Titel:
Befreiung von Baulinie aus übergeleitetem Bebauungsplan
Normenketten:
BauGB § 31 Abs. 2
BauNVO § 23 Abs. 5
Leitsatz:
§ 23 Abs. 5 BauNVO ist auf übergeleitete Baulinienpläne nicht anwendbar (vgl. BVerwG BeckRS 1992, 2962). (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
(Kein) Anspruch auf Befreiung von übergeleiteter Baulinie, § 23 Abs. 5 BauNVO nicht auf übergeleitete Baulinienpläne anwendbar, Baulinie, Befreiung, Baulinienplan, Funktionslosigkeit, Grundzüge der Planung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 13.09.2024 – 2 ZB 23.1748
Fundstelle:
BeckRS 2023, 39229
Tenor
I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger begehrt die Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung eines Vorbescheids auf dem Grundstück Fl.Nr. … Gemarkung … …, … Straße 3 (im Folgenden: Baugrundstück). Für das Baugrundstück sowie das Geviert zwischen …straße im Westen, … Straße im Süden sowie …straße im Osten und … Weg im Norden bestehen durch übergeleiteten Baulinienplan festgesetzte Baulinien. Im Bereich des Baugrundstücks weist diese Baulinie einen Abstand von 15 m zur Straßenbegrenzungslinie der … Straße auf.
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Mit Vorbescheidsantrag vom 21. Dezember 2020 (Plan Nr. …) begehrte der Kläger die Beantwortung mehrerer Fragen zur Realisierung eines Bauvorhabens auf dem Baugrundstück. Die Planung sieht in zwei Varianten die Errichtung eines Mehrfamilienhauses auf dem Baugrundstück vor. Zur Unterbringung von Stellplätzen ist in den Planungen jeweils die Errichtung einer Tiefgarage vorgesehen. Die Tiefgarage soll über einen Autoaufzug im straßennahen, südlichen Bereich des Baugrundstücks zugänglich gemacht werden. Hierzu sieht die Planung die Errichtung eines eingeschossigen, oberirdischen Gebäudes vor. Nach den Planzeichnungen soll der Bereich des Gebäudes, in dem der Autoaufzug untergebracht werden soll, eine Länge von 6,34 m und eine Breite von 3,38 m erhalten. Angrenzend an dieses Gebäude ist darüber hinaus die Errichtung einer Fluchttreppe mit einer oberirdischen Breite von 1,35 m vorgesehen. Der Autoaufzug wird im Untergeschoss an die im Wesentlichen unter dem Hauptbaukörper geplante Tiefgarage angebunden. Das geplante Gebäude kommt vollständig außerhalb der durch übergeleiteten Baulinienplan festgesetzten Baulinie in einem Abstand zur Straßenbegrenzungslinie von 5,10 m zu liegen.
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Zur Veranschaulichung der Planung und der umgebenden Bebauung vergleiche folgenden Lageplan (durch das Einscannen möglicherweise nicht maßstabsgerecht).
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In einem dem Vorbescheidsantrag beigegebenen Fragenkatalog wurde unter B („Anträge nach § 23 BauNVO und § 31 BauGB“) in Frage Nr. 7 ausgeführt: „Es wird gemäß § 23 Abs. 5 BauNVO die Zulassung der Errichtung des Autoaufzugs wie in den Plänen VB_02 und VB_03 dargestellt, einschließlich der Fluchttreppe aus der TG mit den Abmessungen 4,73 m mal 6,34 m im Vorgarten beantragt.“ In Fragen 4, 5, 6 und 8 wurde nach der Zulässigkeit des Bauvorhabens hinsichtlich der Abstandsflächenvorschriften, der Einhaltung der „Besondere Siedlungsgebiete Verordnung“ und der Erteilung einer Befreiung für die unterirdische Überschreitung der Baulinie durch die Tiefgarage gefragt.
