Inhalt

VG München, Urteil v. 18.12.2023 – M 26a K 20.31872
Titel:

Erfolgreiche Klage gegen Widerruf eines Abschiebungsverbots (Nigeria)

Normenketten:
AsylG § 73 Abs. 6 S. 1
AufenthG § 60 Abs. 5
Leitsatz:
Ob die Beurteilung der abschiebungsrechtlichen Situation im Rahmen eines Verpflichtungsbegehrens auf erstmalige Zuerkennung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG dazu führen würde, ein entsprechendes Abschiebungsverbot zuzusprechen, ist im Verfahren um den Widerruf eines zuerkannten Abschiebungsverbots unerheblich, da mit der Anfechtungsklage die Aufhebung einer bestandskräftig zuerkannten Rechtsposition mit der Begründung, es liege keine erhebliche und dauerhafte Änderung der ursprünglichen Sachlage vor, abgewehrt werden soll. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht Nigeria, Widerruf der Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Alleinstehende Frau mit vier minderjährigen Kindern, Keine Änderung der der Gewährung des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG zugrundeliegenden Feststellungen in tatsächlicher Hinsicht, Erfolgreiche Klage, Abschiebungsverbot, Nigeria, Widerruf, Änderung der Sach- und Rechtslage, ausreisepflichtiger Lebensgefährte, elterliche Sorge
Fundstelle:
BeckRS 2023, 39228

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. Juni 2020, Gesch.-Z.: ..., wird aufgehoben.  
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Tatbestand

1
Die Klägerinnen, ihren Angaben im Asylverfahren zufolge nigerianische Staatsangehörige, wenden sich mit ihrer Klage gegen den Widerruf der Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) hinsichtlich Nigerias besteht. Die Klägerin zu 1) ist die Mutter der am … 2015 geborenen Klägerin zu 2).
2
Die Klägerinnen reisten am … Dezember 2016 ins Bundesgebiet ein und beantragten am … Dezember 2016 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Am … Januar 2017 wurde die Klägerin zu 1) zu ihren Asylgründen angehört. Der Hauptgrund, weshalb sie Nigeria verlassen hätten, seien die bestehenden schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse in Nigeria gewesen.
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Am … 2017 wurde ein zweites Kind der Klägerin zu 1) im Bundesgebiet geboren.
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Auf ihre Klage gegen den ablehnenden Bundesamtsbescheid hob das Verwaltungsgericht München mit Urteil vom 10. Oktober 2017, M 27 K 17.34415, den Bescheid des Bundesamtes vom 25. Januar 2017 in Nr. 4 auf und verpflichtet die Beklagte, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen. Aufgrund der besonderen individuellen Umstände der Klägerin zu 1) sei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sich bei den Klägerinnen die Gefahr einer Verletzung des Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) durch die Abschiebung außergewöhnlich erhöhe und deswegen ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen sei. Mit dem Vater ihrer Kinder sei sie nicht verheiratet. Als alleinstehende Frau, die nach den Feststellungen des Gerichts in der mündlichen Verhandlung keine berufliche Ausbildung habe und auch über keine berufliche Erfahrung verfüge (weder als Frisörin noch als Verkäuferin), und die nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung so gut wie keinen Kontakt zu ihren Verwandten in Nigeria habe und die gegenüber dem Gericht hinreichend deutlich gemacht habe, dass es ihr als alleinerziehender Mutter zweier kleiner minderjähriger Kinder bei einer Rückkehr nach Nigeria nicht möglich wäre, sich und ihre nunmehr beiden Kinder zu versorgen, bestehe für die Klägerin zu 1) eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie und ihre beiden minderjährigen Kindern nach einer Rückkehr nach Nigeria in eine Notlage geraten würden, aus welcher sich eine Verletzung des Art. 3 EMRK ergäbe.
5
Mit Bescheid vom 22. Dezember 2017 stellte das Bundesamt daraufhin für die Klägerinnen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG fest.
6
Am … 2019 wurde ein drittes Kind der Klägerin zu 1) im Bundesgebiet geboren.
