Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 16.10.2023 – Au 7 K 20.2855
Titel:

rechtswidrige Rüge eines Gemeinderatsmitglieds

Normenketten:
VwGO § 43, § 113 Abs. 1 S. 4
BayGO Art. 20 Abs. 4 S. 1, Art. 102 Abs. 3 S. 3
Leitsätze:
1. Die Gemeinde muss eine schuldhafte Pflichtverletzung eines Gemeinderatsmitglieds nicht mit einem Ordnungsgeld ahnden; Art. 20 Abs. 4 S. 1 Hs. 1 BayGO stellt eine hinreichende Rechtsgrundlage für eine förmliche Ermahnung (Rüge) als „Minus“ zum Ordnungsgeld dar. (Rn. 74) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Pflicht, die maßgebenden Gründe für eine Verweigerung oder Einschränkung der Entlastung des ersten Bürgermeisters als Leiter der Gemeindeverwaltung anzugeben, trifft gemäß Art. 102 Abs. 3 S. 3 BayGO den Gemeinderat als Ganzes, nicht aber das einzelne Gemeinderatsmitglied. (Rn. 91) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Gemeinderatsmitglied, Rüge, Pflichtverletzung durch Stimmabgabe gegen eine Entlastung des ersten Bürgermeisters ohne Begründung in der Sitzung (verneint), Grundsatz des freien Mandats, ordnungsgemäße Ermessensausübung (verneint), allgemeine Feststellungsklage, Fortsetzungsfeststellungsklage, Rehabilitierungsinteresse, Rüge durch Gemeinderat, Ermessensausübung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 39252

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Gemeinderats der Beklagten vom 1. Dezember 2020 und die vom ersten Bürgermeister der Beklagten ausgesprochene Rüge vom 1. Dezember 2020 jeweils in Bezug auf den Kläger rechtswidrig waren.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen eine ihm vom Gemeinderat der Beklagten erteilte Rüge und begehrt nach Aufhebung dieser Rüge und des ihr zugrundeliegenden Gemeinderatsbeschlusses die Feststellung der Rechtswidrigkeit der ergriffenen Maßnahmen.
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1. Der Kläger ist Mitglied im Gemeinderat der Beklagten. Bereits in der Wahlperiode 2014 bis 2020 war er in dieser Funktion auch Mitglied im Rechnungsprüfungsausschuss des Gemeinderats und ist dies noch immer.
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Am 13. März 2020 fand die Prüfung der Jahresrechnung 2019 durch den Rechnungsprüfungsausschuss der Beklagten statt. Aus der hierzu gefertigten Niederschrift ergibt sich, dass der Kläger pünktlich zu dieser Sitzung erschienen gewesen sei. Er habe erklärt, mit vielen Kunden Kontakt zu haben und einen Kontakt mit Corona-Infizierten nicht ausschließen zu können. Er wolle die anderen Teilnehmer nicht anstecken und deshalb die Prüfung verschieben. Die übrigen fünf zu diesem Zeitpunkt anwesenden Mitglieder des Rechnungsprüfungsausschusses hätten eine Verschiebung abgelehnt, da die Wahl des neuen Gemeinderats am 15. März 2020 bevorstand und die Entlastung für das Jahr 2019 noch durch den alten Gemeinderat erfolgen solle, außerdem ordnungsgemäß zum Sitzungstermin geladen gewesen sei, der von allen Teilnehmern auch schriftlich bestätigt worden sei. Der Kläger habe sodann ein von ihm gefertigtes Schreiben, das stichpunktartig fünf zu überprüfende „Prüfungspunkte“ enthielt, verteilt und die Sitzung verlassen. Sodann sei die Beschlussfähigkeit des Rechnungsprüfungsausschusses festgestellt worden. Ein weiteres Mitglied sei verspätet eingetroffen und über die Geschehnisse informiert worden. Auch dieses Mitglied habe gegen eine Verschiebung gestimmt, sodass die Prüfung durchgeführt worden sei. Die vom Kläger in seinem Schreiben aufgeführten „Prüfungspunkte“ seien überprüft worden, soweit sie Gegenstand des Prüfungszeitraums 2019 gewesen seien. Als zusammengefasstes Prüfungsergebnis wurde festgehalten, dass die örtliche Rechnungsprüfung zu keinen Feststellungen Anlass gegeben habe. Dieses Ergebnis sowie die Aktennotiz zu der durchgeführten Prüfung wurde von den anwesenden Rechnungsprüfungsausschussmitgliedern unterschrieben. Der Aktennotiz beigefügt wurde das mit „Prüfungspunkte“ überschriebene und zuvor verteilte Schreiben des Klägers. Auf diesem waren durch die anwesenden Mitglieder des Rechnungsprüfungsausschusses handschriftliche Anmerkungen zu den jeweiligen Unterpunkten hinzugefügt worden.
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Am 28. April 2020 fand sodann eine öffentliche Sitzung des Gemeinderats der Beklagten statt, zu der laut der vorgelegten Niederschrift ordnungsgemäß geladen war. Tagesordnungspunkt 2 des öffentlichen Teils der Sitzung war die Feststellung der Jahresrechnung 2019 und eine diesbezügliche Entlastung des ersten Bürgermeisters. Die Sitzungsniederschrift hält hierzu fest, dass die örtliche Prüfung der Jahresrechnung 2019 durch den Rechnungsprüfungsausschuss am 13. März 2020 stattgefunden habe. Der beanstandungsfreie Prüfungsbericht sei vom Vorsitzenden des Rechnungsprüfungsausschusses verlesen worden. Die Versammlung genehmige nachträglich alle Kostenüberschreitungen. Sodann sei folgender Beschluss ergangen:
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„Die Jahresrechnung 2019 wird in der in diesem Beschluss beiliegenden Form festgestellt (Anlage 1).
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Gegenstimmen: Gemeinderäte B., O., R., S. und Z..“
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Zur Entlastung des ersten Bürgermeisters hinsichtlich der Jahresrechnung 2019 ist folgender Beschluss in der Niederschrift festgehalten:
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„Das Gremium beschließt: Über die Jahresrechnung der Gemeinde ... für das Haushaltsjahr 2019 wird gemäß Art. 102 Abs. 3 GO Entlastung erteilt (Anlage 2).
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Gegenstimmen: Gemeinderäte B., O., R., S. und Z..
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Herr erster Bürgermeister ... nahm gemäß Art. 49 GO an der Beratung und Abstimmung nicht teil.“
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Dem Sitzungsprotokoll der Niederschrift beigefügt war die Anlage 1 zur Feststellung der Jahresprüfung (Beschluss) dahingehend, dass die Gesamtzahl der stimmberechtigten Gemeinderatsmitglieder (13) anwesend gewesen sei. Für den Beschluss hätten acht Gemeinderatsmitglieder gestimmt, dagegen fünf. Die Jahresrechnung sei mit einem ausgeglichenen Ergebnis festgestellt worden. Außerdem beigefügt war die Anlage 2 zum Entlastungsbeschluss. Von den 13 Mitgliedern des Gemeinderats seien anwesend und stimmberechtigt zwölf Mitglieder gewesen, für den Beschluss hätten sieben, dagegen hätten fünf Gemeinderatsmitglieder gestimmt. Entlastung sei erteilt worden.
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Am 11. September 2020 gingen bei der Beklagten sodann zwei Schreiben des ehemaligen ersten Bürgermeisters der Beklagten, gerichtet an den derzeitigen ersten Bürgermeister der Beklagten persönlich, ein. In diesen beantragte der ehemalige erste Bürgermeister, dass in einer öffentlichen Gemeinderatssitzung die Vorgänge um die Feststellung der Jahresrechnung 2019 und seine Entlastung behandelt würden. Die Überprüfung der Jahresrechnung 2019 durch den Rechnungsprüfungsausschuss habe im Vorfeld zu einigen Vorfällen geführt, die der Kommunalaufsicht des Landratsamts ... sowie den zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Verwaltungsgemeinschaft ... im Detail bekannt seien. Die betroffenen Abteilungsleiter und Mitarbeiter sollten angehört werden, es gebe auch entsprechende Aktenvermerke. Nachdem der Vorsitzende des Rechnungsprüfungsausschusses den Prüfbericht vollumfänglich in der Gemeinderatssitzung mit einem beanstandungsfreien Prüfungsergebnis vorgetragen habe, habe er zugleich die Abstimmung über die Entlastung durchgeführt, da der erste Bürgermeister an der Beratung und Abstimmung nicht teilnehmen dürfe. Mit sieben zu fünf Stimmen sei zwar die Entlastung erteilt worden, allerdings hätten die Gemeinderäte O., B., R., Z. sowie der Kläger ohne Begründung dagegen gestimmt und somit die Entlastung grundlos verweigert. Nach Aussage zweier weiterer Gemeinderäte habe vor der Gemeinderatssitzung eine Zusammenkunft dieser beiden und der genannten fünf Gemeinderäte stattgefunden, bei der das Abstimmungsverhalten abgesprochen worden sei. Die Kommunalaufsicht des Landratsamts und ein von ihm persönlich beauftragter Fachanwalt für Verwaltungsrecht seien zu dem gleichen eindeutigen Ergebnis gekommen, dass hier ein Dienstvergehen mit bewusstem Bruch des Diensteids vorliege. Persönlich hätten diese vorsätzlichen Diensteidverletzungen nicht nur ihn, sondern auch die Mitglieder des Rechnungsprüfungsausschusses sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gemeindeverwaltung tief verletzt und gedemütigt. Er bitte, diese Vorgänge in einer öffentlichen Gemeinderatssitzung zu würdigen, da die Bürgerschaft einen Anspruch auf eine lückenlose Aufklärung habe. Beigefügt war ein Schreiben eines Rechtsanwalts, das zu dem Ergebnis kam, dass die Gemeinderäte, die die Entlastung abgelehnt hätten, gegen ihre Verpflichtung aus Art. 20 GO verstoßen hätten; ein sachlicher Grund für die Verweigerung der Entlastung habe nicht vorgelegen. Als mögliche Sanktion komme aus anwaltlicher Sicht die Verhängung eines Ordnungsgelds in Betracht, das vom Gemeinderat zu beschließen sei.
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Am 4. November 2020 ging bei der Beklagten ein Schreiben von zwei ehemaligen und zwei aktuellen Gemeinderatsmitgliedern ein, die alle vier Mitglieder des Rechnungsprüfungsausschusses 2019 gewesen waren. Auch diese trugen vor, dass am 28. April 2020 die letzte Gemeinderatssitzung der Wahlperiode 2014 bis 2020 stattgefunden habe und unter Tagesordnungspunkt 2 im öffentlichen Teil die Jahresrechnung 2020 festgestellt und sodann der erste Bürgermeister entlastet werden sollte, nach vorausgegangener beanstandungsfreier Prüfung durch den Rechnungsprüfungsausschuss. Dabei hätten sehr überraschend fünf namentlich genannte Gemeinderäte (darunter der Kläger) gegen die Genehmigung gestimmt, ohne zuvor zu diesem Tagesordnungspunkt das Wort ergriffen zu haben (Beratung und Beschlussfassung je Tagesordnungspunkt). Dies habe bei den Unterzeichnern Unverständnis ausgelöst, der Grund für die Ablehnung sei unklar geblieben. Sie selbst und die Bürgerinnen und Bürger der Gemeinde hätten die Beweggründe für die Ablehnung erfahren und darüber diskutieren sollen. Es stehe inmitten, dass die Mitglieder des Rechnungsprüfungsausschusses falsch oder unvollständig geprüft hätten. Dieser Vorgang sei ungeheuerlich und habe im Nachgang zu verschiedenen Recherchen geführt. Mehrere Wochen zuvor hätten Einzelne eine E-Mail des jetzigen zweiten Bürgermeisters erhalten, sie hätten sich für die sicherlich emotionalen Äußerungen im Nachgang zu dem – ihrer Meinung nach rechtswidrigen, mindestens jedoch ethisch falschen – Verhalten der fünf ablehnenden Gemeinderäte entschuldigen sollen. Nach alledem wurde gebeten, unter Hinzuziehung der Gemeindeverwaltung und der Kommunalaufsicht im Landratsamt zu klären, ob von den namentlich genannten Gemeinderäten im Nachhinein eine Begründung eingefordert werden könne, warum sie gegen die Entlastung gestimmt hätten; die Bürgerinnen und Bürger und die Gemeinderatskolleginnen und -kollegen hätten ein Recht auf Information und Diskussion, wenn es Vorbehalte zu einem Tagesordnungspunkt gebe. Ferner wurde um Prüfung gebeten, ob ein Fehlverhalten – ggf. sogar ein Rechtsbruch – der genannten fünf Gemeinderäte vorliege, wenn die Abstimmung im Vorfeld abgesprochen und Bedenken dem restlichen Gemeinderat vorenthalten worden seien. Es wurde gebeten, die Fragen in der nächsten Gemeinderatssitzung entsprechend zu klären.
