Inhalt

LG Bayreuth, Urteil v. 22.11.2023 – 12 S 36/23
Titel:

Haftungsverteilung bei PKW-LKW-Unfall in der Autobahnrastplatz-LKW-Fahrgasse

Normenketten:
StVO § 1 Abs. 2, § 5 Abs. 4a
StVG § 7 Abs. 1, § 17 Abs. 1, Abs. 3, 18 Abs. 1
BGB § 5 249 Abs. 2 S. 1
Leitsätze:
1. Die Nutzung der auf einem Autobahn-Rastplatz befindlichen Fahrgasse zwischen den LKW-Parkplätzen ist für PKW nicht verboten. Allerdings erfordert die Benutzung dieses Fahrweges besondere Sorgfaltspflichten, die sich an der Eigenart dieser Fahrstraße auszurichten haben. (Rn. 31)
2. Bei einem sehr langsam fahrenden LKW im Bereich der Fahrgasse zwischen den LKW Parkplätzen auf einer Autobahnraststätte erkennt der ideale Fahrer, dass sich der LKW auf Parkplatzsuche befindet (sog. „Suchverkehr"). (Rn. 32)
3. Der ideale Fahrer kündigt in dieser Situation eine Überholabsicht durch Licht- oder Hupzeichen (S 5 Abs. 4a, Abs. 5 StVO) an oder versucht, über die Außenspiegel Blickkontakt mit dem Fahrer des LKW aufzunehmen. Sofern dies nicht möglich ist, führt der ideale Fahrer keinen Überholvorgang durch. (Rn. 34)
4. Prozentuale Aufschläge auf Ersatzteilpreise (UPE-Aufschläge) sind auch fiktiv abrechenbar, sofern sie regional üblich sind. (Rn. 40)
Schlagworte:
UPE-, Aufschläge, Überholen, Hupzeichen, Haftungsverteilung, Haftungsabwägung
Vorinstanz:
AG Bayreuth, Endurteil vom 14.06.2023 – 103 C 868/22
Fundstellen:
LSK 2023, 39458
NJW-RR 2024, 307
BeckRS 2023, 39458

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Endurteil des Amtsgerichts Bayreuth vom 14.06.2023, Az.: 103 C 868/22, in Ziff. 1 abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 584,07 Euro nebst Jahreszinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 18.07.2022 zu zahlen.
II. Die weitergehende Berufung des Klägers wird zurückgewiesen.
III. Von den Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens tragen der Kläger 69% und die Beklagten als Gesamtschuldner 31%. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger.
IV. Das gegenständliche Urteil sowie das in Ziff. I. bezeichnete Endurteil des Amtsgerichts Bayreuth sind vorläufig vollstreckbar.
V. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

Entscheidungsgründe

I.
1
Der Kläger begehrt restlichen Schadensersatz sowie eine Feststellung bezüglich einer künftigen Eintrittspflicht aus einem Verkehrsunfall vom 22.06.2022.
2
Am 22.06.2022 gegen 9:45 Uhr befand sich der Kläger mit dem in seinem Eigentum stehenden PKW VW Golf, amtliches Kennzeichen …, auf dem Gelände der Raststätte „Fr...“ der BAB A9 in Fahrtrichtung Norden. Er beabsichtigte, das Gelände der Raststätte zu verlassen und befuhr eine Fahrstraße Richtung Ausfahrt, auf der sich links und rechts Stellplätze für Lastkraftwagen befanden. Vor dem Beklagten auf der rechten Seite fuhr mit Schrittgeschwindigkeit der Beklagte zu 1) mit dem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Sattelzuggespann, bestehend aus einer Zugmaschine, amtliches Kennzeichen … und einem Auflieger, amtliches Kennzeichen … Nachdem der Kläger zu diesem Sattelzug aufgeschlossen und dessen Fahrverhalten zunächst beobachtet hatte, entschloss er sich, das Gespann links zu überholen. Als er sich mit dem Heck seines Autos schon fast auf der Höhe des Fahrerhauses des LKW befand, zog der Beklagte zu 1) ohne Betätigen des Fahrtrichtungsanzeigers nach links, um in eine auf der linken Fahrbahnseite gelegene Parktasche einzufahren. Es kam zur Kollision beider Fahrzeuge. Auf den vom Kläger mit 5.086,60 Euro behaupteten Schaden leistete die Beklagte zu 2) eine Zahlung von 2.340,07 Euro. Den Differenzbetrag verfolgt der Kläger mit der Klage und begehrt daneben die Feststellung der Schadensersatzpflicht der Beklagten mit der Begründung, dass im Falle der Durchführung der Reparatur noch Umsatzsteuer und Nutzungsausfallentschädigung anfallen könnten.
3
Die von ihm verfolgten Schadenspositionen berechnet der Kläger wie folgt:

