Inhalt

VG München, Beschluss v. 22.08.2023 – M 10 S 23.50852
Titel:

Efolgreicher Eilantrag gegen die angeordnete Überstellung nach Kroatien im  sog. Dublin-Verfahren

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, Abs. 5, § 86
AsylG § 29, § 34a Abs. 1 S. 1, § 75
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2, Art. 18 Abs. 2, Art. 20 Abs. 5
AsylverfahrensRL Art. 9 Abs. 1 S. 1
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Erfolgt die Klageerhebung zur Niederschrift durch die Urkundsbeamtin, ist die Protokollierung der Urkundsbeamtin das verfahrenseinleitende, bestimmende Schriftstück zur Klageerhebung und ein mitgebrachtes und ausgefülltes Klagemusterformular eines Flüchtlingsrates ist lediglich als Anlage zur Klageerhebung zu betrachten. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Begriff der systemischen Schwachstellen ist nicht notwendigerweise gesamtbezogen auf das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im Überstellungsstaat insgesamt zu verstehen, sondern es können auch Teilbereiche hiervon erfasst sein, die mit individuellen Umständen des Asylbewerbers verknüpft sind. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein Verstoß gegen die Verpflichtung zu umfassender und hinreichend aktueller Sachaufklärung und erschöpfender Ausnutzung prozessualer Aufklärungsmöglichkeiten kann im Einzelfall eine Verletzung der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes begründen, wenn das Gericht eine im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt durchführbare Aufklärungsmaßnahme, die zudem eine Vielzahl von Fällen betrifft, unterlassen hat. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
4. Ist nicht sichergestellt, dass im Wege des Dublin-Verfahrens von Deutschland an Kroatien rücküberstellte Asylsuchende nicht Opfer von Kettenabschiebungen nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien werden könnten und ihr Recht auf Asylantragstellung dadurch vereitelt würde, muss dies im Dublin-Verfahren als aufklärungsbedürftiger Umstand berücksichtigt werden. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren (Zielstaat, Kroatien), Klageerhebung zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle, Parallel vorliegendes Klageformular des Münchener, Flüchtlingsrats mit Verzichtserklärung auf Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, Abschiebungsanordnung, Offene Erfolgsaussichten der Klage, Kettenabschiebungen von Kroatien nach Bosnien und Herzegowina, Betroffenheit von Dublin-Rückkehrern von Kettenabschiebungen (im Hauptsacheverfahren aufzuklärende Tatsachenfrage), Relevanz von völkerrechtlichen Rückübernahmeabkommen (readmission agreements), Beweiserhebung der Kammer zur Frage systemischer Mängel im kroatischen Asylsystem, Eilverfahren, Asylverfahren, Herkunftsland Dem. Rep. Kongo, Dublin-Verfahren, Übernahmeersuchen, Überstellung, Kroatien, normative Vergewisserung, Systemische Mängel, Kettenabschiebungen, Pushbacks, gerichtliche Aufklärungspflicht, bilaterale Rückübernahmeabkommen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 39227

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 14. August 2023 (M 10 K 23.50851) gegen Nummer 3 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 9. August 2023 (Gesch.-Z.: ...) wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die angeordnete Überstellung nach Kroatien im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
2
Die Antragstellerin, nach eigenen Angaben eine Staatsangehörige der demokratischen Republik Kongo, reiste am 14. Mai 2023 in das Bundesgebiet ein und äußerte ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt durch behördliche Mitteilung vom gleichen Tag schriftlich Kenntnis erlangt hat. Der förmliche Asylantrag datiert vom 7. Juni 2023.
3
Nach der EURODAC-Ergebnismitteilung vom 14. Mai 2023, die Treffermeldungen sowohl der Kategorie 1 als auch der Kategorie 2 hinsichtlich des gleichen Tags und der gleichen Örtlichkeit aufweist („HR1[…]“ und „HR2[…] vom 3.5.2023 in Cetingrad), ergaben sich für die Antragsgegnerin Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats nach der VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO). Am 20. Juni 2023 richtete die Antragsgegnerin ein auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO gestütztes Übernahmeersuchen an Kroatien. Die kroatischen Behörden antworteten hierauf mit Schreiben vom 4. Juli 2023, dass das Wiederaufnahmegesuch der Antragsgegnerin gem. Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO akzeptiert werde.
4
Die Antragstellerin hat in ihrer Anhörung vom 16. Juni 2023 unter anderem angegeben, dass ihr in Kroatien keine Gelegenheit gegeben worden sei, einen Asylantrag zu stellen. Sie habe ein Formular ausfüllen und danach aus Kroatien ausreisen müssen. Probleme mit Behörden oder Gerichten habe es allerdings nicht gegeben.