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Am 1. Dezember 2020 fand eine weitere Gemeinderatssitzung statt. Für den öffentlichen Teil war als Tagesordnungspunkt 8 angegeben: „Anträge zur Aufarbeitung des Abstimmungsergebnisses bei der Jahresrechnung 2019“. Nach der vorgelegten Sitzungsniederschrift war zu diesem Tagesordnungspunkt eine Mitarbeiterin der Verwaltungsgemeinschaft Rain, der die Beklagte angehört, geladen. Zu diesem Tagesordnungspunkt informierte der erste Bürgermeister der Beklagten zunächst über die eingegangenen Schreiben des ehemaligen ersten Bürgermeisters und der vier Mitglieder des Rechnungsprüfungsausschusses der letzten Wahlperiode über die Aufarbeitung des Abstimmungsergebnisses zur Jahresrechnung 2019. Sodann übergab er das Wort an die Mitarbeiterin der Verwaltungsgemeinschaft, die der Sitzungsniederschrift zufolge zunächst rechtliche Ausführungen über die Pflichten des Gemeinderats sowie einzelner Gemeinderatsmitglieder mit Blick auf die Entlastung des ersten Bürgermeisters hinsichtlich der Jahresrechnung tätigte und außerdem ausführte, dass bei Verstößen einzelner Gemeinderatsmitglieder gegen ihre Pflicht zur Entscheidung im Sinne einer gewissenhaften Wahrnehmung ihrer Amtspflichten Sanktionen möglich seien. Es komme zum einen in Frage, dass der Gemeinderat die Belehrung der Gemeinderatsmitglieder als ausreichend erachte; der Gemeinderat könne auch eine Rüge gegen die beteiligten Gemeinderatsmitglieder aussprechen oder ein Ordnungsgeld verhängen. Dies stehe im Ermessen des Gemeinderats. Bei einem Ordnungsgeld müsse von einer vorsätzlichen bzw. grob fahrlässigen Pflichtverletzung ausgegangen werden. Der Gemeinderat habe Gelegenheit zur Diskussion der allgemeinen Fragen. Anschließend wurde die persönliche Beteiligung der fünf betroffenen Gemeinderatsmitglieder festgestellt. Eine Entfernung aus dem Sitzungsaal wurde nicht für notwendig gehalten, an der Diskussion durften sie sich direkt jedoch nicht beteiligen. Sodann wurden die fünf betroffenen Gemeinderatsmitglieder jeweils durch Einzelabstimmung von der Beratung und Abstimmung ausgeschlossen; sie hatten dann jedoch Gelegenheit, eine Stellungnahme abzugeben, was sie auch taten. Der Gemeinderat beschloss sodann, dass es sich um fünf gleichgelagerte Fälle handele, die in einem „Globalbeschluss“ abgehandelt werden könnten.
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2. Zunächst wurde sodann ein Beschlussvorschlag, die rechtlichen Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen und keine weiteren Schritte einzuleiten, mit Stimmengleichheit (vier zu vier) durch den Gemeinderat abgelehnt. In einem zweiten Schritt beschloss der Gemeinderat sodann, die betroffenen Gemeinderatsmitglieder (darunter der Kläger) zu rügen und auf ihre Verpflichtung zur gewissenhaften Erfüllung ihrer Amtspflichten hinzuweisen. Das Abstimmungsergebnis war einstimmig (acht zu null). Es wurde festgestellt, dass die Beschlussfassung über die Verhängung eines Ordnungsgeldes somit entfalle. Im Anschluss erteilte der erste Bürgermeister den betroffenen Gemeinderatsmitgliedern (darunter der Kläger) eine mündliche Rüge und wies laut Protokoll „mit Nachdruck“ darauf hin, dass das Allgemeininteresse vor Einzelinteressen stehe. Die Gemeinderatsmitglieder wurden nochmals auf eine pflichtgemäße Erfüllung ihrer Aufgaben hingewiesen. Auf die Erteilung einer schriftlichen Rüge wurde verzichtet.
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Das Protokoll wurde im Nachhinein zum einen um den Passus ergänzt, dass am Montag, dem 30. November 2020, ein Austausch mit allen Mitgliedern des Gemeinderats stattgefunden habe, zum anderen um den Passus, dass nach der ersten Abstimmung über den „Globalbeschluss“ die Mitarbeiterin der Verwaltungsgemeinschaft Rain darauf hingewiesen habe, dass jeder Gemeinderat bei der zweiten Abstimmung erneut seine Stimme abgeben könne und insoweit nicht durch die vorherige Abstimmung gebunden sei.
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Weiterhin wurde dieses Protokoll im Nachhinein aufgrund eines Beschlusses des Gemeinderats aus der Sitzung vom 19. Januar 2021 ergänzt. In dieser Sitzung hatte der zweite Bürgermeister eine ausführliche Ergänzung des Protokolls beantragt, die vom Gemeinderat auch beschlossen wurde. Zunächst wurde ein Passus aufgenommen, dass der zweite Bürgermeister betont habe, es habe keine Absprachen über das Abstimmungsverhalten gegeben. Ferner wurde das Wort „Anhörung“ aus dem Protokoll gestrichen, da es auch in der Einladung nicht um eine Anhörung gegangen sei und während der Sitzung auch nicht von einer Anhörung die Rede gewesen sei. Schließlich wurde zum „Globalbeschluss“ (Alt. b) Folgendes aufgenommen:
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„Nachdem in erster Abstimmung erneut der Beschluss abgelehnt wurde, hatte nun Frau ... (Mitarbeiterin der VG) angemerkt, dass, wer jetzt dagegen stimme, automatisch für die Geldstrafe sei. Daraufhin kam nun erst in zweiter Abstimmung das Ergebnis von acht zu null zustande.“
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3. Am 31. Dezember 2020 ließ der Kläger Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erheben. Er beantragt zuletzt,
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festzustellen, dass der Beschluss des Gemeinderats der Beklagten vom 1. Dezember 2020 und die vom ersten Bürgermeister der Beklagten ausgesprochene Rüge vom 1. Dezember 2020 jeweils in Bezug auf seine Person rechtswidrig waren.
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Zur Begründung wird insbesondere vorgetragen, dass die dem Kläger erteilte Rüge vom Wortlaut des Gemeinderatsbeschlusses vom 1. Dezember 2020 abgewichen sei. In der Gemeinderatssitzung seien ein Antrag des ehemaligen ersten Bürgermeisters der Beklagten sowie ein zweiter Antrag von zwei ehemaligen und zwei aktuellen Gemeinderatsmitgliedern vom 4. November 2020 behandelt worden. Die Anträge seien den Gemeinderatsmitgliedern nicht ausgehändigt worden, sondern diesen erstmals in einer Vorbesprechung vom 30. November 2020 zur Kenntnis gebracht worden. In der Gemeinderatssitzung seien sie nur verlesen worden. Der Antrag des ehemaligen ersten Bürgermeisters stamme vom 8. September 2020, sei in den Gemeinderatssitzungen vom 8. September 2020, 29. September 2020, 27. Oktober 2020 und 10. November 2020 nicht erwähnt worden; er sei somit offensichtlich aus nicht nachvollziehbaren Gründen zurückgehalten worden. In der Sitzung vom 1. Dezember 2020 habe der Bürgermeister sodann das Wort an eine Mitarbeiterin der Verwaltungsgemeinschaft ... übergeben, die er bei der Vorbesprechung vom 30. November 2020 als Vertreterin der Rechtsaufsicht angekündigt habe. Nach deren Ausführungen habe der erste Bürgermeister ohne weitere Aussprache die Abstimmung über die persönliche Beteiligung der betroffenen Gemeinderatsmitglieder vorgenommen. Nach deren Ausschluss von der Abstimmung hätten die Betroffenen die Möglichkeit einer Stellungnahme gehabt. Hierzu sei auszuführen, dass dem Kläger und den vier weiteren betroffenen Gemeinderatsmitgliedern am Tag zuvor in der „Vorbesprechung“ vom 30. November 2020 der Rat gegeben worden sei, sich in der Gemeinderatssitzung nicht in der sie betreffenden Sache zu äußern, sondern nur allgemein. Dies habe der Kläger dann getan und erklärt, er habe seine Gründe für sein ablehnendes Stimmverhalten gehabt. Anschließend seien dann die Beschlüsse gefasst worden. Nachdem der Beschlussvorschlag, keine weiteren Maßnahmen zu ergreifen, zunächst durch den Gemeinderat mit vier zu vier Stimmen abgelehnt worden sei, habe plötzlich große Verwirrung geherrscht und die Mitarbeiterin der Verwaltungsgemeinschaft ... habe in das Geschehen eingegriffen und erklärt, mit dieser Ablehnung bestehe nur noch die Möglichkeit der Verhängung eines Ordnungsgelds, wovon sie aber abraten würde. Sodann sei über den abgelehnten Beschluss erneut ohne weitere Anhörung abgestimmt worden, um dann das gewünschte Ergebnis herbeizuführen. Der Beschlussvorschlag hinsichtlich einer Rüge sei mit acht zu null Stimmen sodann angenommen worden. Die Mitarbeiterin der VG habe dann dem ersten Bürgermeister auf seine Frage hin erklärt, er müsse jetzt eine Rüge aussprechen, woraufhin der Bürgermeister geäußert habe „Dann rüge ich jetzt“. Ein weiterer Zusatz sei nicht erfolgt, auch keine Begründung, der erste Bürgermeister habe hinzugefügt, er mache dies dann nur mündlich. Der Kläger werde mit dem Globalbeschluss und der dann vom ersten Bürgermeister ausgesprochenen mündlichen Rüge in seinen Rechten verletzt, sodass Klage geboten sei.
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Ein Fehlverhalten des Klägers und der weiteren gerügten Gemeinderatsmitglieder durch ihr Abstimmungsverhalten in der Sitzung vom 28. April 2020 sei nicht festzustellen. Die Abstimmung habe im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Rechnungsprüfungsausschusses der Beklagten gestanden. Der Rechnungsprüfungsausschuss habe im Jahr 2020 nur eine Sitzung am 13. März 2020 abgehalten. Zu dieser Sitzung hätten mehrere Gemeinderatsmitglieder verschiedene Punkte zusammengetragen, die sie für diskussionsbedürftig gehalten hätten. Der Kläger habe diese Punkte in einer Agenda im Wesentlichen zusammengefasst und zur Sitzung mitgenommen und diese dann dort auch verteilt, damit sie diskutiert und abgeklärt werden konnten. Aufgrund der Corona-Pandemie und gesundheitlicher Bedenken habe der Kläger die Sitzung dann letztlich verlassen. Die Sitzung sei dann ohne den Kläger fortgesetzt worden. Eine Niederschrift bzw. ein Protokoll der Sitzung habe der Kläger nicht erhalten. In der Sitzung vom 28. April 2020 sei dargestellt worden, es habe in der Rechnungsprüfungsausschusssitzung keine Vorkommnisse gegeben, was nicht korrekt sei, da zum einen über eine Vertagung der Sitzung habe abgestimmt werden müssen und außerdem der Kläger dem Ausschuss seine Liste mit den abzuarbeitenden Punkten vorgelegt habe. Die genannten Punkte seien zudem aus Sicht des Klägers nicht abgearbeitet und auch nicht in jenem Prüfungsprotokoll aufgeführt worden, das der Kläger erst nach dem 30. April 2020 erhalten habe. In der Sitzung sei dann die Feststellung der Jahresrechnung und Entlastung des ersten Bürgermeisters zur Abstimmung gestellt und mehrheitlich beschlossen worden. Die fünf überstimmten Gemeinderatsmitglieder seien im Protokoll (anders als die befürwortenden Gemeinderatsmitglieder) eigens namentlich aufgeführt worden. Das Abstimmungsverhalten der Gegenstimmenden sei nachträglich insbesondere von dem damaligen ersten Bürgermeister massiv kritisiert worden, was nachträglich auch zu einer Diskreditierung der ablehnenden Gemeinderatsmitglieder durch andere Gemeinderatsmitglieder geführt habe. Der ehemalige erste Bürgermeister habe dann beantragt, dass gegen die Abweichler wegen ihres Abstimmungsverhaltens vorgegangen werden solle.