Reparaturkosten (netto)

3.966,09 €

Sachverständigenkosten (brutto)

835,51 €

Wertminderung

260,00 €

Kostenpauschale

25,00 €

Abzüglich regulierter Reparaturkosten

(-) 1.766,39 €

Abzüglich regulierter Sachverständigenkosten (brutto)

(-) 557,01 €

Abzüglich regulierter Kostenpauschale

(-) 16,67 €

Verbleibt insg.

2.746,53 €

4
Der Kläger ist der Ansicht, dass das Unfallereignis für ihn unabwendbar gewesen sei. Er behauptet, er habe den Fahrtrichtungsanzeiger nach links gesetzt, bevor er zum Überholen angesetzt habe. Der Fahrstreifen sei für ein gefahrloses Überholen breit genug gewesen.
5
Gemäß dem Privatgutachten des Sachverständigen … betrügen die Reparaturkosten netto 3.996,09 Euro, außerdem sei ein merkantiler Minderwert von 260,00 Euro eingetreten.
6
Der Kläger stellt die Firma … als Referenzbetrieb unstreitig und hält die Abtretung wegen eines Verstoßes gegen das Transparenzgebot für unwirksam, sodass er für die Geltendmachung der Sachverständigenkosten weiterhin aktivlegitimiert sei.
7
Der Kläger beantragte erstinstanzlich zuletzt:
I. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger EUR 2.746,53 nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 18.07.2022 zu zahlen.
II. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger sämtliche (weiteren) materiellen Schäden aus dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall vom 22.06.2022 auf dem Gelände der TR ...(... P., ... B.) zu ersetzen.
III. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger weitere Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von EUR 259,90 nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
8
Die Beklagten haben beantragt,
die Klage abzuweisen.
9
Die Beklagten räumen ein, dass sich das klägerische Fahrzeug zum Zeitpunkt des Einbiegens des LKW in Richtung Parktasche offenbar im toten Winkel des Beklagtenfahrzeugs befunden habe und bestreiten mit Nichtwissen, dass der Kläger den Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt hatte.
10
Sie meinen, dass eine Mithaftung des Klägers von 1/3 vorläge, weil er angesichts der sehr langsamen Geschwindigkeit des Gespanns hätte erkennen müssen, dass der Beklagte zu 1) eine freie Parklücke suche und beim Überholen deswegen besondere Sorgfalt hätte walten lassen müssen. Er hätte durch Hupsignal oder Lichtzeichen den Überholvorgang deutlich machen bzw. angesichts der schmalen Fahrstraße auf ein Überholen an dieser Stelle verzichten müssen.
11
Ferner haben die Beklagten erstinstanzlich Einwendungen gegen die Schadenshöhe geltend gemacht. Nachdem der Kläger fiktiv abrechne, müsse er sich auf die Stundenverrechnungssätze eine nicht markengebundenen Fachwerkstatt, hier der Firma … in N. verweisen lassen, die 110,00 Euro Stundensatz, bzw. für Lackierung 168,00 Euro, verrechne. Ferner seien die Ersatzteilaufschläge (UPE) fiktiv nicht erstattungsfähig. Der Farbton des Fahrzeugs sei mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne wahrnehmbare Farbtonunterschiede zu angrenzenden Bauteilen reproduzierbar, sodass eine Beilackierung nicht erforderlich sei, zudem genüge für einige Teile die Lackiererstufe DAT-Eurolack 2, ferner fielen keine Entsorgungskosten an. Auch haben sie den Eintritt einer Wertminderung bestritten und die Ansicht vertreten, dass der Kläger für die Sachverständigenkosten aufgrund der Abtretung nicht mehr aktivlegitimiert sei.