5
Mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 9. August 2023 wurde der Asylantrag der Antragstellerin als unzulässig abgelehnt und festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nrn. 1 und 2). Die Abschiebung nach Kroatien wurde angeordnet (Nr. 3). Das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 19 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Die Antragstellerin hat am 14. August 2023 gegen den Bescheid vom 9. August 2023 (zur Niederschrift der Urkundsbeamtin) Klage erhoben. Gleichzeitig wird beantragt,
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die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung nach Kroatien anzuordnen.
8
Zur Begründung wird Bezug genommen auf die Angaben gegenüber dem Bundesamt. Dem angefertigten Protokoll der Urkundsbeamtin lag ein von der Antragstellerin unterschriebenes Klageformular dar, welches (offenbar) als Musterformular vom Münchener Flüchtlingsrat an klagewillige Asylsuchende weitergegeben wird. Dieses Klageformular hat den Vermerk, dass ausdrücklich kein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt werden solle.
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Die Antragsgegnerin beantragt mit Schriftsatz vom 17. August 2023,
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den Antrag abzulehnen.
11
Zur Begründung bezieht sie sich auf den angefochtenen Bescheid und verweist auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 11. Mai 2023 (A 4 S 2666/22 – juris).
12
Mit weiterem Schriftsatz vom 21. August 2023 rügt die Antragsgegnerin, dass in der Klageschrift 14. August 2023, die laut Vermerk mit Hilfe des Münchener Flüchtlingsrats erstellt worden sei, ausdrücklich darauf hingewiesen worden sei, dass kein Eilantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt werden solle. Nun verwundere es, dass die Urkundsbeamtin trotz ausdrücklichen Hinweises in der Klageschrift und vorhandener Verständigungsschwierigkeiten aus nicht nachvollziehbaren Gründen dennoch einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO protokolliert habe.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, auch im Verfahren M 10 K 23.50851, sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
14
Der Antrag gemäß § 34a Abs. 2 Satz 1 Asylgesetz (AsylG) i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist zulässig und begründet.
15
Das Gericht geht dabei im Hinblick auf den Schriftsatz des Bundesamts vom 21. August 2023 davon aus, dass die Antragstellerin (zuletzt) auch tatsächlich einen Antrag nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO stellen wollte und dies formwirksam getan hat (§ 81 Abs. 1 Satz 2 VwGO), was im derzeitigen Verfahrensstand auch ihrem Rechtsschutzziel entspricht (§ 122 Abs. 1, § 88 VwGO). Dabei stellt sich entgegen der Auffassung des Bundesamts schon die Frage, ob tatsächlich von zwei sich widersprechenden Klageanträgen ausgegangen werden kann. Das Gesetz sieht in § 81 Abs. 1 VwGO die Klageerhebung in schriftlicher Form vor, wobei die Klageerhebung zur Niederschrift durch den Urkundsbeamten eine Unterform der Schriftlichkeit darstellt (vgl. Hoppe in Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Aufl. 2022, § 81 Rn. 13). Der Urkundsbeamte muss den Kläger nicht rechtlich beraten, aber über Form und den Inhalt der Klage belehren (vgl. Aulehner in Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl. 2018, § 81 Rn. 82). Da sich die Antragstellerin vorliegend zur Klageerhebung zur Niederschrift durch die Urkundsbeamtin entschieden hat, folgt daraus unter Berücksichtigung der obigen Erwägungen, dass konkret die Protokollierung der Urkundsbeamtin das verfahrenseinleitende, bestimmende Schriftstück zur Klageerhebung ist und das von der Antragstellerin mitgebrachte und ausgefüllte Klagemusterformular des Münchener Flüchtlingsrats lediglich als Anlage zur Klageerhebung zu betrachten ist. Als verfahrensleitendes, bestimmendes Schriftstück wäre das Klageformular des Münchener Flüchtlingsrats nur dann gewesen, wenn die Antragstellerin dieses in den Briefkasten des Gerichts eingeworfen hätte und sich nicht an die Rechtsantragsstelle des Verwaltungsgerichts gewandt hätte. Insofern sieht sich das Gericht auch nicht veranlasst zu versuchen, im Freibeweisverfahren mit der Urkundsbeamtin aufzuklären, ob die Urkundsbeamtin den „ausdrücklichen Hinweis“ im Klageformular des Münchener Flüchtlingsrats übersehen oder ignoriert hat oder die Antragstellerin von ihr rechtlich beraten wurde. Abgesehen davon, dass es sich bei der Arbeit der Urkundsbeamtinnen des Verwaltungsgerichts in der Rechtsantragstelle in Dublin-Verfahren um ein Massengeschäft handelt und es mehr als unwahrscheinlich ist, dass sich die Urkundsbeamtin konkret an die Antragstellerin erinnern bzw. ihren Namen einer bestimmten Person zuordnen kann, wäre es wie oben ausgeführt auch unschädlich, wenn diese die Antragstellerin über den Inhalt ihrer Klage belehrt hätte. Im Übrigen ist dem erkennenden Einzelrichter bekannt, dass in einigen Fällen tatsächlich auch Klagen ohne Eilantrag (insbesondere bei Dublin-Bescheiden hinsichtlich Italien) in der Rechtsantragstelle protokolliert werden.