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Mit Vorbescheid vom 6. April 2021 beantwortete die Beklagte die Fragen 1, 2 und 3 des Vorbescheidsantrags positiv. Zu den übrigen Fragen wurde kein positiver Vorbescheid erteilt. Zur Frage 7 führte die Beklagte im Bescheid aus, dass eine Befreiung für Nebengebäude im Vorgarten nicht in Aussicht gestellt werden könne. Der Vorgarten sei von Bebauung freizuhalten, da dieser in seiner größeren Tiefe eine besondere städtebauliche Wirkung und naturräumliche Bedeutung gegenüber der unbebauten Straßenseite als Siedlungsrand habe. Das Zufahrtsbauwerk zur Tiefgarage sei in diesem Bereich nicht möglich.
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Mit Schriftsatz vom 7. Mai 2021 erhob der Kläger Klage und beantragte zunächst, die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 6. April 2021 zu verpflichten, den Vorbescheidsantrag auch hinsichtlich der Fragen 4, 5, 6, 7 und 8 positiv zu beantworten, hilfsweise unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. In der mündlichen Verhandlung vom 12. Juni 2023 nahm der Kläger die Klage hinsichtlich der Fragen 4, 5, 6 und 8 zurück und beantragt zuletzt sinngemäß:
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Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 6. April 2021 verpflichtet, den Antrag auf Vorbescheid vom 21. Dezember 2020 zum Neubau eines Mehrfamilienhauses mit Tiefgarage auch hinsichtlich der Frage 7 positiv zu beantworten.
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Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 6. April 2021 verpflichtet, über den Antrag auf Vorbescheid vom 21. Dezember 2020 zum Neubau eines Mehrfamilienhauses mit Tiefgarage hinsichtlich der Frage 7 unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
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Der Kläger sei aufgrund eines Vorbereitungsgesprächs davon ausgegangen, dass mit der Beklagten durch den Autoaufzug die bestmögliche Lösung im Hinblick auf die Versiegelung der Vorgartenzone gefunden worden sei. Bei den Anwesen H. Straße 5, 9, 10 und 11 seien ebenfalls Garagen oder andere bauliche Anlagen in der Vorgartenzone zu finden. Jedenfalls hinsichtlich der Situierung von Nebenanlagen in der Vorgartenzone erfülle die hier gegenständliche Baulinie die ihr zugedachte Ordnungsfunktion auf absehbare Zeit nicht mehr, da durch die Zulassung der vorhandenen und genehmigten Bezugsfälle eine Freihaltung des Vorgartens von sämtlichen baulichen Anlagen nicht mehr erreicht werden könne. Das Aufzugsbauwerk und die Fluchttreppe seien nach § 23 Abs. 5 BauNVO zulassungsfähig, da es sich um eine Nebenanlage handle, die in den Abstandsflächen zulässig sei. Im Rahmen der Ermessensentscheidung hätte die Beklagte die bereits genehmigten Garagenanlagen in der Vorgartenzone als Bezugsfälle berücksichtigen müssen. Von der Baulinie könne nach § 31 Abs. 2 BauGB eine Befreiung erteilt werden, da die Grundzüge der Planung nicht berührt seien und das Ermessen im Hinblick auf die Existenz der Bezugsfälle auf Null reduziert sei. Mit Blick auf § 31 Abs. 3 BauGB könnten der Situierung des Autoaufzugs die Grundzüge der Planung für das Wohnbauvorhaben nicht mehr entgegengehalten werden. Aufgrund des geringen städtebaulichen Gewichts des Aufzugsbauwerks sei dieses auch städtebaulich vertretbar.
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Die Beklagte beantragt,
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Zur Begründung wurde auf den Vorbescheid verwiesen. Schon in einem Vorbescheid vom 28. Januar 2019 sei eine vergleichbare Frage nach einer Befreiung von der Baulinie negativ beantwortet worden.
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Das Gericht hat Beweis durch Augenschein erhoben. Zu den dabei getroffenen Feststellungen wird auf das Protokoll des Augenscheins vom 12. Juni 2023 verwiesen. Zum weiteren Vorbringen der Parteien und zu den übrigen Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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1. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, war das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Da die Klage nur teilweise zurückgenommen wurde, war kein gesonderter Einstellungsbeschluss zu erlassen. Vielmehr konnte die Entscheidung über die Verfahrenseinstellung gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO und die Kostentragung gemäß § 155 Abs. 2 VwGO zusammen mit der Sachentscheidung über den nicht zurückgenommenen Teil der Klage im Urteil getroffen werden (vgl. BVerwG, U.v. 6.2.1963 – V C 24/61 – NJW 1963, 923; B.v. 7.8.1998 – 4 B 75.98 – juris Rn. 2).