12
Das Amtsgericht Bayreuth hat zu den Instandsetzungskosten und zur Wertminderung Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen … vom 07.03.2023 nebst Ergänzungen vom 18.04.2023 und 25.05.2023.
13
Sodann hat das Amtsgericht Bayreuth mit Endurteil vom 14.06.2023 der Klage zum Teil stattgegeben.
14
Dem Kläger stehe ein weiterer Schadensersatzanspruch in Höhe von 496,26 Euro zu. Außerdem sei festzustellen, dass die Beklagten für die aus dem Unfallereignis künftig noch entstehende Schadenspositionen unter Berücksichtigung einer Mithaftung des Klägers in Höhe von 1/3 hafteten.
15
Dem Kläger stehe dem Grunde nach ein Anspruch gegen die Beklagten aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, 115 VVG zu, der bei der nach §§ 18 Abs. 3, 17 Abs. 1 StVG vorzunehmenden Abwägung einer Mithaftung des Klägers um 1/3 unterliege. Ein fehlendes Verschulden des Beklagten zu 1) im Sinne des § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG liege nicht vor, da die Beklagten eingestanden hätten, dass der Beklagte zu 1) beim Abbiegevorgang das Klägerfahrzeug übersehen hatte. Allerdings sei die Haftung des Klägers nicht nach § 17 Abs. 3 StVG ausgeschlossen. Ein unabwendbares Ereignis liege nicht vor.
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Der optimale Fahrer iSd. § 17 Abs. 3 StVG hätte aufgrund der geringen Geschwindigkeit des LKWs auf dessen Parkabsicht geschlossen und nicht überholt. Zudem sei zu berücksichtigen, dass der Kläger das eigene Setzen des Fahrtrichtungsanzeigers nicht nachgewiesen habe und er die Fahrspur für den LKW-Verkehr genutzt habe. Dem LKW sei jedoch die technisch gesehen höhere Betriebsgefahr und das fehlende Setzen des Fahrtrichtungsanzeigers sowie die Verletzung der doppelten Rückschaupflicht anzurechnen.
17
Das Amtsgericht bejaht einen Anspruch wegen Wertminderung iHv. 200,00 Euro, meint jedoch, dass UPE-Aufschläge iHv. 15% nach ständiger Rechtsprechung des Amtsgerichts nicht erstattungsfähig seien und auch ein Anspruch auf Erstattung weiterer vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten nicht bestünde.
18
Wegen der Einzelheiten der amtsgerichtlichen Entscheidung wird auf das Endurteil vom 14.06.2023 (Bl. 118-125 d.A.) Bezug genommen.
19
Gegen die seinem Prozessbevollmächtigten am 14.06.2023 zugestellte Entscheidung des Amtsgerichts hat der Kläger mit anwaltlichem Schriftsatz vom 06.07.2023, beim Landgericht Bayreuth eingegangen am selben Tag, Berufung eingelegt und diese innerhalb verlängerter Frist mit weiterem, beim Landgericht am 19.09.2022 eingegangenen Schriftsatz vom selben Tag begründet.
20
Mit seiner Berufung wendet sich der Kläger vor allem gegen die vom Amtsgericht vorgenommene Haftungsverteilung. Er hält an seiner Auffassung der vollumfänglichen Haftung der Beklagtenseite fest. Bezüglich der Schadenshöhe beschränkt der Kläger sein Rechtsmittel auf die Frage der UPE-Aufschläge iHv. 131,71 Euro sowie auf einen behaupteten Anspruch auf Erstattung weiterer vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten iHv. 173,27 Euro.