7
Am 2. Januar 2020 wurde seitens des Bundesamtes die Einleitung eines Aufhebungsverfahrens (Widerruf/Rücknahme) geprüft. Die Voraussetzungen für die Einleitung eines Widerrufsverfahrens lägen vor. Die Klägerin zu 1) wohne inzwischen mit dem Vater ihrer Kinder zusammen, wie aktuelle Adressabfragen beim Bayerischen Behörden-Informationssystem ergeben hätten. Die Eltern seien damit als Lebensgefährten anzusehen, die gemeinsam die elterliche Sorge über ihre Kinder ausüben würden. Der Asylantrag des Vaters der Klägerin zu 2) sei mit rechtskräftigem Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 26. April 2018 (Az. M 27 K 17.46211) abgelehnt worden, diese Entscheidung sei seit dem 1. Oktober 2018 rechtskräftig. Somit sei die Abschiebeandrohung nach Nigeria im Bescheid vom 11. Juli 2017 weiterhin gültig. Es sei davon auszugehen, dass der ausreisepflichtige Vater gemeinsam mit der Klägerin zu 1) und den gemeinsamen Kindern nach Nigeria zurückkehren würde und in der Lage wäre, für sich und seine Familie ein Leben nicht unterhalb des Existenzminimums zu garantieren. Im zitierten Gerichtsurteil seien keine Anhaltspunkte für Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG beim Vater festgestellt worden. Zudem sei im vom Gericht bestätigten ablehnenden Bescheid festgestellt worden, dass der Lebensgefährte der Klägerin zu 1) arbeitsfähig sei, bis zur zwölften Klasse die Schule besucht habe und bereits als Sicherheitskraft und Verkäufer gearbeitet habe und dass er auch über ein familiäres Netzwerk verfüge, auf dessen Unterstützung er bei Rückkehr nach Nigeria zurückgreifen könnte. Es sei davon auszugehen, dass dieses Netzwerk auch der Klägerin zu 1) und ihren Kindern zugutekommen würde. Da nunmehr beachtlich wahrscheinlich sei, dass die Klägerin zu 1) mit ihrem Lebensgefährten auch in Nigeria als Familie zusammenleben würde, lägen die vom Gericht festgestellten Voraussetzungen, dass es sich bei ihr um eine alleinerziehende Mutter und damit um eine vulnerable Person handele, die im Falle der Rückkehr nach Nigeria in eine Notlage im Sinne des Art. 3 EMRK geraten würde, nicht mehr vor.
8
Mit Schreiben vom … Januar 2020 wurden die Klägerinnen zum beabsichtigten Widerruf des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG und zur beabsichtigten Feststellung, dass auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegt, angehört.
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Mit Schriftsatz vom 27. Januar 2020 zeigte die damalige Bevollmächtigte der Klägerinnen deren Vertretung gegenüber dem Bundesamt an und führte aus, dass die Klägerin zu 1) mittlerweile drei Kinder habe und mit dem Kindsvater nicht verheiratet sei. Die Kinder seien fünf bzw. zwei Jahre, das Baby sieben Monate alt. Die Klägerin zu 1) und ihr Lebensgefährte könnten in Nigeria auf keine Großfamilie zurückgreifen, was sich aus ihren Äußerungen im Asylverfahren ergebe. Es sei davon auszugehen, dass sie als Eltern von zwei Kleinkindern und einem Kindergartenkind gezwungen wären, für sich und die Kinder ohne jede familiäre Unterstützung eigenständig eine wirtschaftliche Existenz in Nigeria aufzubauen. Aufgrund des Alters der Kinder werde eine Berufstätigkeit der Klägerin zu 1) nicht möglich sein, so dass der Kindsvater allein das nötige Einkommen zur Versorgung der Familie erwirtschaften müsse. Dies werde aufgrund der in Nigeria schwierigen Lebensbedingungen nicht möglich sein.
10
Mit streitgegenständlichen Bescheid vom 8. Juni 2020 (Gesch.-Z.: …) widerrief das Bundesamt das mit Bescheid vom 22. Dezember 2017 (Gesch.-Z.: …) festgestellte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG und stellte fest, dass das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht vorliegt. Die Begründung entspricht im Wesentlichen der im Rahmen der Einleitung des Widerrufsverfahrens oben bereits wiedergegebenen Begründung.
11
Gegen diesen der Bevollmächtigten der Klägerinnen am 17. Juni 2020 zugestellten Bescheid erhoben die Klägerinnen am 26. Juni 2020 Klage mit dem Antrag,
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den Bescheid der Beklagten vom 8. Juni 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass bei den Klägern Abschiebungshindernisse gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.
13
Auf die Stellungnahme gegenüber der Beklagten vom … Januar 2020 werde Bezug genommen.
