Urteils und des Protokolls signiert. An die Parteien hinausgegeben wurden Urteil und Protokoll nach Aktenlage am 14. April 2022. Unter dem 14. September 2023 (Bd. II Bl. 30 d. A.) hat die Einzelrichterin dienstlich erklärt, das Urteil sei in der öffentlichen Verhandlung vom 14. April 2022 verkündet worden, wobei niemand (sonst) anwesend gewesen sei. Versehentlich sei das Verkündungsprotokoll zusammen mit dem Urteil bereits am 13. April 2022 signiert worden.
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Die dienstliche Erklärung vom 14. September 2023 bezieht sich auf das Verkündungsprotokoll. Dessen Inhalt bestätigt sie mit der Aussage, das Urteil sei in der öffentlichen Verhandlung vom 14. April 2022 verkündet worden. Dieser Hergang ist mit den sonstigen äußeren Umständen vereinbar und plausibel. Der Senat sieht bei vorläufiger Würdigung keinen Anlass für Zweifel an einer Verkündung des angefochtenen Urteils.
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3. Zur beiliegenden dienstlichen Erklärung der Einzelrichterin des Landgerichts vom 14. September 2023 und zu diesen Hinweisen können die Parteien innerhalb einer Woche Stellung nehmen, falls gewünscht.