Reparaturkosten (netto)

3.325,69 €

Wertminderung

200,00 €

Sachverständigenkosten (brutto)

835,51 €

Kostenpauschale

25,00 €

Abzüglich regulierter Reparaturkosten

(-) 1.766,39 €

Abzüglich regulierter Sachverständigenkosten (brutto)

(-) 557,01 €

Abzüglich regulierter Kostenpauschale

(-) 16,67 €

Verbleiben insg.

2.046,13 €

21
Im Übrigen wiederholt der Kläger seine erstinstanzliche Argumentation.
22
Der Kläger beantragt im Berufungsverfahren:
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Endurteil des Amtsgerichts Bayreuth vom 14.06.2023, Az. 103 C 868/22, wie folgt abgeändert:
II. Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger EUR 2.046,13 nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz hieraus seit 18.07.2022 zu zahlen.
III. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger sämtliche weiteren materiellen Schäden aus dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall vom 22.06.2022 auf dem Gelände der Rastanlage ... (BAB A9 Richtung B., Gemarkung P.) zu ersetzen.
IV. Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger weitere Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von EUR 173,27 nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
V. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
VI.Die Kostenentscheidung des angefochtenen Urteils wird aufgehoben.
23
Die Beklagten beantragen
Zurückweisung der Berufung.
24
Sie verteidigen unter Wiederholung ihres erstinstanzlichen Vortrags das amtsgerichtliche Urteil.
25
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien, sowie auf die Sitzungsniederschrift vom 22.11.2023 (Bl. 175-178 d.A.) Bezug genommen.
II.
26
Die Berufung des Klägers ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. In der Sache hat sie jedoch nur in geringem Umfang Erfolg.
27
Die vom Amtsgericht vorgenommene Haftungsverteilung ist nicht zu beanstanden.
28
1. Eine Haftungsverteilung von 2/3 auf Seiten der Beklagten und 1/3 auf Seiten des Klägers ist auch zur Überzeugung der Kammer angemessen.
29
Grundsätzlich gilt, dass die StVO auch auf öffentlich zugänglichen Parkplätzen gilt, wobei § 1 Abs. 2 StVO anzuwenden ist und das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme durch die anderweitigen Vorschriften der StVO wertend ausgefüllt wird. Folglich gilt hier z.B. zumindest mittelbar auch die Vorschrift des § 5 StVO.
30
Im Rahmen der vorzunehmenden Haftungsverteilung – insbesondere nach § 17 Abs. 2, 3 StVG – sind zunächst folgend Tatsachen für die Bewertung relevant:
31
a) Die Nutzung der auf einem Autobahn-Rastplatz befindlichen Fahrgasse zwischen den LKW-Parkplätzen ist für PKW nicht verboten. Dies hat auch das Amtsgericht nicht verkannt oder etwa zu Lasten des Klägers berücksichtigt. Allerdings erfordert die Benutzung dieses Fahrweges besondere Sorgfaltspflichten, die sich an der Eingenart dieser Fahrstraße auszurichten haben. Maßstab ist also auch hier der eines auf einer solchen Straße fahrenden, äußerst gewissenhaften, zuverlässigen und rücksichtsvollen Fahrers (vgl. NK-GVR/Azime Zeycan, 3. Aufl. 2021, StVG § 17 Rn. 45). Auch die danach zu fordernden hohen Standards (vgl. BGH NZV 2005, 305; LG Saarbrücken SP 2010, 213; Quarch in Balke/Reisert/Quarch, § 8 Ziffer 55 Rn. 1; NK-GVR/Azime Zeycan, 3. Aufl. 2021, StVG § 17 Rn. 44) verbieten nicht das Benutzen der Fahrgasse durch PKW, verpflichten aber, die Besonderheiten des LKW-Verkehrs im Blick zu behalten und das eigene Fahrverhalten danach auszurichten.
32