14
Mit Schreiben vom 7. Juli 2020 übersandte die Beklagte die elektronische Behördenakte des Widerrufsverfahrens der Klägerinnen, stellte jedoch keinen Antrag.
15
Mit Schreiben vom 11. Mai 2021 bestellte sich die nunmehrige Bevollmächtigte der Klägerinnen, mit Schreiben vom 28. Mai 2021 legte die bisherige Bevollmächtigte das Mandat nieder.
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Mit weiterem Schreiben vom 31. August 2021 legte die Bevollmächtige der Klägerinnen eine Stellungnahme der Klägerin zu 1) vom … August 2021 zu ihrer aktuellen familiären Situation vor. Danach habe sich die Klägerin zu 1) bereits vor einigen Monaten vom Vater ihrer Kinder getrennt. Dieser habe seit einigen Monaten sein Verhalten verändert, womit sie nicht klargekommen sei. Er sei aus dem gemeinsamen Zimmer in der Asylunterkunft …straße, Haus ... ausgezogen, weil sie beide das so gewollt hätten. Sie seien schon länger kein richtiges Paar mehr gewesen. Der Vater ihrer Kinder habe beim Landratsamt R. … daher einen Umverteilungsantrag gestellt und sei im März dieses Jahres nach K. … umverteilt worden. Er liebe seine Kinder und es sei ihm wichtig, den Kontakt zu ihnen zu halten. Dagegen habe sie nichts, sie wolle nur nicht, dass er die Kinder in ihrem Beisein besuche, da es sonst immer zu Streitigkeiten komme. Vom Landratsamt habe er deswegen zeitweise ein Hausverbot für Haus, in dem sich ihr Zimmer befinde, bekommen. Zwischenzeitlich sei er nach R. … umverteilt worden.
17
Mit weiterem Schreiben vom 14. Oktober 2021 übersandte die Bevollmächtige der Klägerinnen eine Stellungnahme des Vaters der Klägerin zu 2) vom 23. September 2021 zur aktuellen familiären Situation. Danach habe dieser mit seiner früheren Lebensgefährtin, der Klägerin zu 1), drei Kinder. Sie hätten zusammen in der …straße ... in B. … … in einer Flüchtlingsunterkunft gewohnt. Ende Januar 2021 sei er ausgezogen und nach K. … verlegt worden, da sie sehr oft Streitigkeiten gehabt hätten, die auch zu körperlicher Gewalt geführt hätten. Der Auszug sei in gegenseitigem Einvernehmen erfolgt. Sie hätten vereinbart, sich zu trennen, dass er aber die Kinder jederzeit sehen könne, aber nicht in Gegenwart der Klägerin zu 1), weil das immer wieder zu Streit führe. Am … Juli 2021 sei er nach R. … verlegt worden.
18
Mit Schreiben vom 17. März 2022 teilte die Bevollmächtigte der Klägerinnen deren aktuelle Meldeadresse in H. mit. Mit weiterem Schreiben vom 23. März 2022 wurde die Niederschrift über die mündliche Verhandlung des Vaters der Klägerin zu 2) vom 9. Februar 2022 in dessen Asylfolgeverfahren M 13 K 21.30916 übersandt. Danach habe der Vater der Klägerin zu 2) vor Gericht angegeben, dass er in Deutschland eine Freundin habe, mit der er drei Kinder habe. Diese Frau habe die Kinder mitgenommen und er könne sie nicht erreichen. Sie sage, er bringe Unglück. Deshalb habe sie ihn auf W. blockiert. Sie hätten keinen Kontakt mehr zu ihm. Er habe seit etwa zwei Monaten keinen Kontakt mehr zu seinen Kindern. Die Mutter der Kinder sage, wenn er sich den Kindern nähere, bringe er auch diesen Unglück. Da die Regierung ihm nur Scheine und kein Geld gebe, könne er sich die Fahrt zu seinen Kindern auch nicht leisten.
19
Mit Beschluss vom 30. Oktober 2023 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
20
Mit Schriftsätzen vom 15. Dezember 2023 teilte die Bevollmächtigte der Klägerinnen mit, dass die Klägerin zu 1) mittlerweile in H. wohne und dort zusammen mit ihren Kindern lebe. Am … 2022 sei sie erneut Mutter geworden. Der Vater des Kindes wohne in H. … und sei deutscher Staatsangehöriger. Auch das Kind habe die deutsche Staatsangehörigkeit, eine Kopie des Reisepasses wurde beigefügt. Die Klägerin zu 1) und der Vater ihres vierten Kindes seien kein Paar, die Klägerin zu 1) sei weiterhin alleinerziehend und kümmere sich alleine um ihre Kinder. An der mündlichen Verhandlung am 18. Dezember 2023 werde die Bevollmächtigte nicht teilnehmen.