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Hierzu seien die Gemeinderäte unter dem 24. November 2020 zu einer Sitzung am 1. Dezember 2020 sowie zusätzlich zu einer „Vorbesprechung“ am 30. November 2020 eingeladen worden. Die Vorbesprechung habe sich außerdem auf einen weiteren Tagesordnungspunkt bezogen. Hinsichtlich der Jahresrechnung 2019 hätten die fünf Gemeinderatsmitglieder, die gegen die Feststellung der Jahresrechnung und Entlastung des ersten Bürgermeisters gestimmt hätten, ihre Gründe für ihr Abstimmungsverhalten dargelegt. So habe insbesondere der Kläger ausgeführt, dass die Prüfungspunkte, die er dem Rechnungsprüfungsausschuss am 13. März 2020 vorgelegt hatte, zu diesem Zeitpunkt (d.h. am 28.4.2020) aus seiner Sicht nicht oder nicht ausreichend abgeklärt worden seien. Auch habe er nie eine Niederschrift oder Protokoll der Sitzung erhalten. Den Prüfbericht habe er erst nach dem 30. April 2020 erhalten. So sehe er immer noch großen Aufklärungsbedarf hinsichtlich der mit dem Gemeinderat nicht abgestimmten Verschenkung von erheblichem Inventar aus dem ehemals als Migrantenheim genutzten Raiffeisengebäude. Des Weiteren bestünden unter anderem erhebliche Unklarheiten bezüglich der eingegangenen finanziellen Verpflichtungen oder Verpflichtungen mit finanziellen Auswirkungen für das ohne Zustimmung des Gemeinderats vom ehemaligen ersten Bürgermeister geplante Gemeindezentrum auf dem ehemaligen Raiffeisenareal. Auch seien die Kosten der Rathaussanierung trotz mehrfacher Aufforderung nie zur Gänze mitgeteilt worden. Unabhängig davon seien die Ausführungen des Vorsitzenden des Rechnungsprüfungsausschusses in der Gemeinderatssitzung vom 28. April 2020, dass der Kläger am 13. März 2020 nicht erschienen sei und es keine besonderen Vorkommnisse gegeben habe, schlichtweg unwahr gewesen.
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Die streitgegenständliche Rüge sei in rechtswidriger Weise ergangen. Eine Verletzung von kommunalrechtlichen Pflichten durch den Kläger liege nicht vor.
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Zum einen finde die angegriffenen Maßnahme einer Rüge in der Gemeindeordnung keine Rechtsgrundlage. Soweit teilweise vertreten werde, dass diese sich als milderes Mittel in Art. 20 Abs. 4 Satz 1 GO finde, könne dem nicht gefolgt werden. Für eine Straf- bzw. Disziplinarmaßnahme bedürfe es einer ausdrücklich normierten Befugnisnorm. Es hätte der Beklagten formalrechtlich freigestanden, über ein Ordnungsgeld abstimmen zu lassen.
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Im Umkehrschluss zu Art. 20 Abs. 4 GO ergebe sich jedoch, dass der Gesetzgeber gerade keine Befugnisnorm für eine Rüge erlassen habe. Auch in Art. 48 GO sei neben der Möglichkeit eines Ordnungsgelds keine weitere Sanktionsmöglichkeit aufgeführt. Auch insoweit sei der Rechtssatz „major minus continet“ gerade nicht anwendbar. Darüber hinaus sei eine Rüge auch kein Minus gegenüber einem Ordnungsgeld. Eine Rüge stelle eine völlig anders geartete Straf- bzw. Disziplinarmaßnahme als eine Geldstrafe bzw. ein Ordnungsgeld dar. Es sei nicht ersichtlich, dass eine Rüge gegenüber einem Ordnungsgeld eine mildere Sanktion sei.
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Unabhängig hiervon sei die angegriffene Maßnahme formalrechtlich rechtswidrig ergangen.
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In formalrechtlicher Hinsicht hätten den Gemeinderatsmitgliedern die gestellten Anträge, die zu den Abstimmungen am 1. Dezember 2020 geführt hätten, vorab und überhaupt schriftlich zur Kenntnis gebracht werden müssen. Dies sei vom ersten Bürgermeister verweigert worden, sodass die Anträge erst in der Vorbesprechung und dann in der Sitzung vom 1. Dezember 2020 jeweils nur verlesen worden seien. Der Antrag des ehemaligen ersten Bürgermeisters habe zudem nicht angenommen und nicht verlesen werden dürfen, da dieser seit dem 1. Mai 2020 kein Gemeinderatsmitglied mehr gewesen sei; sein Antrag sei auch von keinem Gemeinderatsmitglied eingebracht worden.
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Der erste Bürgermeister habe überdies nicht offengelegt, dass es sich bei der in der Gemeinderatssitzung anwesenden Mitarbeiterin der Verwaltungsgemeinschaft um eine eben solche und nicht um eine Person der Rechtaufsicht gehandelt habe. Dass dieser ein umfassendes Rederecht zu den juristischen Fragen eingeräumt worden sei, ohne jedenfalls den Kläger vorab zu informieren, damit dieser sich habe darauf einstellen können, stelle die Neutralität des ersten Bürgermeisters zumindest infrage. Der erste Bürgermeister habe auch nicht offengelegt, welcher Art die von ihm zitierte, sehr ausführliche Abstimmung mit der Kommunalaufsicht im Landratsamt gewesen sei. Hierzu habe es keinerlei Informationen gegeben.
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Der Beschluss des Gemeinderats und die erteilte Rüge seien inhaltlich nicht hinreichend bestimmt, objektiv nicht eindeutig und verstießen somit gegen Art. 37 BayVwVfG. Der Beschluss und die erteilte Rüge seien auch nicht begründet worden, sodass auch insoweit ein formaler Verstoß gegen Art. 39 BayVwVfG vorliege. Ferner sei die Beschlussfassung als „Globalbeschluss“ unzulässig gewesen, da die betroffenen Gemeinderatsmitglieder hierdurch bereits vorverurteilt worden seien und ihnen ein jeweils gleiches Handeln unterstellt worden sei. Soweit überhaupt eine Rüge zulässig sei, sei jedenfalls eine Sammeldisziplinarmaßnahme im Gesetz nicht vorgesehen.
31
Die Maßnahme sei aber auch materiell-rechtlich rechtswidrig.
32
Der Kläger unterliege als Mitglied des Gemeinderats grundsätzlich keiner inhaltlichen Beschränkung seiner Meinungsäußerung und seines Abstimmungsverhaltens. Dies schließe ein, dass er seine Meinung oder Kenntnis von möglicherweise relevanten Tatsachen für sich behalte, insbesondere, wenn er von Tatsachen nur vage bzw. noch nicht verifizierte Kenntnis habe oder deren Relevanz nur schwer einschätzen könne. Ferner müsse er sein Abstimmungsverhalten nicht begründen.
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Der Kläger sei zudem, wie jedes andere Gemeinderatsmitglied auch, nicht verpflichtet und könne nicht verpflichtet werden, sein Abstimmungsverhalten von Loyalitäten bestimmten Personen gegenüber abhängig zu machen. Sachfremde Überlegungen hätten beim Kläger bei seinen Abstimmungen nicht vorgelegen. Somit liege auch kein Verstoß gegen die Pflicht zur verantwortungsbewussten Führung der übertragenen Geschäfte vor.
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Soweit auf einen möglichen Verstoß gegen Art. 102 Abs. 3 GO (örtliche Prüfungen) abgestellt werden sollte („Verweigert der Gemeinderat die Entlastung oder spricht er sie mit Einschränkungen aus, hat er die dafür maßgeblichen Gründe anzugeben“), so sei auszuführen, dass sich diese Vorschrift zum einen an den Gemeinderat in seiner Gesamtheit richte und nicht an die einzelnen Gemeinderatsmitglieder. So habe der Gesetzgeber in dieser Vorschrift auch sehr deutlich zwischen Gemeinderat einerseits und Gemeinderatsmitgliedern andererseits unterschieden. Zum anderen setze diese Vorschrift tatbestandsmäßig voraus, dass der Gemeinderat die Entlastung verweigert haben müsse, was hier nicht der Fall gewesen sei. Insoweit habe der Gemeinderat auch keine Begründungspflicht und schon gar nicht ein einzelnes Gemeinderatsmitglied. Unabhängig davon könne eine Begründung, so sie denn überhaupt erforderlich sei, auch nachträglich erfolgen.
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Soweit (zunächst hilfsweise) ein Feststellungsantrag gestellt wurde, habe der Kläger ein Rechtsschutzbedürfnis, da die ihm gegenüber erlassene Maßnahme rechtswidrig sei und die Gefahr bestehe, bei einer erneuten Abstimmung unter Druck gesetzt zu werden (Wiederholungsgefahr). Des Weiteren habe der Kläger ein Rehabilitierungsinteresse, da ihm mit der Rüge ein tatsächlich nicht gegebenes Fehlverhalten im Rahmen des ihm anvertrauten Amts unterstellt werde. Der Kläger habe ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit im Hinblick auf seine zukünftigen Wirkungsmöglichkeiten als Gemeinderatsmitglied und an der Feststellung, dass er durch die erteilte Rüge in der Freiheit der Mandatsausübung verletzt worden ist. Er werde durch die erklärte Rüge auch in seinem öffentlichen Ansehen herabgewürdigt.
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4. Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wird insbesondere vorgetragen, die Klage sei teilweise unzulässig, jedenfalls aber unbegründet. Der streitgegenständliche Beschluss sowie die daraufhin erteilte Rüge seien rechtmäßig und verletzten den Kläger nicht in seinen Rechten.
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Zunächst sei klarzustellen, dass in der Gemeinderatssitzung vom 1. Dezember 2020 eine Mitarbeiterin der Verwaltungsgemeinschaft ... anwesend gewesen sei. Sie sei Verwaltungsbeamtin und Leiterin des Rechtsamts bei der Verwaltungsgemeinschaft gewesen. Zu keinem Zeitpunkt habe der erste Bürgermeister der Beklagten eine Vertreterin der Rechtsaufsicht angekündigt. Der Bericht der Beamtin sei aber vorab mit der Kommunalaufsicht des Landratsamts ... abgestimmt worden. Es sei auch nicht zutreffend, wenn der Kläger vortrage, dass ihm und den vier weiteren betroffenen Gemeinderatsmitgliedern in der Vorbesprechung der Rat gegeben worden sei, sich in der Gemeinderatssitzung in dieser Sache nur allgemein zu äußern. Richtigerweise sei ihnen empfohlen worden, Reue und Einsicht zu zeigen, da die Angelegenheit dann auf diese Weise zum Abschluss gebracht werden könne. Es sei festzustellen, dass die Vorbesprechung vom 20. November 2020 auf ausdrücklichen Wunsch des zweiten Bürgermeisters anberaumt worden sei. Es sei aber nicht zutreffend, dass die fünf Gemeinderatsmitglieder die Gründe für ihr Abstimmungsverhalten hier dargelegt hätten. Gründe seien nicht genannt worden, es sei weder Reue noch Einsicht gezeigt worden, es sei vielmehr der Hinweis erfolgt, dass sie wieder so abstimmen würden. Soweit der Kläger sich darauf berufe, dass die Prüfungspunkte, die er dem Rechnungsprüfungsausschuss am 13. März 2020 vorgelegt habe, aus seiner Sicht nicht oder nicht ausreichend abgeklärt worden seien und bei einer Reihe weiterer Punkte noch Klärungsbedarf bestehe, stelle dies keine nachvollziehbare Begründung dar. Die Rechnungsprüfung habe sich ausschließlich auf das Jahr 2019 bezogen. Der Kläger habe hingegen zahlreiche Punkte aus früheren Jahren mit in die Prüfung einbeziehen wollen. Die Themen, die sich auf das Jahr 2019 bezogen hätten, seien vom Rechnungsprüfungsausschuss abgearbeitet worden, was sich aus den handschriftlichen Notizen der Prüfungsausschussmitglieder auf dem Schreiben des Klägers vom 13. März 2020 ergebe. Hinzuweisen sei auch darauf, dass das Prüfungsrecht stets nur dem Rechnungsprüfungsausschuss als Gremium, niemals jedoch dem einzelnen Mitglied des Rechnungsprüfungsausschusses zustehe.