b) Auf Rastplätzen der gegenständlichen Art ist bereits grundsätzlich zu berücksichtigen, dass es verkehrsüblich ist, dass ein- und ausfahrende LKW grundsätzlich mit derselben Geschwindigkeit wie PKW fahren. Die Tatsache, dass der vom Beklagten zu 1) gesteuerte LKW unstreitig sehr langsam fuhr, dass der Kläger der Meinung war, ihn überholen zu können, hätte ihm stattdessen gerade anzeigen müssen, dass dieser LKW nicht ein- oder ausfahren wollte, sondern im „Suchverkehr“ war. Unabhängig davon, dass auf Autobahnrastplätzen auch im PKW-Parkbereich ein sehr langsam fahrendes Fahrzeug gerade durch eine solche Fahrweise seine Suchabsicht signalisiert, so gilt dies genauso im LKW-Parkbereich, wobei hier die Besonderheit hinzukommt, dass ein freier LKW-Stellplatz wegen der von bereits parkenden LKW ausgehenden Sichtbehinderungen erst sehr spät, d.h. erst kurz vor Erreichen jenes freien Platzes, erkennbar sind. Außerdem ist es üblich und allgemein bekannt, dass gerade wegen der kurzfristigen Erkennbarkeit freier Parkflächen regelmäßig und entgegen den geltenden Verkehrsregeln kein Fahrtrichtungsanzeiger (mehr) gesetzt wird, was im Übrigen genauso für PKW-Parkplätze gilt. Zudem ist dem Idealfahrer bekannt, dass ein LKW einen größeren Schwenkbereich zum Ab-, Ein- und Ausbiegen benötigt und ein gegenüber einem PKW größerer Bereich im sog. „toten Winkel“ des LKW-Fahrers liegt.
33
c) Unter Berücksichtigung dieser Umstände war also vorliegend die Verkehrslage für den Kläger gar nicht unklar. Er musste erkennen, dass der LKW im „Suchverkehr“ fuhr und jederzeit und unvermittelt einen freien Stellplatz, links wie rechts, ansteuern würde. Ganz unabhängig davon hat der Idealfahrer sein Fahrverhalten bereits ganz grundsätzlich darauf auszurichten, dass andere Verkehrsteilnehmer sich unrichtig oder ungeschickt verhalten (vgl. Just/Quarch in Balke/Just/Reisert/Schulz-Merkel § 8 Nr. 56 Rn. 1; Geigel/Kaufmann 2. Teil Rn. 120; NK-GVR/Azime Zeycan, 3. Aufl. 2021, StVG § 17 Rn. 48).
34
Somit „durfte“ der Kläger zwar die Fahrspur benutzen und auch den langsam vorausfahrenden LKW überholen, als idealer Fahrer hätte er aber seine Überholabsicht für den LKW deutlich erkennbar, entweder durch Hupzeichen (§ 5 Abs. 4a, Abs. 5 StVO) oder das Aufnehmen von Blickkontakt mit dem LKW-Fahrer über den linken Außenspiegel des LKW, angekündigt (vgl. Geigel, Haftpflichtprozess, 28. Auflage, § 5 StVO, Rn. 178). So das nicht möglich gewesen wäre, hätte er als Idealfahrer seine Überholabsicht, etwa bis zum Anhalten des LKW, zurückstellen müssen.
35
d) Im Ergebnis erweist sich somit die vom Amtsgericht vorgenommene Haftungsverteilung als beanstandungsfrei. Denn diese spiegelt gerade mit dem höheren Haftungsbetrag der beklagten Partei die entsprechende Verletzung der doppelten Rückschaupflicht durch den Fahrer des LKW sowie dessen höhere Betriebsgefahr wieder. Gleichzeitig wird aber auch berücksichtigt, dass der Kläger die streitige Tatsache des eigenen Fahrtrichtungsanzeigers nicht beweisen konnte. Somit steht sich auf beiden Seiten das Unterlassen der Nutzung des Fahrtrichtungsanzeigers gegenüber. Ebenso ist eingeflossen, dass, wie vorstehend ausgeführt, der Idealfahrer hier gar nicht erst in diese Gefahrensituation gelangt wäre bzw. diese gar nicht erst hervorgerufen hätte.
36
e) Es bedurfte auch nicht der Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens, da zentraler rechtlicher Anknüpfungspunkt nicht die unmittelbare Kollision, sondern bereits der Beginn des Überholvorgangs ist.
37
2. Bezüglich der Schadenshöhe konnte das angefochtene Urteil jedoch nicht vollumfänglich Bestand haben. Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts sind nämlich auch die Aufschläge auf die unverbindlich empfohlenen Preise für Ersatzteile (fiktiv) abrechenbar.
38
Gem. § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB hat das Gericht für die vom Kläger geltend gemachten Schadenspositionen die Erforderlichkeit und Angemessenheit festzustellen. Diese Feststellungen können mit Hilfe eines gerichtlichen Sachverständigen erfolgen, der im Rahmen einer eigenen Kalkulation eine Prognoseentscheidung darüber abgibt, welche Kosten bei einer Reparatur in einer Fachwerkstatt voraussichtlich anfallen. Diese Prognoseentscheidung betrifft aber nicht nur die in der Rechtsprechung streitigen Positionen der Verbringungskosten und der UPE-Aufschläge, sondern sämtliche Positionen. Denn eine konkret