21
In der mündlichen Verhandlung vom 18. Dezember 2023, an der von Seiten der Beklagten niemand teilgenommen hat, bestätigte die Klägerin zu 1), die zusammen mit ihren vier Kindern erschienen war, die im Rahmen des Klageverfahrens vorgetragenen Angaben zur familiären Situation mit dem Vater der Klägerin zu 2). Ihre drei erstgeborenen Kinder würden von diesem abstammen, das zuletzt geborene Kind von dem im Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 15. Dezember 2023 benannten deutschen Staatsangehörigen, der in L. … lebe. Sie wohne in H. mit ihren Kindern ohne Mann, bei der Kindererziehung und Betreuung würde ihr niemand helfen.
22
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Gerichtsakte und die Behördenakten des Bundesamtes Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist begründet, da die Voraussetzungen des § 73 Abs. 6 Satz 1 Asylgesetz (AsylG) für den Widerruf der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG) nicht vorliegen.
24
1. Das Gericht konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 18. Dezember 2023 entscheiden, obwohl von Seiten der Beklagten niemand zur mündlichen Verhandlung erschienen war. Denn in dem Ladungsschreiben vom 3. November 2023 war darauf hingewiesen worden, dass bei Nichterscheinen eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
25
Aufgrund des Kammerbeschlusses vom 30. Oktober 2023 ist der Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung über die Klage berufen (§ 76 Abs. 1 AsylG).
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2. Die Klage ist zulässig, insbesondere fristgerecht innerhalb der zweiwöchigen Klagefrist nach § 74 Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG erhoben worden.
27
Klageziel ist, wie sich insbesondere der der Klageschrift beigefügten Stellungnahme der bisherigen Bevollmächtigten vom 27. Januar 2020 gegenüber dem Bundesamt im Rahmen der Anhörung zum Widerrufsverfahrens entnehmen lässt, dass das mit Bescheid vom 22. Dezember 2017 festgestellte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG aufrecht erhalten bleibt. Dieses Klageziel ist bereits mit der Anfechtungsklage zu erreichen, da mit der Aufhebung der Widerrufsentscheidung im streitgegenständlichen Bescheid vom 8. Juni 2020 die im Bescheid vom 22. Dezember 2017 getroffene Feststellung, dass das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt, weiterbesteht, ohne dass es hierzu einer Verpflichtung der Beklagten zur erneuten Feststellung bedarf (vgl. BeckOK AuslR/Fleuß, 39. Ed. 1.10.2023, AsylG § 73 Rn. 244: Rechtsschutz gegen den Widerruf oder die Rücknahme der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG nach § 73 Abs. 6 AsylG vermittelt die Anfechtungsklage).
28
Das Gericht legt die erhobene Klage in Einklang mit § 88 VwGO, wonach das Gericht an die Fassung der Anträge nicht gebunden ist, aber über das Klageziel nicht hinausgehen darf, demzufolge in Anbetracht des ermittelten Klageziels dahingehend aus, dass lediglich eine statthafte Anfechtungsklage erhoben werden sollte.
29
3. Die Klage ist begründet, da der Bescheid vom 8. Juni 2020 rechtswidrig ist und die Klägerinnen in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
30
3.1. Rechtsgrundlage für den Widerruf der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG ist § 73 Abs. 6 Satz 1 AsylG i.d.F. des Gesetzes zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren vom 21. Dezember 2022 (BGBl. 2022, 2817), da maßgeblich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG) ist.
31
Nach dieser Vorschrift ist die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen.
32
Dabei ist die Frage, ob eine entscheidungserhebliche Änderung der Sach- oder Rechtslage vorliegt, anhand eines Vergleiches der Tatsachenlage zum Zeitpunkt der Feststellungsentscheidung des Bundesamts oder – wie vorliegend im Falle einer gerichtlichen Verpflichtung – des Verpflichtungsurteils mit der Tatsachenlage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht bzw. der letzten tatrichterlichen Entscheidung zu beurteilen (BeckOK AuslR/Fleuß, 39. Ed. 1.10.2023, AsylG § 73 Rn. 245).