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Entgegen der Auffassung des Klägers sei der gefasste Beschluss des Gemeinderats und die darauf basierend ausgesprochene Rüge rechtmäßig. Zunächst bestünden Zweifel an der Zulässigkeit der Klage hinsichtlich der Klagebefugnis des Klägers für eine Aufhebung des Gemeinderatsbeschlusses und der Rüge im Hinblick auf die vier weiteren betroffenen Gemeinderatsmitglieder. Der „Globalbeschluss“ sei in Richtung auf jedes beteiligte Mitglied in einen Einzelbeschluss umzudeuten. Eine Klagebefugnis könne sich jeweils nur insoweit ergeben, als der Kläger selbst von dem Beschluss betroffen sein kann.
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Zudem sei die getroffene Maßnahme rechtmäßig. So gehe die Auffassung des Klägers fehl, dass für die angegriffene Maßnahme (Rüge) keine Rechtsgrundlage vorhanden sei. Sowohl in Literatur als auch Rechtsprechung bestehe die einhellige Auffassung, dass anstelle eines Ordnungsgelds als milderes Mittel auf Basis von Art. 20 Abs. 4 Satz 1 GO auch eine Ermahnung oder Rüge ausgesprochen werden könne.
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Die Maßnahme sei auch in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden. Wie der Kläger selbst vortrage, sei der Inhalt der Anträge spätestens in der Vorbesprechung vom 30. November 2020 bekannt geworden. Die Gesamtproblematik und die vorliegenden Anträge von früheren und aktuellen Gemeinderatsmitgliedern seien spätestens seit der Gemeinderatssitzung vom 10. November 2020 bekannt gewesen. Weder der Inhalt der Anträge noch die Abstimmung unter Tagesordnungspunkt 8 seien für den Kläger demnach überraschend gewesen. Unabhängig davon sei für den Ausspruch einer Rüge ein entsprechend formales Verfahren nicht erforderlich. Es sei darauf hinzuweisen, dass die Annahme eines Antrags nicht erforderlich bzw. an keine besonderen Voraussetzungen geknüpft sei. Der erste Bürgermeister entscheide, inwieweit er einen eingegangenen Antrag in den Gemeinderat einbringe. Der ehemalige erste Bürgermeister sei insoweit als Gemeindebürger selbstverständlich auch berechtigt, entsprechende Anträge zu stellen. Im Übrigen habe darüber hinaus ein weiterer Antrag aus der Mitte des Gemeinderates vorgelegen, über den ebenfalls zu befinden gewesen sei.
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Der Beschluss des Gemeinderats und die erteilte Rüge seien auch hinreichend bestimmt und eindeutig. Es sei auch nicht zutreffend, dass der Beschluss des Gemeinderats und die erteilte Rüge nicht begründet worden seien. Die Begründung sei ausführlich durch die Mitarbeiterin der Verwaltungsgemeinschaft ... im Rahmen ihrer Ausführungen in der Sitzung gegeben worden. Unabhängig davon bedürfe ein Verwaltungsakt, wie ihn die Rüge darstelle, keiner Begründung, um rechtmäßig zu sein.
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Entgegen der Auffassung des Klägers stelle die Rüge keine Disziplinarmaßnahme dar. Im Übrigen wäre für den Fall, dass ein „Globalbeschluss“ tatsächlich rechtlichen Bedenken begegnet, eine Umdeutung in Einzelbeschlüsse möglich bzw. angezeigt.
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Die angegriffene Maßnahme sei auch materiell-rechtlich nicht zu beanstanden. Die Entlastung stelle den förmlichen Abschluss des Rechnungslegungsverfahrens und die abschließende Würdigung der Haushaltsführung durch den Gemeinderat dar. Lägen die Voraussetzungen für eine uneingeschränkte Entlastung vor, habe der erste Bürgermeister einen Rechtsanspruch auf Erteilung der Entlastung. Verweigere der Gemeinderat die Entlastung, so habe er nach Art. 102 Abs. 3 Satz 3 GO die dafür maßgebenden Gründe anzugeben. Die Entlastung stelle insoweit kein Instrument einer allgemeinen Rechts- oder Zweckmäßigkeitskontrolle oder einer politischen Kontrolle dar. Eine Verweigerung oder Einschränkung könne dem Ansehen des ersten Bürgermeisters in der Öffentlichkeit und auch als Dienstvorgesetzter der Gemeindebediensteten erheblich schaden und sei deshalb nach obergerichtlicher Rechtsprechung nur bei schwerwiegenden Verstößen zulässig, die bei objektiver Betrachtung die Vertrauensgrundlage zwischen erstem Bürgermeister und Gemeinderat erschüttern würden. Zwar sei hier mehrheitlich der Entlastung zugestimmt worden, sodass Art. 102 Abs. 3 GO direkt keine Anwendung finden dürfte, selbstverständlich bestehe aber für das einzelne Gemeinderatsmitglied die Verpflichtung des Art. 20 Abs. 1 GO, wobei die Wertung des Art. 102 GO bei der Frage, wie die Obliegenheiten eines Gemeinderatsmitglieds gewissenhaft wahrzunehmen seien, entsprechend zu berücksichtigen sei. Der Kläger und die weiteren vier Gemeinderatsmitglieder hätten die Entlastung ohne Aussprache bzw. Begründung und – wie sich aus dem eindeutigen Ergebnis der Rechnungsprüfung ergebe – ohne sachliche Grundlage verweigert. Obwohl der Prüfbericht des Rechnungsprüfungsausschusses ohne Beanstandung geblieben sei, seien etwaige Zweifel nicht vorab erhoben und auch in der Gemeinderatssitzung nicht dargelegt bzw. begründet worden. Es sei ersichtlich, dass die Verweigerung der Entlastung allein den Zweck gehabt habe, den ehemaligen ersten Bürgermeister zum Ende seiner Amtszeit erheblich politisch zu beschädigen. Hierin sei zweifelsfrei ein Verstoß gegen die Pflicht zur verantwortungsbewussten Führung der übertragenen Geschäfte zu sehen. Der Gemeinderat habe bei der Erteilung der Rüge auch nicht ermessensfehlerhaft gehandelt. Der Gemeinderat sei sich aufgrund der ihm unterbreiteten Beschlussvorschläge des ihm eröffneten Ermessens bewusst gewesen und habe sich insoweit nicht für ein Ordnungsgeld, sondern für das mildeste Sanktionsmittel, die hier ausgesprochene Rüge, entschieden.
46
Gemäß dem zwischenzeitlich vorliegenden Prüfungsbericht des Bayerischen Kommunalen Prüfungsverbands für die Jahre 2014 bis 2019 seien auch keinerlei Beanstandungen festgestellt worden, die eine Ablehnung der Entlastung des ersten Bürgermeisters hinsichtlich der Jahresrechnung 2019 durch den Kläger und die weiteren betroffenen Gemeinderatsmitglieder gerechtfertigt hätten. Das Ergebnis decke sich insoweit mit dem Ergebnis der Prüfung des Rechnungsprüfungsausschusses, der ebenfalls keine Beanstandungen festgestellt und dem Gemeinderat die Entlastung vorgeschlagen habe.
47
5. Mit Schriftsatz vom 26. Juli 2023 teilte die Beklagte mit, dass der Gemeinderatsbeschluss vom 1. Dezember 2020, mit dem die Erteilung einer Rüge u.a. gegenüber dem Kläger beschlossen wurde, in der Gemeinderatssitzung vom 18. Juli 2023 aufgehoben worden sei. Die Rüge werde zurückgezogen. Der Rechtsstreit habe sich damit in der Hauptsache erledigt. Einer prozessbeendenden Erklärung werde bereits vorab zugestimmt.
48
Das Protokoll der Sitzung des Gemeinderats vom 18. Juli 2023 wurde hierzu vorgelegt.
49
Daraufhin stellte der Kläger seinen Klageantrag auf einen Fortsetzungsfeststellungsantrag um. Er trug vor, dass er für diesen ein berechtigtes Interesse habe. Trotz der Rücknahme des Beschlusses am 18. Juli 2023 würden die Vorwürfe eines rechtswidrigen Abstimmungsverhaltens tatsächlich weiterhin erhoben; dies sei nicht nur aus dem Beschluss vom 18. Juli 2023 erkennbar, sondern auch aus den sich aus dem Protokoll hierzu ergebenden Äußerungen des ersten Bürgermeisters und einzelner Gemeinderatsmitglieder der Beklagten. Bezeichnend sei insoweit auch, dass der Zurücknahmebeschluss erst nach über zweieinhalb Jahren und erst angesichts des anstehenden Gerichtstermins erfolgt sei und die Beklagte trotz der Zurücknahme einen Kostenantrag stelle, wohl in der Hoffnung, dass das Gericht insoweit noch in ihrem Sinne entscheiden könnte. Der Kläger habe daher ein fortbestehendes berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der streitgegenständlich angegriffenen Maßnahmen. Konkret bestehe insbesondere eine Wiederholungsgefahr sowie auch ein berechtigtes Rehabilitierungsinteresse des Klägers.
50
Es bestehe Wiederholungsgefahr bei vergleichbarem Sachverhalt, weil der Kläger auch derzeit Mitglied des Rechnungsprüfungsausschusses der Beklagten sei. Es sei daher nicht auszuschließen, dass er für sein Abstimmungsverhalten erneut gerügt werde, falls er hinsichtlich der anstehenden Feststellung der aktuellen Jahresrechnung sowie der Entlastung zur Jahresrechnung in der Sache Bedenken habe und dann ablehnend abstimmen könnte wie am 28. April 2020, sei es mit oder ohne Begründung. Angesichts der sich aus dem Protokoll vom 18. Juli 2023 ergebenden Umstände müsse der Kläger damit rechnen, dass er dann erneut mit einer Rüge sanktioniert würde. Es sei nämlich nicht erkennbar, dass die Beklagte die inmitten stehende Rüge aus Rechtsgründen zurückgenommen habe. Tatsächlich sei das Gegenteil der Fall, wie es sich aus dem Zusatz zu dem Rücknahmebeschluss eindeutig ergebe. Denn die Beklagte halte an der von ihr eingenommenen Rechtsauffassung, die zu der angegriffenen und nunmehr zurückgenommenen Rüge geführt habe, weiterhin fest. In der Beschlussfassung heiße es ausdrücklich „(d) ie von Frau ... in der Gemeinderatssitzung am 01.12.2020 aufgeführten allgemeinen rechtlichen Ausführungen bleiben Bestand dieses Beschlusses und gelten der Information an das gesamte Gremium.“ Deutlicher könne man nicht ausdrücken, dass die von der Beklagten eingenommene Rechtsauffassung beibehalten werden solle. Der Rücknahmebeschluss werde damit inhaltlich konterkariert. Die Beklagte habe eindeutig zu verstehen gegeben, dass sie an der rechtlichen Einschätzung der Handlungen der gerügten Gemeinderatsmitglieder trotz Aufhebung weiterhin festhalte und das Abstimmungsverhalten des Klägers weiterhin als rechtswidrig ansehe. Aus dem Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 18. Juli 2023 ergebe sich weiterhin, dass der derzeitige Vorsitzende des Rechnungsprüfungsausschusses ausdrücklich weiterhin daran festhalte, dass der Kläger und die weiteren gerügten Gemeinderatsmitglieder zurecht gerügt worden seien. Auch der erste Bürgermeister und ein weiteres Gemeinderatsmitglied hätten dies laut Protokoll so bekräftigt. Aus der Wertung des Art. 51 Abs. 2 GO ergebe sich, dass die Freiheit der Gemeinderatsmitglieder bei Abstimmungen unter besonderen Schutz gestellt sei. In diese Freiheit sei im Fall des Klägers unter massivsten Verstößen gegen formelles und materielles Recht eingegriffen worden, sodass es nicht auszuschließen sei, dass die Beklagte wiederum zu diesen Maßnahmen greifen würde, wenn keine richterliche Klarstellung der Rechtswidrigkeit erfolge. Insofern bestehe ein Bedürfnis, dass für ein künftiges Verhalten der Gemeinderatsmitglieder in vergleichbaren Situationen angesichts zum Teil auch fehlender einschlägiger Rechtsprechung hierzu die Rechtslage klargestellt wird.