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2. Die zulässige Klage bleibt, soweit sie aufrechterhalten wurde, in der Sache ohne Erfolg. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf Erteilung eines positiven Vorbescheids zu Frage Nr. 7 des Vorbescheidsantrags (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO) noch auf Neuverbescheidung dieser Frage unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).
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Streitgegenstand ist nach der teilweisen Rücknahme der Klage nur noch die Aufhebung des negativen Bescheids der Beklagten vom 6. April 2021 zu Frage Nr. 7 des Vorbescheidsantrags vom 21. Dezember 2020 und die Verpflichtung der Beklagten zur positiven Verbescheidung dieser Frage, hilfsweise die erneute Verbescheidung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts.
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Der Kläger hat keinen Anspruch auf positive Verbescheidung der Vorbescheidsfrage. Die Situierung des Autoaufzugs und der Fluchttreppe verstößt gegen Bauplanungsrecht (Art. Art. 71 Satz 4 Halbsatz 1 BayBO, Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO, Art. 59 Satz 1 Nr. 1a BayBO i.V.m. § 30 Abs. 3 und § 34 Abs. 1 BauGB). Sie ist nach der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, unzulässig, da die Anlage außerhalb des Bauraums des als einfacher Bebauungsplan fortgeltenden Baulinienplans liegt und damit den Festsetzungen des einfachen Bebauungsplans widerspricht (2.1). Ein Anspruch auf Befreiung von dieser Festsetzung gem. § 31 Abs. 2 BauGB besteht nicht (2.2.).
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2.1 Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Aufzugsbauwerks mit Fluchttreppe bestimmt sich vorliegend im Hinblick auf das vorhandene, gemäß § 173 Abs. 3 BBauG und § 233 Abs. 3 BauGB übergeleitete Bauliniengefüge nach § 30 Abs. 3 BauGB und im Übrigen, da keine weitergehenden bauplanungsrechtlichen Festsetzungen vorhanden sind, nach § 34 BauGB.
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2.1.1 Die bauplanerische Festsetzung der Baulinie entlang der … Straße zwischen der …straße und der …straße beansprucht zweifelsohne nach wie vor Gültigkeit. Eine zwischenzeitlich durch eine entgegenstehende bauliche Entwicklung eingetretene Funktionslosigkeit ist nicht anzunehmen.
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Eine bauplanerische Festsetzung – auch eine solche eines nach § 173 Abs. 3 BBauG und § 233 Abs. 3 BauGB übergeleiteten Bebauungsplans (vgl. BVerwG, B.v. 17.2.1997 – 4 B 16.97 – juris Rn. 3, 4; B.v. 24.4.1998 – 4 B 46.98 – juris Rn. 7; B.v. 9.10.2003 – 4 B 85.03 – juris Rn. 9; BayVGH, U.v. 11.9.2003 – 2 B 00.1400 – juris Rn. 14) – tritt wegen Funktionslosigkeit außer Kraft, wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der ihre Verwirklichung aus objektiver Sicht auf unabsehbare Zeit ausschließt und die Erkennbarkeit dieser Tatsache einen Grad erreicht hat, der einem dennoch in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nimmt (grundlegend BVerwG, U.v. 29.4.1977 – IV C 39.75 – juris Leitsatz und Rn. 35; vgl. auch BVerwG, U.v. 17.6.1993 – 4 C 7.91 – juris Rn. 19; U.v. 18.5.1995 – 4 C 20.94 – juris Rn. 18; B.v. 17.2.1997 – 4 B 16.97 – juris Rn. 4; B.v. 6.6.1997 – 4 NB 6.97 – juris Rn. 10; U.v. 3.12.1998 – 4 CN 3.97 – juris Rn. 16, 22; B.v. 29.5.2001 – 4 B 33.01 – juris Rn. 5; B.v. 9.10.2003 – 4 B 85.03 – juris Rn. 8; BayVGH, U.v. 11.9.2013 – 2 B 00.1400 – juris Rn. 14; B.v. 25.9.2013 – 15 ZB 11.2302 – juris Rn. 7; B.v. 13.2.2014 – 9 CS 13.2143 – juris Rn. 14). Es kommt insoweit nicht auf die Verhältnisse auf einzelnen