reparierende Werkstatt kann andere als vom Gutachter veranschlagten Preise wählen oder einen anderen Reparaturweg einschlagen. Die fiktive Schadensabrechnung knüpft mithin schon begrifflich nicht an eine tatsächlich durchgeführte, sondern an eine fiktive Reparatur an. Es liegt in der Natur der Sache, dass bei der fiktiven Abrechnung eines Fahrzeugschadens stets eine (gewisse) Unsicherheit verbleibt, ob der objektiv zur Herstellung erforderliche (ex ante zu bemessende) Betrag demjenigen entspricht, der bei einer tatsächlichen Durchführung der Reparatur angefallen wäre oder anfallen würde (vgl. BGH, Urt. v. 17.9.2019 – VI ZR 396/18 –, juris = r+s 2020, 50).
39
Soweit dies auf Verbringungskosten übertragen wird, sind diese daher grundsätzlich auch bei fiktiver Abrechnung ersatzfähig, soweit sie in einem Gutachten eines anerkannten Sachverständigen Berücksichtigung gefunden haben und wenn sie nach den örtlichen Gepflogenheiten auch bei einer Reparatur in einer markengebundenen Werkstatt angefallen wären (herrschende Rspr.: vgl. Urt. v. OLG Düsseldorf, Urt. v. 6.3.2012 – 1 U 108/11-; OLG Hamm, Urt. v. 30.10.2012 – 9 U 5/12, Rn. 22 f. = r+s 2013, 147; OLG Hamm, Urt. v. 29.8.2014 – I-9 U 26/14 –, Rn. 28; OLG München, Urt. v. 28.2.2014 – 10 U 3878/13 –, Rn. 13; OLG Frankfurt a. M., Urt. v. 21.4.2016 – 7 U 34/15 –, Rn. 15; KG Berlin, Urt. v. 10.9.2007 – 22 U 224/06 –, Rn. 12, alle zitiert nach juris; Almeroth, in: MüKo, StVR, 1. Aufl. 2017, BGB § 249 Rn. 195; Grüneberg, in: Palandt, BGB, 79. Aufl. 2020, § 249, Rn. 14 mwN; Jahnke, in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker, StVR, 26. Auflage 2020, § 249 BGB Rn. 104).
40
Die vorgenannte Argumentation gilt auch für prozentuale Aufschläge auf Ersatzteilpreise (UPE-Aufschläge) und kann hierfür gleichermaßen übertragen werden. Sie können ebenfalls bei der fiktiven Abrechnung verlangt werden, wenn und soweit sie regional üblich sind (vgl. König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 12 StVG Rn. 24 mwN; OLG Celle, Urt. v. 10.11.2021 – 14 U 136/20, r+s 2022, 111, beck-online).
41
Im streitgegenständlichen Fall hat der gerichtliche Sachverständige in seinem Gutachten vom 07.03.2023 (nebst Ergänzung vom 18.04.2023 und 25.05.2023) UPE-Aufschläge iHv. 15% eingestellt. Er hat sodann in seinem Gutachten eine Umfrage bei in der Region ansässigen Werkstätten durchgeführt, die zu dem Ergebnis gekommen ist, dass von 20 Werkstätten 16 Betriebe UPE-Aufschläge verrechnen. Hierbei bewegten sich die Aufschläge in einem Rahmen von 10% – 27%. Die Kammer erachtet vorliegend gemäß diesen Erkenntnissen des Sachverständigen, die nicht von der beklagten Partei bestritten wurden, die angesetzten UPE-Aufschläge zur Schadensbehebung als erforderlich und angemessen. Sie sind auch im Rahmen der fiktiven Abrechnung zu berücksichtigen.
42
3. Unter Berücksichtigung dieser Haftungsverteilung sind dem Kläger somit in Abweichung zum erstinstanzlichen Urteil noch 2/3 des Wertes der UPE-Aufschläge (131,71 Euro) zuzusprechen. Dies sind vorliegend 87,81 Euro, sodass sich ein begründeter Anspruch des Klägers in Höhe von insgesamt 584,07 Euro ergibt.
43
4. Ein weiterer Anspruch wegen vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten als Nebenforderungen besteht nicht, da sich diese allein aus einem „berechtigten“ Gegenstandswert bis 3.000,00 Euro berechnen und insoweit bereits eine hinreichende vorgerichtliche Regulierung durch die Beklagte zu 2) iHv. 367,23 Euro erfolgt ist.
44
Das amtsgerichtliche Urteil war somit, wie vorstehend ausgeführt, geringfügig abzuändern. Im Wesentlichen hatte die Berufung jedoch keinen Erfolg und war daher zurückzuweisen.
III.
45
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97 Abs. 1, 92 ZPO.
46
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
IV.
47
Die Revision gegen diese Entscheidung war nicht zuzulassen, da die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht vorlagen, § 543 Abs. 2 ZPO.