51
Der Kläger habe auch ein Rehabilitierungsinteresse, nachdem er durch die erteilte Rüge und den Vorwurf der nicht gewissenhaften Erfüllung seiner Amtspflicht im Gemeinderat und in der Öffentlichkeit diffamiert und stigmatisiert worden sei. Der Kläger sei mit der streitgegenständlichen Rüge, die in öffentlicher Versammlung und in Anwesenheit von Pressevertretern beschlossen worden sei, für sein Abstimmungsverhalten gerügt worden. Ihm sei in diffamierender Weise die „Verpflichtung zur gewissenhaften Erfüllung seiner Amtspflichten“ vorgehalten worden. Dies sei seitens der anwesenden Presse in mehreren Presseartikeln veröffentlicht und thematisiert worden. Es sei auffallend, dass die Presse zu der Gemeinderatssitzung vom 18. Juli 2023, in der die Rüge zurückgenommen worden sei, offenkundig nicht geladen worden und daher auch nicht anwesend gewesen sei, wie es bei derartigen Sitzungen sonst üblich sei. Dem Kläger sei keine entsprechende Mitteilung der Beklagten an die Presse bekannt. Offensichtlich habe die Anwesenheit der Presse im Termin am 18. Juli 2023 vermieden werden sollen. Der Kläger, der von der Beklagten in öffentlicher Sitzung gerügt worden sei, habe ein berechtigtes Interesse daran, dass die Zurücknahme der Rüge in gleicher Weise wie die Rüge in der Presse veröffentlicht werde, ebenso daran, dass die Gründe hierfür dargestellt werden. Immerhin habe er zweieinhalb Jahre mit dem Makel der Rüge und dem Vorwurf der Verletzung seiner Amtspflichten leben müssen, was die Beklagte in Kauf genommen habe. Indem die Presse nun nicht geladen worden und nicht erschienen sei, sei dem Kläger auch diese Art der Genugtuung von der Beklagten bewusst vorenthalten worden. Im nunmehrigen Beschluss zur Rücknahme der Rüge sei auch in keiner Weise erkennbar, dass der Kläger und seine vier Gemeinderatskollegen rehabilitiert werden sollten. Es sei erkennbar, dass dies ausschließlich aus Kostengründen erfolgen sollte und der Vermeidung eines Gerichtstermins mit der Wahrnehmungsmöglichkeit durch die Öffentlichkeit diente. Dies ergebe sich eindeutig aus dem Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 18. Juli 2023. Auch in dem der Beschlussfassung vom 18. Juli 2023 nachfolgenden Mitteilungsblatt der Beklagten, in dem über die Themen aus der Sitzung berichtet worden sei, sei nicht berichtet worden, dass die ausgesprochenen Rügen gegenüber dem Kläger und den vier weiteren betroffenen Gemeinderatsmitgliedern zurückgenommen wurden. Die Beklagte hätte aber ausdrücklich klarstellen müssen, dass genau diese diskriminierenden Vorwürfe zurückgenommen werden. Auch aus dem insoweit durchaus vergleichbaren Presserecht sei bekannt, dass ein Anspruch darauf bestehe, dass fehlerhafte und diskriminierende Veröffentlichungen in derselben Weise, wie sie an die Öffentlichkeit gelangt sind, richtiggestellt werden müssten. Nach alledem bleibe die Diskriminierung faktisch bestehen, sodass der Kläger zur Wahrung seines Ansehens gegenüber Dritten, gegenüber seinen Gemeinderatskollegen sowie gegenüber den Gemeindebürgern ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahmen habe.
52
Das Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 18. Juli 2023 gebe außerdem Veranlassung, inhaltlich ergänzend vorzutragen. Weder der ehemalige erste Bürgermeister noch die übrigen – z.T. ehemaligen – Gemeinderatsmitglieder hätten einen Antrag auf disziplinarische Maßnahmen gegen den Kläger gestellt, kein einziger Antrag habe sich auf eine im Gesetz nicht aufgeführte Rüge bezogen. Trotzdem habe der erste Bürgermeister der Beklagten im Vorfeld der Sitzung vom 1. Dezember 2020 ausführlich die im Gesetz nicht geregelte Rüge sowie auch die Möglichkeit eines zuvor niemals thematisierten „Globalbeschlusses“ vorab prüfen lassen. Nochmals sei auch zu betonen, dass die Aussage des ersten Bürgermeisters laut Protokoll vom 18. Juli 2023, dass bei der Beschlussfassung vom 1. Dezember 2020 die fünf betroffenen Gemeinderäte weiterhin die Gründe für ihre Gegenstimmen nicht genannt hätten, unrichtig sei. Sowohl der Kläger als auch die weiteren vier Gemeinderatsmitglieder, die insoweit als Zeugen benannt würden, hätten ihre Gründe vorgetragen.
53
Der Beklagte ließ zum zuletzt gestellten Fortsetzungsfeststellungsantrag vortragen, dass weder eine Wiederholungsgefahr noch ein Rehabilitationsinteresse ersichtlich seien. Die Klage sei nunmehr unzulässig.
54
6. Unter dem 3. August 2022 wurde von der Beklagten noch der Bericht über die überörtliche Prüfung der Jahresrechnungen 2015 bis 2019 des Bayerischen Kommunalen Prüfungsverbands vorgelegt, der einige Feststellungen enthält, soweit ersichtlich aber die Prüfungspunkte des Klägers nicht aufgenommen hat.
55
Am 16. Oktober 2023 wurde die mündliche Verhandlung für das Verfahren durchgeführt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und vorgelegten Behördenakten sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

56
Die Klage hat Erfolg.
57
1. Sie ist zulässig.
58
a) Soweit zuletzt beantragt ist, die Rechtswidrigkeit des Gemeinderatsbeschlusses vom 1. Dezember 2020 festzustellen, ist die Klage als allgemeine Feststellungsklage nach § 43 VwGO zulässig.
59
aa) Die zunächst gegen diesen Beschluss erhobene Klage war als allgemeine Leistungsklage mit kassatorischer Wirkung zulässig (VG Regensburg, U.v. 13.5.2026 – RN 3 K 14.2156 – juris Rn. 22). Mangels Verwaltungsaktsqualität dieses Beschlusses, der keine unmittelbare Rechtswirkung nach außen (Art. 35 des Bayerischen Verwaltungsverfahrensgesetzes – BayVwVfG) hat, kam eine Anfechtungsklage hier nicht in Betracht.
60
bb) Nach Aufhebung des Beschlusses in der Gemeinderatssitzung vom 18. Juli 2023 ist der Kläger durch diesen Beschluss nicht mehr beschwert. Nach Erledigung der Leistungsklage ist jedoch die hier erfolgte Umstellung auf eine allgemeine Feststellungsklage nach § 43 VwGO – die im Übrigen hier von Anfang an hilfsweise beantragt war – als sachdienliche Klageänderung i.S.v. § 91 Abs. 1 VwGO anzusehen; auf die Frage, ob bei einer allgemeinen Leistungsklage eine Umstellung auf eine Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 4 VwGO statthaft ist (offen gelassen BVerwG, U.v. 22.4.1977 – VII C 17.74 – juris Rn. 22) kommt es daher nicht an (zum Ganzen Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 113 Rn. 137).
61
cc) Der Kläger ist insoweit klagebefugt, weil analog § 42 Abs. 2 VwGO eine Betroffenheit in eigenen Rechten möglich erscheint. Soweit im ursprünglichen Klageantrag zur Aufhebung des Beschlusses, der der Rüge gegen den Kläger und die weiteren Betroffenen zugrunde lag, ausdrücklich auch die weiteren betroffenen Gemeinderatsmitglieder genannt wurden, käme dem Kläger mangels Betroffenheit in eigenen Rechten keine Klagebefugnis zu. Im Hinblick auf die Klagebegründung, in der ausdrücklich auf eine Rechtsverletzung allein beim Kläger (und nicht bei den anderen Betroffenen) abgestellt wird, legt das Gericht den Antrag gemäß § 88 VwGO dahingehend aus, dass die Nennung der Namen der anderen von Beschluss und Rüge betroffenen Gemeinderatsmitglieder der Bezeichnung des Beschlusses bzw. der Rüge dienten, eine Klageerhebung insoweit jedoch nicht beabsichtigt war und nicht vorlag.
62
dd) Auch das – nach Aufhebung des Gemeinderatsbeschlusses – gemäß § 43 Abs. 2 VwGO erforderliche Feststellungsinteresse liegt vor.
63
Die Annahme eines berechtigten Feststellungsinteresses setzt bei vergangenen Rechtsverhältnissen – und zwar sowohl im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO als auch im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO – die Gefahr einer Wiederholung oder die Berechtigung einer Rehabilitierung voraus (Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 43 Rn. 34).
64
Das erforderliche Feststellungsinteresse liegt hier zunächst im Hinblick auf eine bestehende Wiederholungsgefahr vor. Die Gefahr der Wiederholung setzt eine konkrete Gefahr voraus, dass künftig vergleichbares Verwaltungshandeln zu erwarten ist; darüber hinaus müssen die für die Beurteilung maßgeblichen rechtlichen und tatsächlichen Umstände im Wesentlichen unverändert geblieben sein (vgl. BVerwG, U.v. 16.5.2013 – 8 C 14.12 – BVerwGE 146, 303-324 – juris Rn. 21). Der Kläger ist auch in der derzeitigen Wahlperiode Mitglied im Gemeinderat und Rechnungsprüfungsausschuss der Beklagten. Bei der örtlichen Rechnungsprüfung im Sinne von Art. 103 Abs. 1 der Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern (Gemeindeordnung – GO), ebenso wie bei der Prüfung der Jahresrechnung und Entlastung des ersten Bürgermeisters (Art. 102 Abs. 3 GO), handelt es sich um einen regelmäßig wiederkehrenden Vorgang; Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte eine Änderung in Bezug auf die hier in Streit stehende Vorgehensweise vornehmen wird, sind nicht ersichtlich (vgl. VG München, U.v. 12.12.2018 – M 7 K 18.452 – juris Rn. 19), vielmehr ist aus dem Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 18. Juli 2023 insbesondere zu entnehmen, dass die Beklagte an ihrer rechtlichen Beurteilung der der Beschlussfassung und Rüge zugrundeliegenden Sachlage festhält.
65
Ebenso ist ein Rehabilitierungsinteresse des Klägers gegeben. Für ein ausreichendes Feststellungsinteresse genügt mit Blick auf eine angestrebte Rehabilitierung kein bloßes ideelles Interesse an der endgültigen Klärung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit eines Verwaltungshandelns ohne Rücksicht darauf, ob abträgliche Nachwirkungen dieses Handelns fortbestehen, denen durch eine gerichtliche Sachentscheidung wirksam begegnet werden könnte. Es muss vielmehr im Einzelfall ein berechtigtes Schutzbedürfnis gegenüber solchen fortbestehenden Nachwirkungen des erledigten Verwaltungsakts oder sonstigen Verwaltungshandelns vorhanden sein (BVerwG, B.v. 2.7.1998 – 2 B 130.97 – juris Rn. 2 m.w.N.). Dies ist hier der Fall. Der Gemeinderatsbeschluss vom 1. Dezember 2020 enthält nicht nur den Vorwurf einer sanktionswürdigen Pflichtverletzung, eines Fehlverhaltens, an den Kläger. Er wurde in öffentlicher Sitzung gefasst und hat Resonanz in der Presse gefunden. Er war somit objektiv geeignet, das Ansehen des Klägers in der Öffentlichkeit herabzusetzen (vgl. VGH BW, U.v. 11.10.1995 – 1 S 1823/94 – juris Rn. 29 zur Verletzung der Teilnahmepflicht an Sitzungen). Durch die in der Öffentlichkeit hingegen wohl nicht in gleicher Weise bekannt gewordene Aufhebung des Beschlusses allein war der Kläger damit nicht rehabilitiert.