Grundstücken an (vgl. BVerwG, U.v. 29.4.1977 – IV C 39.75 – juris Rn. 35; B.v. 17.2.1997 – 4 B 16.97 – juris Rn. 4; B.v. 6.6.1997 – 4 NB 6/97 – juris Rn. 10; B.v. 9.10.2003 – 4 B 85/03 – juris Rn. 8; BayVGH, B.v. 26.3.2018 – 1 ZB 16.589 – juris Rn. 5.). Entscheidend ist vielmehr, ob die jeweilige Festsetzung überhaupt noch geeignet ist, zur städtebaulichen Ordnung im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB im Geltungsbereich des Bebauungsplans einen wirksamen bzw. sinnvollen Beitrag zu leisten (vgl. BVerwG, B.v. 17.2.1997 – 4 B 16.97 – juris Rn. 4; B.v. 6.6.1997 – 4 NB 6/97 – juris Rn. 10; U.v. 3.12.1998 – 4 CN 3/97 – juris Rn. 22; B.v. 9.10.2003 – 4 B 85/03 – juris Rn. 8; BayVGH, U.v. 11.9.2013 – 2 B 00.1400 – juris Rn. 14; vgl. BayVGH, B.v. 11.3.2020 – 2 ZB 17.548 -Rn. 5). Die Planungskonzeption, die einer Festsetzung zugrunde liegt, wird nicht schon dann sinnlos, wenn sie nicht mehr überall im Plangebiet umgesetzt werden kann. Erst wenn die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt so massiv und so offenkundig abweichen, dass der Bebauungsplan insoweit eine städtebauliche Gestaltungsfunktion unmöglich zu erfüllen vermag, kann von einer Funktionslosigkeit die Rede sein. Zu beachten ist, dass die Anforderungen an ein Außerkrafttreten eines Bebauungsplans wegen Funktionslosigkeit streng sind und große Zurückhaltung geboten ist (BayVGH, U.v. 27.5.2020 – 1 B 19.544 – juris Rn. 18 mit Verweis auf BVerwG, U.v. 3.12.1998 – 4 CN 3.97 – juris).
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Bei Berücksichtigung dieser Grundsätze ist hier nicht zu erkennen, dass die städtebaulich mit der südlichen Baulinie im Geviert beabsichtigte Freihaltung eines größeren Bereichs zur … Straße auf Dauer nicht mehr verwirklichbar wäre.
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Wie sich nach dem Augenschein ergeben hat und auch durch den in den Antragsunterlagen befindlichen Lageplan ersichtlich ist, wird der mit der Bauraumfestsetzung beabsichtigte Freiraum zur … Straße weiterhin weitgehend eingehalten. Zwar mögen die Balkonanlage des Anwesens …straße 52 und die Erker an dem Anwesen … Straße 5 die Baulinie in kleinerem Umfang überschreiten. Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, die mit der Baulinie verfolgte städtebauliche Ordnung sei dauerhaft nicht mehr zu erreichen. Abgesehen davon, dass die städtebauliche Ordnung in Form großzügiger Gartenflächen zur … Straße hin weiterhin deutlich ablesbar ist, kann von einer auf Dauer nicht mehr umsetzbaren Durchsetzung dieser städtebaulichen Ordnungsvorstellung keine Rede sein. Schon durch geringe bauliche Änderungen wäre die Einhaltung der Baulinie durch die Hauptbaukörper zu erreichen, so dass selbst die genaue Beachtung der städtebauliche Gestaltungsfunktion der Baulinie bei in Zukunft anstehenden Änderungen der Bestandsbebauung realistisch und keinesfalls unmöglich ist. Allein die Überschreitung der Baulinie durch Nebenanlagen oder gar aufgrund der Gartengestaltung mit Schwimmteich und Terrassen auf dem östlich angrenzenden Nachbargrundstück ist nicht geeignet, deren Funktion in Frage zu stellen. Dies folgt zum einen schon daraus, dass die Baulinie sich nicht in dem Ausschluss von Nebenanlagen außerhalb des Bauraums erschöpft, sondern selbstverständlich maßgeblich auf die Situierung der Hauptbaukörper wirkt. Zum anderen können solche Nebenanlagen die Verwirklichung der städtebaulichen Ordnungsvorstellung nicht auf unabsehbare Zeit ausschließen, da sie schon wegen ihrer geringeren Größe und der städtebaulich untergeordneten Funktion jederzeit änderbar sind und tatsächlich häufigeren Veränderungen unterworfen sind.