33
Eine entsprechende Änderung der Sachlage ist anzunehmen, wenn neue Tatsachen in dem für den Widerruf gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt die Würdigung eines Nicht-mehr-Vorliegens der Voraussetzungen des betreffenden nationalen Abschiebungsverbotes rechtfertigen. Die Änderung der Sachlage darf nicht lediglich vorübergehender Natur sein, sondern muss die Feststellung rechtfertigen, dass die Faktoren, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können. Die Neubeurteilung einer im Kern unveränderten Sachlage genügt insoweit grundsätzlich nicht, da der bloße Zeitablauf für sich genommen keine Sachlagenänderung bewirkt (BeckOK AuslR/Fleuß, 39. Ed. 1.10.2023, AsylG § 73 Rn. 230 m.w.N.).
34
Vorliegend ist die Beklagte im streitgegenständlichen Widerrufsbescheid davon ausgegangen, dass die Klägerinnen mit dem Lebensgefährten der Klägerin zu 1) und Vater der Klägerin zu 2) als Familie zusammenleben, und dieser daher als ausreisepflichtiger nigerianischer Staatsangehöriger im Rahmen einer hypothetischen Rückkehrprognose mit den Klägerinnen nach Nigeria zurückkehren werde und für diese sorgen könne.
35
Nach dem im Klageverfahren vorgelegten Stellungnahmen der Klägerin zu 1) und des Vaters der Klägerin zu 2), den Angaben des Vaters der Klägerin zu 2) in der mündlichen Verhandlung vom 9. Februar 2022 und den Ausführungen der Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung vom 18. Dezember 2023 geht das Gericht jedoch davon aus, dass die Klägerinnen vom Vater der Klägerin zu 2) jedenfalls seit Juli 2021 getrennt leben und daher von einer gemeinsamen Rückkehr nach Nigeria nicht mehr ausgegangen werden kann.
36
Demzufolge haben sich die dem Urteil vom 10. Oktober 2017, M 27 K 17.34415, zugrundeliegenden Feststellungen in tatsächlicher Hinsicht (Rückkehr der Klägerinnen zusammen mit dem am … 2017 geborenen zweiten Kind der Klägerin zu 1) und ohne den Vater der Klägerin zu 2)) jedenfalls nicht zugunsten der Klägerinnen geändert, mit der Folge, dass die Voraussetzungen des § 73 Abs. 6 Satz 1 AsylG für den Widerruf der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht vorliegen.
37
Ob die Beurteilung der abschiebungsrechtlichen Situation im Rahmen eines Verpflichtungsbegehrens auf erstmalige Zuerkennung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG ebenso dazu führen würde, der Klägerin zu 1) als alleinerziehende Mutter mit nunmehr vier minderjährigen Kindern und damit auch der Klägerin zu 2) ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zuzusprechen, ist in diesem Zusammenhang unerheblich, da mit der vorliegenden Anfechtungsklage die Aufhebung einer bestandskräftig zuerkannten Rechtsposition mit der Begründung, es liege keine erhebliche und dauerhafte Änderung der ursprünglichen Sachlage vor, abgewehrt werden soll. Solange keine erhebliche und dauerhafte Änderung der ursprünglichen Sachlage festgestellt wird, ist für eine Prüfung in einem zweiten Schritt, ob nationaler Abschiebungsschutz gegeben ist, kein Raum (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 16.08.2023 – 3 ZB 23.30036 – juris Rn. 12).
38
3.2. Da mit der Aufhebung der Widerrufsentscheidung in Nummer 1 des streitgegenständlichen Bescheides vom 8. Juni 2020 die in Nummern 4 des Bescheides vom 22. Dezember 2017 getroffene Feststellung, dass das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt, weiterbesteht und vor dem Hintergrund, dass es sich bei dem nationalen Abschiebungsschutz auf der Grundlage der Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG um einen einheitlichen, in sich nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – juris Rn. 17.), hat auch die in Nummern 2 des streitgegenständlichen Bescheides vom 8. Juni 2020 getroffene Feststellung, dass das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht vorliegt, keinen Bestand, so dass der streitgegenständliche Bescheid vom 8. Juni 2020 insgesamt aufzuheben war.
39
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
40
5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff der Zivilprozessordnung (ZPO).