66
b) Auch soweit beantragt ist, die Rechtwidrigkeit der aufgrund des Beschlusses vom 1. Dezember 2020 ausgesprochenen Rüge festzustellen, ist die Klage zulässig. Sie ist insoweit als Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO statthaft.
67
aa) Die Rüge stellt vorliegend einen feststellenden Verwaltungsakt dar, der die Missbilligung des Verhaltens des Gemeinderatsmitglieds zum Ausdruck bringt und damit in dessen Rechtsphäre als Person eingreift (vgl. VG Regensburg, U.v. 24.9.2014 – RO 3 K 14.383 – juris Rn. 27; VG Würzburg, U.v. 28.4.2004 – W 2 K 03.1519 – juris Rn. 23; a.A. VGH BW, U.v. 2.8.2017 – 1 S 542/17 – juris Rn. 25, wegen fehlender Regelungswirkung, allerdings wohl zum Fall eines hier nicht vorliegenden bloßen rechtlichen Hinweises auf die gesetzlichen Konsequenzen einer Pflichtverletzung; streitgegenständlich wurden die gesetzlichen Konsequenzen hingegen gerade ergriffen). In der Rüge ist die Feststellung enthalten, der Kläger habe seine Pflicht zur gewissenhaften Ausübung seines Ehrenamts schuldhaft verletzt. Dadurch wird die persönliche Rechtstellung des Gemeinderatsmitglieds berührt, und zwar unabhängig davon, ob und in welcher Höhe ein Ordnungsgeld festgesetzt wurde (vgl. BayVGH, B.v. 6.5.1999 – 4 C 99.1124 – juris Rn. 11). Eine Klage gegen die Rüge wäre daher als Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO) statthaft, nach Erledigung durch den Beschluss vom 18. Juli 2023, die Rüge „zurückzuziehen“ und somit den Verwaltungsakt aufzuheben, ist eine Fortsetzungsfeststellungsklage statthaft (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO).
68
bb) Die hierfür analog § 42 Abs. 2 VwGO erforderliche Klagebefugnis liegt vor, soweit die Rüge den Kläger selbst betrifft. Er kann geltend machen, in seinen Rechten verletzt zu sein, dies erscheint auch zumindest möglich. Die Rüge beeinträchtigt die persönliche Rechtsstellung des Klägers grundsätzlich unabhängig davon, ob und in welcher Höhe ein Ordnungsgeld festgesetzt wurde (BayVGH, B.v. 6.5.1999 – 4 C 99.1124 – juris Rn. 11). Im Übrigen wird auf die Ausführungen unter Nummer 1.cc Bezug genommen.
69
cc) Hinsichtlich des zu bejahenden Feststellungsinteresses wird auf die Ausführungen oben unter Nummer 1.dd Bezug genommen, die im Rahmen von § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO entsprechend gelten.
70
2. Die Klage ist auch begründet.
71
a) Die Passivlegitimation der beklagten Gemeinde liegt hier vor. Die Klage ist richtigerweise gegen die Gemeinde als Gebietskörperschaft erhoben worden, und nicht etwa gegen den Gemeinderat oder den ersten Bürgermeister (§ 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO; vgl. VGH BW, U.v. 2.8.2017 – 1 S 542/17 – juris Rn. 24; vgl. auch BayVGH, U.v. 2.7.1976 – 47 V 73 – juris; B.v. 29.1.2004 – 4 ZB 03.174 – juris).
72
b) Der Gemeinderatsbeschluss vom 1. Dezember 2020 und die in dessen Vollzug durch den ersten Bürgermeister ausgesprochene Rüge waren in Bezug auf den Kläger rechtswidrig, wobei offenbleiben kann, ob der Beschluss formell rechtmäßig zustande gekommen ist, da der Gemeinderatsbeschluss jedenfalls materiell rechtswidrig war.
73
aa) Nach Art. 20 Abs. 4 Satz 1 Halbs. 1 GO kann eine ehrenamtliche tätige Person, also auch ein ehrenamtlich tätiges Gemeinderatsmitglied, mit einem Ordnungsgeld bis zu 250,- EUR belegt werden, wenn es – soweit hier relevant – seiner Verpflichtung aus Art. 20 Abs. 1 GO, seine Obliegenheiten gewissenhaft wahrzunehmen, schuldhaft zuwiderhandelt.
74
Art. 20 Abs. 4 Satz 1 Halbs. 1 GO stellt nach herrschender Meinung in Rechtsprechung und Literatur eine hinreichende Rechtsgrundlage dar für den Beschluss, den Kläger zu rügen, und die auf dieser Basis ausgesprochene Rüge. Die Befugnis zur Erteilung einer „Rüge“ als eine mit einer Disziplinarmaßnahme vergleichbare Maßnahme (vgl. BayVGH, B.v. 6.5.1999 – 4 C 99.1124 – juris Rn. 11) ist in dieser Bestimmung zwar nicht ausdrücklich genannt; hierauf hat der Kläger zutreffend hingewiesen. Das dem Gemeinderat nach Art. 20 Abs. 4 Satz 1 Halbs. 1 GO eingeräumte Ermessen lässt es nach herrschender Meinung jedoch auch zu, sich darauf zu beschränken, die Feststellung der Zuwiderhandlung gegen Verpflichtungen der genannten Art, die in der Belegung mit einem Ordnungsgeld inzident enthalten ist, in Form einer Ermahnung oder Rüge unmittelbar auszusprechen. Die Gemeinde muss danach auf eine schuldhafte Pflichtverletzung eines Gemeinderatsmitglieds nicht mit einem Ordnungsgeld reagieren, sondern kann es als „Minus“ zum Ordnungsgeld auch bei einer förmlichen Ermahnung belassen (vgl. BayVGH, B.v. 23.10.1998 – 4 ZB 98.2589 – juris; B.v. 6.5.1999 – 4 C 99.1124 – juris Rn. 12; B.v. 29.1.2004 – 4 ZB 03.174 – juris Rn. 10; VG Ansbach, U.v. 7.5.1998 – AN 4 K 97.00944 – juris; VG Würzburg, U.v. 27.11.2002 – W 2 K 02.870 – juris Rn. 54; VG Würzburg, U.v. 28.4.2004 – W 2 K 03.1519 – juris Rn. 26; VG Bayreuth, U.v. 24.6.2004 – B 2 K 03.1075 – juris Rn. 27; VG Regensburg, U.v. 24.9.2014 – RO 3 K 14.383 – juris Rn. 29; VG München, U.v. 8.3.2017 – M 7 K 16.1635 – juris Rn. 21; a.A. wohl OVG NW, U.v. 15.9.2015 – 15 A 1961/13 – juris Rn 84-88: jedenfalls soweit es das Verhalten eines Gemeinderatsmitglieds außerhalb des Gemeinderats betrifft, ist eine ausdrückliche Rechtsgrundlage erforderlich).
75
Soweit es den unbestimmten Rechtsbegriff der gewissenhaften Wahrnehmung der Obliegenheiten (Art. 20 Abs. 1 GO) betrifft, geht das Gericht davon aus, dass insoweit von den Gemeinderatsmitgliedern jedenfalls rechtmäßiges Handeln verlangt werden kann. In diesem Sinne bestimmen sich Inhalt und Umfang der allgemeinen Sorgfaltspflicht aus Art. 20 Abs. 1 GO im Einzelnen aus den in der Gemeindeordnung auferlegten Sonderpflichten sowie aus den allgemeinen Gesetzen (vgl. Widtmann/Grasser/Glaser, GO, Art. 20 Rn. 4; vgl. hierzu auch VGH BW, U.v. 11.10.2000 – 1 S 2624/99 – juris Rn. 27 zur im Kern inhaltsgleichen Bestimmung des § 17 Abs. 1 GO BW).
76
bb) Hiervon ausgehend ist jedoch festzustellen, dass eine Pflichtverletzung des Klägers i.S.v. Art. 20 Abs. 4 Satz 1 GO im vorliegenden Fall nicht gegeben war.
77
(1) Fraglich ist dabei zunächst schon, welches Verhalten des Klägers konkret als Verstoß gegen Pflichten nach Art. 20 Abs. 1 GO gerügt werden sollte.
78
Weder der Gemeinderatsbeschluss vom 1. Dezember 2020 noch die sodann ausgesprochene Rüge sind insoweit eindeutig. Nach dem Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 1. Dezember 2020 formuliert der Beschluss lediglich, der Gemeinderat beschließe, die betroffenen Gemeinderatsmitglieder „zu rügen und auf ihre Verpflichtung zur gewissenhaften Erfüllung ihrer Amtspflichten hinzuweisen“. Ebenfalls protokolliert ist sodann, dass der erste Bürgermeister eine mündliche Rüge erteilt und mit Nachdruck darauf hinweist, dass „Allgemeininteresse vor Einzelinteresse“ stehe. Zuvor hatte eine Mitarbeiterin der Verwaltungsgemeinschaft, Frau, den Gemeinderat über die Bedeutung der Entlastung des ersten Bürgermeisters nach Art. 102 Abs. 3 Satz 3 GO informiert und darüber, dass diese ein Vertrauensvotum darstelle. Verweigere der Gemeinderat die Entlastung, müsse er dies begründen, sonst sei die Entscheidung rechtsfehlerhaft. Dies gelte zwar für den Gemeinderat als Ganzes, könne aber auch als Maßstab für eine Verweigerung der Entlastung durch einzelne Gemeinderatsmitglieder angesehen werden. Soweit der Rechnungsprüfungsausschuss keine Mängel festgestellt habe, sei in der Regel davon auszugehen, dass keine fachlichen Bedenken vorliegen. Sollten einzelne Gemeinderatsmitglieder Kenntnis über Mängel erhalten, müssten sie diese spätestens bei der Beratung im Gemeinderat vortragen. Ein „Exkurs“ über Offenbarungspflichten und die Meinungsfreiheit schloss sich an. Sodann zeigte die Mitarbeiterin Handlungsmöglichkeiten auf, die bestünden, wenn der Gemeinderat zur Überzeugung gelange, dass ein Gemeinderatsmitglied seinen Verpflichtungen nach Art. 20 Abs. 1 GO zuwidergehandelt habe. Zum Sachverhalt wurde kurz ausgeführt, dass sich laut dem Prüfbericht des Rechnungsprüfungsausschusses zur Jahresrechnung 2019 keine Beanstandungen ergeben hätten. In der Gemeinderatssitzung vom 28. April 2020 sei der Prüfbericht vorgelegt worden, während der Beratung seien keine Bedenken vorgetragen worden. Bei der darauffolgenden Abstimmung hätten fünf Gemeinderatsmitglieder gegen eine Entlastung gestimmt. Eine Begründung sei nicht gegeben worden, insgesamt sei die Entlastung des ersten Bürgermeisters erteilt worden.
79
Ob der Pflichtverstoß hier seitens der Beklagten nun in der negativen Abstimmung als solcher gesehen wurde oder darin, dass keine Begründung für diese gegeben worden sei, oder in einer Kombination aus beidem, ist daraus nicht deutlich erkennbar. Im Rahmen der Klageerwiderung hat die Beklagte erklärt (Gerichtsakte S. 116, Rückseite), aus den Ausführungen im Sitzungsprotokoll sei „klar erkennbar“, dass die „Rüge für das Abstimmungsverhalten im Zusammenhang mit der Entlastung ausgesprochen wurde“. Dies lässt eher den Schluss zu, dass nicht auf eine fehlende Begründung für die Gegenstimmen abgestellt wurde (die dem Protokoll zufolge in der Sitzung vom 28.4.2020 selbst jedoch auch nicht verlangt wurde), wohingegen die Mitarbeiterin der Verwaltungsgemeinschaft ... wie dargelegt wohl eher darauf abstellte, dass die – ihrer Meinung nach entsprechend Art. 102 Abs. 3 Satz 3 GO vom einzelnen Gemeinderatsmitglied abzugebende – Begründung fehlte, so dass sich die Rüge hierauf bezogen haben dürfte, wenn ihre Ausführungen zur Begründung der Rüge herangezogen worden wären. Aus dem Beschluss bzw. dem Protokoll lässt sich hierzu jedoch nichts entnehmen.