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Es kommt bei der Frage der Funktionslosigkeit der Festsetzung auch nicht darauf an, ob im weiteren Verlauf der … Straße deutlichere Überschreitungen der Baulinie festzustellen sind. Durch den Baulinienplan wird regelmäßig die in einem Geviert vorgesehene Bebauung als städtebauliche Ordnung bestimmt (vgl. für rückwärtige Baugrenzen: BayVGH, U.v. 14.12.2016 -2 B 16.1574 – juris Rn. 34; B.v. 22.2.2011 – 2 ZB 10.166 – Rn. 6; U.v. 11.9.2003 – 2 B 00.1400 – juris Rn. 15; VG München, U.v. 16.3.2020 – M 8 K 18.1502 – juris). Selbst wenn in einem angrenzenden Geviert eine Funktionslosigkeit der Baulinienfestsetzung anzunehmen wäre – wofür hier ebenfalls ausreichende Anhaltspunkte fehlen –, würde dies die Fortgeltung der streitgegenständlichen Baulinie unberührt lassen. Dies gilt umso mehr, als eine Funktionslosigkeit für jede Festsetzung getrennt zu beurteilen ist und auch nur eine teilweise Funktionslosigkeit angenommen werden kann (vgl. BVerwG; B.v. 9.10.2003 – 4 B 85.03 juris Rn. 8; BayVGH, B.v. 25.9.2013 – 15 ZB 11.2302 – juris Rn. 7).
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2.1.2 Die Begrenzung des Bauraums durch die Baulinie eines übergeleiteten Baulinienplans gilt ebenso für das geplante Aufzugsbauwerk, auch wenn dieses nicht oberirdisch mit dem Hauptbaukörper verbunden ist. Die Baulinie ist bei allen Anlagen i.S.v. § 29 Abs. 1 BauGB zu beachten. Maßgebend ist die geltende Rechtslage für Baugrenzen und Baulinien. Die Ausschlusswirkung beschränkt sich nicht auf Anlagen, die im Zeitpunkt des Erlasses des Baulinienplans genehmigungspflichtig waren (BayVGH, U.v. 7.9.2007 – 26 B 04.1591 – juris Rn. 34).
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2.2 Der Kläger hat weder nach § 23 Abs. 5 BauNVO noch nach § 31 Abs. 2 BauGB oder § 31 Abs. 3 BauGB einen Anspruch auf Zulassung des Aufzugsbauwerks außerhalb des Bauraums.
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2.2.1 Eine Zulassung des Vorhabens über § 23 Abs. 5 BauNVO scheitert daran, dass die Regelung auf übergeleitete Baulinienpläne nicht anwendbar ist (BVerwG, U.v. 27.2.1992 – 4 C 43.87 – juris Rn. 34; BayVGH, U. v. 7.9.2007 – 26 B 04.1591 – juris Rn. 36; VG München, U.v. 26.6.2017 – M 8 K 16.2407 – juris Rn. 42).
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2.2.2 Zwar kann der Rechtsgedanke des § 23 Abs. 5 BauNVO im Rahmen der Befreiung von einem übergeleiteten Bauliniengefüge im Einzelfall Beachtung finden, um sachlich nicht gerechtfertigte Differenzierungen zu vermeiden (VG München, U.v. 23.6.2008 – M 8 K 07.4257 – BeckRS 2008, 45637; U.v. 26.6.2017 – M 8 K 16.2407 – juris Rn. 42). Ein Anspruch auf Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB besteht vorliegend jedoch schon deshalb nicht, da das Vorhaben die Grundzüge der Planung berührt.
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Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und Gründe des Wohls der Allgemeinheit, einschließlich der Wohnbedürfnisse der Bevölkerung und des Bedarfs zur Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden, die Befreiung erfordern (Nr. 1) oder die Abweichung städtebaulich vertretbar ist (Nr. 2) oder die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde (Nr. 3) und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
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Alle Alternativen des § 31 Abs. 2 BauGB setzen mithin als „vor die Klammer gezogenes“ Tatbestandsmerkmal voraus, dass die Grundzüge der Planung nicht berührt werden. Ob die Grundzüge der Planung berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Die Grundzüge der Planung werden durch die den Festsetzungen des Bebauungsplans zugrundeliegende und in ihnen zum Ausdruck kommende planerische Konzeption gebildet (vgl. BayVGH, U.v. 24.3.2011 – 2 B 11.59 – juris Rn 30).
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Was zum planerischen Grundkonzept zählt, beurteilt sich nach dem im Bebauungsplan zum Ausdruck kommenden Planungswillen der Gemeinde. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft (vgl. BVerwG, U.v. 18.11.2010 – 4 C 10/09 – juris Rn. 37; BayVGH, U.v. 24.3.2011 – 2 B 11.59 – juris Rn 30). Je tiefer die Befreiung in den mit der Planung gefundenen Interessenausgleich eingreift, desto eher liegt es nahe, dass das Planungskonzept in einem Maße berührt wird, das eine (Um-)Planung erforderlich macht (vgl. BVerwG, B.v. 5.3.1999 – 4 B 5.99, NVwZ 1999, 1110 – juris; B.v. 19.5.2004 – 4 B 35.04 – juris; U.v. 18.11.2010 – 4 C 10/09 – juris Rn. 37; U.v. 2.2.2012 – 4 C 14/10 – juris Rn. 22).
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Von Bedeutung für die Beurteilung, ob die Zulassung eines Vorhabens im Wege der Befreiung die Grundzüge der Planung berührt, können auch Auswirkungen des Vorhabens im Hinblick auf mögliche Vorbild- und Folgewirkungen für die Umgebung sein. Eine Befreiung von einer Festsetzung, die für die Planung tragend ist, darf nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen (vgl. BVerwG, B.v. 5.3.1999 – 4 B 5.99 – juris Rn. 6; B.v. 19.5.2004 – 4 B 35.04 – juris Rn. 3; B.v. 29.7.2008 – 4 B 11/08 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 14.3.2019 – 1 ZB 17.2289 – juris Rn. 9).
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Die Grundzüge der Planung ergeben sich vorliegend ohne Weiteres aus den Festsetzungen selbst. Die Bestimmung des Bauraums durch Baulinien dient dazu, einen Abstand der Gebäude von der Straße durch Schaffung einer Vorgartenzone zu erreichen und ein einheitliches Erscheinungsbild entlang der Straße zu schaffen. Nachdem die Baulinie nach Süden einen größeren Abstand zur Straße als im übrigen Geviert festsetzt, sollte hier offenbar als Abschluss der Bebauung zum Siedlungsrand eine größere Grünzone entstehen, die sowohl ein Abrücken zur Bahnlinie sicherstellt, als auch mit der dort befindlichen bahnbegleitenden Begrünung korrespondiert.
34
Das Vorhaben widerspricht durch seine zentrale Situierung in dem vom Bebauungsplan vorgesehenen begrünten Vorgartenbereich dem vorbeschriebenen Planungskonzept. Anstelle der gewünschten Grünzone würde in dem nicht zur Bebauung vorgesehenen Bereich ein Baukörper nicht zu vernachlässigender Ausmaße entstehen. Damit träte der Bereich südlich des Hauptbaukörpers optisch als bebauter Bereich in Erscheinung und nicht als unbebaute Vorgartenzone. Diese Wirkung würde durch die notwendige Zufahrt zu dem Aufzugsbauwerk weiter verstärkt und gerade durch die zentrale Lage des Aufzugsbauwerks im Vorgarten hervorgerufen. Das Baugrundstück würde in dem Bereich zwischen Hauptbaukörper und Straße nicht mehr durch eine Grünzone, sondern durch bauliche Anlagen geprägt. Dies gilt unbeschadet des Umstands, dass das Gebäude nur eingeschossig geplant ist, da schon die Inanspruchnahme der mit Zufahrtsbereich nicht unerheblichen Grundfläche die in dem Bereich nach dem Bebauungsplan vorgesehene Gartennutzung ausschließt.