80
(2) Eine Rüge des Klägers wegen seines Abstimmungsverhaltens im Rahmen der Beschlussfassung über die Entlastung des ersten Bürgermeisters nach Art. 102 Abs. 3 Satz 1 GO kommt hier jedenfalls nicht in Betracht.
81
(a) Die Gewährleistung des freien Mandats, wie sie in Art. 13 Abs. 2 BV für die Landtagsabgeordneten ausdrücklich verankert ist, gilt in ihrem Kernbestand auch für Gemeinderatsmitglieder. Art. 13 Abs. 2 BV ist Ausdruck der repräsentativen Demokratie. Die Entschließungsfreiheit des gewählten Volksvertreters gegenüber jedermann gehört zum parlamentarischen Repräsentativsystem (vgl. BVerfGE 4, 144 – NJW 1955, 625). Als Vertreter des ganzen Volkes, nicht einer Partei, hat der Abgeordnete frei und nur seinem Gewissen verantwortlich für das allgemeine Wohl zu wirken. Auch die Gemeinderatsmitglieder sind demokratisch legitimierte Vertreter der Gemeindebürger (vgl. Art. 30 Abs. 1 Satz 1 GO). Das den Gemeinden in Art. 11 Abs. 2 Satz 2 BV gewährleistete Recht, ihre Bürgermeister und Vertretungskörper zu wählen, dient der Verwirklichung der gemeindlichen Organisationsautonomie, die zum Kern der gemeindlichen Selbstverwaltung gehört und dem Aufbau der Demokratie in Bayern von unten nach oben (Art. 11 Abs. 4 BV) dient (BayVerfGHE 19, 105/108; vgl. auch Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG). Hiernach verkörpert der Gemeinderat auf der kommunalen Ebene in gleicher Weise das System der repräsentativen Demokratie wie der Bayerische Landtag auf Landesebene. Der Grundsatz, dass der Abgeordnete in der repräsentativen Demokratie von Weisungen seiner Wähler oder seiner Partei frei sein muss (Verbot des imperativen Mandats) gilt für das Gemeinderatsmitglied – ungeachtet der sonstigen erheblichen Unterschiede der Aufgaben – ebenso wie für den Landtagsabgeordneten. Somit kann ein Gemeinderatsmitglied kraft der verfassungsrechtlichen Verbürgungen in Art. 13 Abs. 2 BV und Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG grundsätzlich sein Stimmrecht frei ausüben und ist dabei nur seinem Gewissen unterworfen (siehe zum Ganzen BayVerfGH, B.v. 23.7.1984 – Vf. 15-VII-83 – beck-online; vgl. auch BVerwG, U.v. 27.3.1992 – 7 C 20.91 – BayVBl 1992, 565 – juris Rn. 9; BayVGH, U.v. 11.11.1992 – 3 B 92.727 – juris Rn. 19).
82
Eine absolute Deckungsgleichheit von Inhalt und Umfang des freien Mandats, das Parlamentariern und Gemeinderatsmitgliedern zukommt, besteht allerdings nicht. Der Gemeinderat ist nach seinem Aufgabenkreis kein Parlament (BayVerfGHE 5, 66; BVerfGE 32, 346 – NJW 1972, 860). Er verwaltet die Gemeinde, soweit nicht der erste Bürgermeister selbständig entscheidet (Art. 29 GO). Auch wenn der Gemeinderat im Rahmen der Gesetze ortsrechtliche Satzungen erlassen kann, erfüllt er doch hauptsächlich Aufgaben der Exekutive. Anstehende Verwaltungsgeschäfte müssen erledigt, über Anträge muss entschieden werden. Rechte der Abgeordneten, welche die parlamentarisch-politische Auseinandersetzung sichern oder im System der Gewaltenteilung der Gesetzgebung dienen, sind daher verfassungsrechtlich nur mit Einschränkungen für Gemeinderatsmitglieder aus dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie herzuleiten. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die Funktionsfähigkeit des Gemeinderats ist es etwa nicht zu beanstanden, dass Gemeinderatsmitglieder gemäß Art. 48 Abs. 1 Satz 2 GO – anders als Parlamentarier auf Bundes- und Landesebene – an einer Stimmenthaltung gehindert sind. Die aus dem Grundsatz des freien Mandats folgende Abstimmungsfreiheit gilt somit für Gemeinderatsmitglieder nicht gänzlich uneingeschränkt (siehe zum Ganzen BayVerfGH, B.v. 23.7.1984 – Vf. 15-VII-83 – beck-online; vgl. allg. auch BayVGH, U.v. 3.4.1990 – 4 B 90.182 – juris Rn. 16).
83
Hinsichtlich der Entscheidung des Gemeinderats zur Rechnungsprüfung und Entlastung des ersten Bürgermeisters gemäß Art. 102 Abs. 3 Satz 1 GO ist in der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs geklärt, dass die Verweigerung oder Einschränkung der Entlastung nur bei schwerwiegenden, die Vertrauensgrundlage zwischen den kommunalen Hauptorganen erschütternden Verstößen zulässig ist. Die Jahresrechnung ist der Nachweis des Ergebnisses der Haushaltswirtschaft (Art. 102 Abs. 1 Satz 1 GO). Damit ist die Entlastung auf die finanzwirtschaftlichen Wirkungen des Verwaltungshandelns beschränkt; sie stellt kein Instrument einer allgemeinen Rechts- oder Zweckmäßigkeitskontrolle oder der politischen Kontrolle dar. Hinsichtlich der Prüfungsmaßstäbe enthält das Gesetz keine ausdrückliche Aussage. Sie lassen sich aber aus der Bedeutung herleiten, die dem Rechtsinstitut der kommunalrechtlichen Entlastung beizumessen ist. Die Entlastung nach Art. 102 Abs. 3 Satz 1 GO stellt die Billigung der Haushalts- und Wirtschaftsführung dar. Das hierin liegende Vertrauensvotum ist für einen wesentlichen Teilbereich der gemeindlichen Aufgabenerfüllung eine Grundlage für die Zusammenarbeit zwischen erstem Bürgermeister und Gemeinderat, die sich für ihren Zuständigkeitsbereich als gleichgeordnete kommunale Organe gegenüberstehen. Demgemäß liegt in der Verweigerung der Entlastung die Aussage, dass die Haushaltswirtschaft insgesamt kein Vertrauen verdiene, in ihrer Einschränkung die Aussage, dass der erste Bürgermeister hinsichtlich einzelner Fragenkreise des Vertrauens nicht würdig sei, dass also insgesamt oder im Einzelnen die Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit gestört sei. Die hiermit verbundenen erheblichen Auswirkungen auf das gedeihliche Zusammenwirken der kommunalen Hauptorgane erfordern es, die Versagung der Entlastung, aber auch die Einschränkungen auf wesentliche Verstöße zu beschränken, durch die bei objektiver Betrachtung die Vertrauensgrundlage erschüttert wird. Hierfür lässt sich auch die Überlegung heranziehen, dass die Verweigerung der Entlastung oder ihre Einschränkung dem Ansehen des ersten Bürgermeisters in der Öffentlichkeit und auch als Dienstvorgesetzter der Gemeindebediensteten erhebliche Einbußen zufügen kann; damit ist der die gesamte Verwaltung beherrschende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Kleinere Unzulänglichkeiten, die als einzelne Vorgänge keine schwerwiegenden Unkorrektheiten darstellen und im Hinblick auf den Gesamtumfang der Haushaltswirtschaft nicht ins Gewicht fallen, schließen in der Regel die uneingeschränkte Entlastung nicht aus; hier genügt es, wenn auf eine Beseitigung für die Zukunft hingewirkt wird. Wird die Entlastung gemäß Art. 102 Abs. 3 Satz 1 GO zu Unrecht durch den Gemeinderat nicht erteilt, können der betroffene erste Bürgermeister oder auch die Rechtsaufsicht hiergegen vorgehen (grundlegend zum Ganzen BayVGH, U.v. 11.1.1984 – 4 B 81 A.2021 – beck-online).
84
Der Gemeinderat ist bei seiner Entscheidung nach Art. 102 Abs. 3 Satz 1 GO zwar nicht an das Ergebnis und die Empfehlungen des Rechnungsprüfungsausschusses gebunden. Diese indizieren jedoch, dass die Jahresrechnung unter Beachtung der Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gemeinde vermitteln (vgl. VG Trier, U.v. 6.3.2018 – 7 K 11079/17.TR – juris Rn. 41 f.; Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt durch OVG RhPf, B.v. 25.7.2018 – 10 A 10433/18 – juris).
85
(b) Unter Berücksichtigung obiger Grundsätze stellte die negative Stimmabgabe des Klägers im Rahmen der Abstimmung nach Art. 102 Abs. 3 Satz 1 GO vorliegend keine Verletzung seiner Pflichten aus Art. 20 Abs. 1 GO dar.
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Im vorliegenden Fall hatte zwar der Rechnungsprüfungsausschuss mehrheitlich keine Beanstandungen festgestellt, was – wie ausgeführt – eine ordnungsgemäße Haushaltsführung indiziert. Diese Vermutungswirkung war zum Zeitpunkt der Sitzung vom 28. April 2020 auch nicht durch die „Prüfungspunkte“, die der Kläger den anderen Rechnungsprüfungsausschussmitgliedern in der Sitzung vom 13. März 2020 übergeben hatte, widerlegt worden. Zum einen waren diese Punkte ausweislich des handschriftlich ergänzten Exemplars, das der Aktennotiz zum Prüfungsbericht beigefügt war, durch den Rechnungsprüfungsausschuss geprüft worden. Zum anderen ist weder substantiiert vorgetragen noch ersichtlich, dass die „Prüfungspunkte“ des Klägers derart gravierend sein könnten, dass sie eine Nichtentlastung des ersten Bürgermeisters hätten rechtfertigen können. Ein Beschluss, mit dem die Entlastung des ersten Bürgermeisters abgelehnt worden wäre, wäre daher vorliegend objektiv rechtswidrig und zu beanstanden gewesen. Dies lässt sich auch daraus ersehen, dass auch der zwischenzeitlich vorliegende Bericht des Bayerischen Kommunalen Prüfungsverbands über die überörtliche Prüfung der Jahresrechnungen 2015 bis 2019 keine gravierenden Mängel ergeben hat.
87
Auch wenn die oben wiedergegebene Rechtsprechung (BayVGH, U.v. 11.1.1984 – 4 B 81 A.2021 – beck-online; VG Trier, U.v. 6.3.2018 – 7 K 11079/17.TR – juris Rn. 41 f.) jeweils zur Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit eines Nichtentlastungsbeschlusses des Gemeinderats ergangen ist, sollte sich nach Auffassung des Gerichts auch die Stimmabgabe des einzelnen Gemeinderatsmitglieds im Rahmen der Entlastungsentscheidung nach Art. 102 Abs. 3 Satz 1 GO sachgerechterweise an den Grundsätzen der genannten Rechtsprechung orientieren. Denn ein Gemeinderatsmitglied kann selbstredend kein berechtigtes Interesse daran haben, am Zustandekommen eines rechtswidrigen Gemeinderatsbeschlusses über eine Nichtentlastung des ersten Bürgermeisters mitzuwirken. Jedes Gemeinderatsmitglied sollte daher vor einer negativen Stimmabgabe bei der Abstimmung nach Art. 102 Abs. 3 Satz 1 GO sich selbst nochmals kritisch überprüfen, ob tatsächlich wesentliche Verstöße gegen die Haushaltswirtschaft gegeben sind, die eine Ablehnung eines Entlastungsbeschlusses rechtfertigen. Dies gilt ganz besonders im Fall eines – wie hier – beanstandungsfreien Prüfungsberichts des Rechnungsprüfungsausschusses. In diesem Zusammenhang ist nochmals zu betonen, dass die Abstimmung nach Art. 102 Abs. 3 Satz 1 GO über eine Entlastung des ersten Bürgermeisters nicht als Instrument der allgemeinen politischen Kontrolle, sozusagen als allgemeine kommunalpolitische Missfallensäußerung, missbraucht werden darf.