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Das Vorhaben hat wegen der Inanspruchnahme der Vorgartenzone eine erhebliche Vorbild- und Folgewirkung für die Umgebungsbebauung entlang der … Straße zwischen …straße und …straße. Die Beklagte könnte bei Verwirklichung der Bebauung Bezugnahmen in der Nachbarbebauung nicht mit gleicher Überzeugungskraft entgegentreten. Der Wunsch nach der baulichen Nutzung der Vorgartenzone ließe sich bei sämtlichen anderen Grundstücken anführen, weshalb die erstmalige Zulassung im maßgeblichen Bereich die Grundzüge der Planung berührt (vgl. BVerwG, B.v. 5.3.1999 – 4 B 5.99 – juris Rn. 6; B.v. 19.5.2004 – 4 B 35.04 – juris Rn. 3; B.v. 29.7.2008 – 4 B 11/08 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 14.3.2019 – 1 ZB 17.2289 – juris Rn. 9).
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2.2.3 Selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB vorliegen, ergibt sich kein Anspruch des Klägers auf Gewährung der Befreiung. Ob eine Befreiung erteilt wird, steht grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde, § 31 Abs. 2 BauGB. Eine Ermessensreduzierung auf Null ist hier nicht erkennbar. Vielmehr hat die Beklagte im streitgegenständlichen Bescheid zu Recht auf die besondere städtebauliche Wirkung und naturräumliche Bedeutung der Vorgartenzone am Siedlungsrand hingewiesen. Der Kläger kann eine Ermessensbindung der Beklagten zu seinen Gunsten nicht aus einer bisherigen Genehmigungspraxis hinsichtlich der in der Klagebegründung genannten Bezugsfälle herleiten. Denn eine Behörde muss sich nicht an einer einmal erkannten Fehlentwicklung festhalten lassen (BayVGH, U.v. 4.7.2003 – 2 B 02.1962, BeckRS 2003, 27623, Rn. 13) und damit sehenden Auges eine Funktionslosigkeit des Bebauungsplans herbeiführen, wenn eine solche bisher, wie im vorliegenden Fall, nicht vorliegt (VG München, U.v. 25.4.2022 – 8 K 20.5468 – juris Rn. 35; VG Würzburg, U.v. 16.08.2016 – W 4 K 16.344 – juris Rn. 45). Nicht zuletzt könnte im Rahmen der hier vorzunehmenden vollständigen Neuplanung der Bebauung des Grundstücks ohne weiteres auch eine Situierung des Tiefgarageneinfahrtsbauwerks – etwa an der Grundstücksgrenze neben dem Hauptbaukörper – innerhalb des Bauraums erfolgen.
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2.3 Ein Anspruch auf Befreiung nach § 31 Abs. 3 BauGB scheidet aus, da die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm nicht gegeben sind. Insbesondere fehlt die nach § 31 Abs. 3 Satz 1 BauGB erforderliche Zustimmung der Gemeinde – hier der Beklagten.
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3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf erneute Verbescheidung der streitgegenständlichen Vorbescheidsfrage. Es fehlen bereits die Tatbestandsvoraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung, so dass eine erneute Ermessensausübung nicht beansprucht werden kann. Zudem ist die Versagung der Befreiung durch die Beklagte in ermessensfehlerfreier Weise erfolgt. Sie hat sich zu Recht auf die besondere städtebauliche Bedeutung des Vorgartenbereichs in der vorliegenden Situation berufen.
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3. Die Kostenentscheidung folgt für den zurückgenommenen Teil aus § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergeht gemäß § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 ff. ZPO.