88
Aus Sicht des Gerichts scheidet im vorliegenden Fall gleichwohl eine Verletzung der Amtspflichten aus Art. 20 Abs. 1 GO durch das Abstimmungsverhalten des Klägers aus.
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Grund hierfür ist bereits, dass die negative Stimmabgabe des Klägers im Ergebnis folgenlos geblieben ist. Denn letztlich wurde vorliegend mit Beschluss vom 28. April 2020 die Entlastung des ersten Bürgermeisters gemäß Art. 102 Abs. 3 Satz 1 GO erteilt, der Gemeinderat hat somit dem ersten Bürgermeister sein Vertrauen ausgesprochen. Ein Anspruch des ersten Bürgermeisters auf einen einstimmig gefassten Beschluss besteht hingegen im Rahmen von Art. 102 Abs. 3 Satz 1 GO nicht.
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Unabhängig davon ist aus Sicht des Gerichts eine Verletzung der Amtspflichten aus Art. 20 Abs. 1 GO durch das Abstimmungsverhalten des Klägers auch aus einem weiteren Grund zu verneinen. Zwar ist es aus Sicht des Gerichts – wie ausgeführt – sachgerecht, dass sich auch das einzelne Gemeinderatsmitglied im Rahmen der Entlastungsentscheidung nach Art. 102 Abs. 3 Satz 1 GO an den Grundsätzen der Rechtsprechung insbesondere des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs orientiert. Mit Blick auf die hohe Bedeutung des verfassungsrechtlich verbürgten Grundsatzes des freien Mandats und der hieraus folgenden Abstimmungsfreiheit für die repräsentative Demokratie stellt jedoch nicht bereits jede negative Stimmabgabe, die zu einem objektiv rechtswidrigen Nichtentlastungsbeschluss des Gemeinderats nach Art. 102 Abs. 3 Satz 1 GO beitragen könnte, ohne weiteres eine Verletzung der Pflichten eines Gemeinderatsmitglieds aus Art. 20 Abs. 1 GO dar. Eine solche Pflichtverletzung ist nach Auffassung des Gerichts vielmehr erst dann gegeben, wenn objektiv davon auszugehen ist, dass das Gemeinderatsmitglied sich bei seinem Abstimmungsverhalten von sachfremden – d.h. nicht haushaltswirtschaftlichen – Erwägungen hat leiten lassen und es somit die Abstimmung nach Art. 102 Abs. 3 Satz 1 GO zu sachfremden Zwecken missbraucht hat, etwa um den ersten Bürgermeister kommunalpolitisch zu beschädigen. Ein solcher Fall eines von sachfremden Motiven getragenen Missbrauchs ist im Fall des Klägers jedenfalls nicht hinreichend deutlich. Mangels hinreichend eindeutiger gegenteiliger Anhaltspunkte geht das Gericht jedoch vorliegend zugunsten des Klägers davon aus, dass er die Abarbeitung seiner „Prüfungspunkte“ im Rechnungsprüfungsausschuss nicht als hinreichend angesehen hat und deshalb in der Sitzung vom 28. April 2020 aus finanzwirtschaftlichen Gründen – allerdings unter offensichtlicher Verkennung der im Rahmen von Art. 102 Abs. 3 Satz 1 GO geltenden rechtlichen Anforderungen (vgl. BayVGH, U.v. 11.1.1984 – 4 B 81 A.2021 – beck-online; VG Trier, U.v. 6.3.2018 – 7 K 11079/17.TR – juris Rn. 41 f.) – gegen eine Entlastung des ersten Bürgermeisters gestimmt hat. Damit ist das Abstimmungsverhalten des Klägers zwar objektiv-rechtlich durchaus kritisch zu sehen; denn wie ausgeführt wäre ein Nichtentlastungsbeschluss aus Sicht des Gerichts vorliegend rechtswidrig gewesen. Hinreichend eindeutige Anhaltspunkte, dass der Kläger die Abstimmung nach Art. 102 Abs. 3 Satz 1 GO zu einer von sachfremden Motiven geleiteten kommunalpolitischen Abrechnung mit dem ehemaligen ersten Bürgermeister der Beklagten missbraucht haben könnte, sind jedoch vorliegend nicht gegeben. Solche würden sich auch nicht daraus ergeben, sollte es zutreffen, dass es im Vorfeld der Abstimmung vom 28. April 2020 Absprachen des Klägers mit anderen Gemeinderatsmitgliedern über das Abstimmungsverhalten gegeben hat; denn eine solche Kommunikation ist nicht per se unzulässig, solange sie nicht von sachfremden Motiven geprägt ist.
91
(3) Soweit die Beklagte (auch bzw. gerade) eine mangelnde Begründung des Abstimmungsverhaltens des Klägers beanstandet haben sollte, überzeugt dies nicht. Die Pflicht, die maßgebenden Gründe für eine Verweigerung oder Einschränkung der Entlastung anzugeben, trifft gemäß Art. 102 Abs. 3 Satz 3 GO den Gemeinderat als Ganzes, nicht das einzelne Gemeinderatsmitglied. Das einzelne Gemeinderatsmitglied „verweigert“ auch nicht die Entlastung, sondern stimmt ggf. lediglich gegen einen Beschluss, diese zu erteilen. Im vorliegenden Fall wurde die Entlastung zudem – wie ausgeführt – letztlich erteilt, so dass schon deshalb Art. 102 Abs. 3 Satz 3 GO nicht einschlägig war.
92
cc) Unabhängig davon ist der Gemeinderatsbeschluss vom 1. Dezember 2020 jedenfalls wegen Ermessensfehlern rechtswidrig. Das dem Gemeinderat bei der Entscheidung nach Art. 20 Abs. 4 Satz 1 GO zukommende Ermessen wurde hier zumindest insoweit fehlerhaft ausgeübt, als die tragenden Erwägungen in der Sitzungsniederschrift und auch sonst nicht hinreichend deutlich werden. In der Folge ist auch die in Vollzug des Gemeinderatsbeschlusses vom 1. Dezember 2020 durch den ersten Bürgermeister ausgesprochene Rüge aus diesem Grund rechtswidrig.
93
(1) Die Entscheidung, ob der Gemeinderat ein Mitglied mit einem Ordnungsgeld belegt, steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gremiums (Art. 20 Abs. 4 Satz 1 GO). Ebenso lässt es diese Bestimmung – wie ausgeführt – zu, sich darauf zu beschränken, die Feststellung der Zuwiderhandlung gegen Verpflichtungen der genannten Art, die in der Belegung mit einem Ordnungsgeld inzident enthalten ist, in Form einer Ermahnung oder Rüge unmittelbar auszusprechen (BayVGH, B.v. 23.10.1998 – 4 ZB 98.2589 – juris Rn. 2 m.w.N.).
94
Im Rahmen der gerichtlichen Nachprüfung von Ermessensentscheidungen gemäß § 114 VwGO stellen sich der streitgegenständliche Beschluss und die Rüge als ermessensfehlerhaft dar. Beide lassen nicht erkennen, in welcher Weise die Beklagte von dem ihr eingeräumten Ermessen Gebrach gemacht und eine dementsprechende Ermessensentscheidung ordnungsgemäß getroffen hat.
95
Aus der Begründung einer Ermessensentscheidung muss ersichtlich sein, dass die Behörde ihr Ermessen ausgeübt und dabei die Interessen der Betroffenen berücksichtigt und abgewogen hat, ferner, von welchen Tatsachen sie ausgegangen ist und welche rechtlichen Beurteilungsmaßstäbe sie angewandt hat. Insbesondere muss für den Betroffenen aus der Begründung, ggf. im Zusammenhang mit den ihm bekannten oder für ihn offensichtlichen Umständen, auch hinreichend erkennbar sein, dass die Behörde sich bewusst war, dass ihr in der Sache ein Ermessensspielraum zukommt und dass sie davon Gebrauch gemacht hat. Fehlt eine Begründung, die diesen Anforderungen genügt, so ist die Entscheidung ermessensfehlerhaft (vgl. zum Ganzen VG München, U.v. 3.12.1997 – M 7 K 96.4284 – juris Rn. 22; Prandl/Zimmermann/Büchner/Pahlke, GO, Art. 48 Nr. 10).
96
(2) Der streitgegenständliche Gemeinderatsbeschluss vom 1. Dezember 2020 wird diesen Anforderungen nicht gerecht.
97
Der Beschluss enthält keine Begründung, nicht einmal in der Weise, dass auf die – allerdings allgemein gehaltenen – Ausführungen der Mitarbeiterin der Verwaltungsgemeinschaft ... Bezug genommen wird. Auch aus den sonstigen Umständen bzw. der Aktenlage ist nicht zu entnehmen, welche Gründe für die Entscheidung des Gemeinderats ausschlaggebend waren. Aus dem Sitzungsprotokoll vom 1. Dezember 2020 ergibt sich lediglich, dass die in der Sitzung anwesende Mitarbeiterin der Verwaltungsgemeinschaft ... zu der Bedeutung der Entlastungsentscheidung, den Voraussetzungen für die Verhängung eines Ordnungsgeldes und den Entscheidungsmöglichkeiten theoretische rechtliche und sachliche Ausführungen gemacht hat. Dass bzw. inwieweit diese Ausführungen grundlegend für die Entscheidung des Gremiums waren, ergibt sich hingegen aus dem Protokoll nicht, im Beschluss bzw. in der Rüge wird auch nicht auf die Ausführungen der Verwaltungsmitarbeiterin Bezug genommen, aus denen sich aber ohnehin auch kein Entscheidungsvorschlag und auch kein Vorschlag, welche Erwägungen hier ausschlaggebend sein könnten, ersehen lassen. Auch aus den Wortbeiträgen der Gemeinderatsmitglieder in der Sitzung, die protokolliert wurden, ergibt sich hierzu nichts. Es kann zwar wohl davon ausgegangen werden, dass dem Gemeinderat bewusst war, eine Ermessensentscheidung zu treffen, da verschiedene Möglichkeiten zur Beschlussfassung zur Verfügung gestellt wurden. Es erschließt sich jedoch nicht, warum von den drei Möglichkeiten, die die Verwaltungsmitarbeiterin aufzeigte (Kenntnisnahme, Rüge, Ordnungsgeld), letztlich gerade die Rüge gewählt wurde, welche Erwägungen also der Auswahl gerade dieser Sanktion zugrunde lagen. Es gibt insbesondere keine Begründung dafür, weshalb eine Rüge erforderlich sei und erteilt werde, und weshalb die Rüge ausreichend und kein Ordnungsgeld erforderlich sei. Eine Auseinandersetzung mit den Belangen des Klägers fehlt zudem völlig; auch die Frage, ob ein Verschulden (und wenn ja, in welcher Form: Vorsatz oder Fahrlässigkeit) vorliegt, wurde nicht erörtert. Auf die Frage, ob ein etwaiges Eingreifen der Verwaltungsmitarbeiterin in den Ablauf der Beschlussfassung zu Ermessensfehlern im Hinblick auf die maßgeblichen Entscheidungsgrundlagen geführt hat, kommt es somit nicht mehr an.
98
Die fehlerhafte Ermessensausübung ist vorliegend auch nicht geheilt worden. Im Klageverfahren ist eine Heilung von Ermessensmängeln insoweit möglich, als Ermessenserwägungen ergänzt werden können (§ 114 Satz 2 VwGO). Eine nachträgliche Heilung ist aber nur möglich, wenn das entscheidende Gremium – d.h. hier der Gemeinderat – tätig wird, was hier ersichtlich nicht der Fall war. Der Gemeinderat hat vielmehr den Beschluss vom 1. Dezember 2020 zuletzt aufgehoben. Eine Ergänzung hinsichtlich der Ermessenserwägungen hat hingegen nicht stattgefunden.
99
3. Da die Klage nach alledem erfolgreich war, trägt die Beklagte die Kosten des Verfahrens (§ 154 Abs. 1 VwGO).
100
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.