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Jedenfalls ist vorliegend weder positiv nachgewiesen noch aufklärbar, dass die Urkundsbeamtin in der Rechtsantragstelle entgegen ausdrücklicher mündlicher Erklärungen der Antragstellerin einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO protokolliert hat. Selbst wenn man hingegen wie das Bundesamt sich widersprechende Anträge annähme, hätte das Gericht nach § 122 Abs. 1, § 88 VwGO im Wege der Auslegung das Rechtsschutzziel der Antragstellerin zu ermitteln. Demnach sprechen vorliegend alle Umstände dafür, dass die Antragstellerin vorliegend tatsächlich einen Antrag nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO stellen wollte (wovon im Übrigen auch das Bundesamt auszugehen scheint, vgl. BA S. 190 und 191), da sie nur so eine Überstellung nach Kroatien (einstweilen) verhindern kann. Ohne einen Antrag nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO riskiert die Antragstellerin aufgrund der (dann vorliegenden) Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung innerhalb der 6-monatigen Überstellungsfrist eine Überstellung nach Kroatien. Das Gericht geht dabei auch indiziell davon aus, dass die Antragstellerin die rechtliche Tragweite des Verzichtshinweises auf einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht ohne weiteres erfasst hat, geschweige denn Kenntnis hatte, dass die pauschale Verwendung bzw. Weitergabe dieses Formblatts durch den Münchener Flüchtlingsrat mit erheblichen rechtlichen Risiken für Asylsuchende verbunden ist, insbesondere wenn (wie hier) keine qualifizierte Rechtsberatung (vgl. § 3 Abs. 1, Abs. 3 BRAO) sichergestellt ist. Abseits (relativ) klar gelagerter Fallkonstellationen, in denen ein Verzicht auf die Stellung eines Eilantrags ggf. in Betracht kommen mag (wie z.B. aktuell bei Dublin-Bescheiden bezüglich Italien), wird ein taktisch vertretbarer Verzicht auf einen Antrag nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO nämlich stets nur nach einer sorgfältigen rechtlichen Prüfung und Abwägung der Risiken ergehen können, was sich mit der pauschalen Verwendung des Klagemusterformulars des Münchener Flüchtlingsrats schlechthin ausschließt.
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1. Entfaltet ein Rechtsbehelf – wie hier (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG) – von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es abzuwägen hat zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsbehelfes. Dabei sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Eilverfahren gebotene summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse der Antragstellerin regelmäßig zurück. Sofern die Klage dagegen bei summarischer Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein wird, tritt das Interesse an der sofortigen Vollziehung zurück. Bei offenen Erfolgsaussichten verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung, bei der jedoch die gesetzgeberische Entscheidung, die aufschiebende Wirkung einer Klage auszuschließen, zu berücksichtigen ist.
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2. Gemessen an diesen Maßstäben sind nach summarischer Prüfung die Erfolgsaussichten der Klage der Antragstellerin gegen die Abschiebungsanordnung im streitgegenständlichen Bescheid offen. An der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen bei summarischer Prüfung im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) jedenfalls Zweifel.
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Zwar ist die Antragsgegnerin im Ausgangspunkt zutreffend von einer Zuständigkeit Kroatiens nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO ausgegangen. Die Anmerkung der Antragstellerin im Anhörungsgespräch, dass Kroatien ihr keine Gelegenheit gegeben habe, einen Asylantrag zu stellen, trifft dagegen so nicht zu. Die in der EURODAC-Ergebnismitteilung ersichtliche Treffermeldung der Kategorie 1 belegt einen gestellten Asylantrag der Antragstellerin in Kroatien mit der damit einhergehenden Beweiskraft (vgl. Art. 22 Abs. 3 Satz 1, Satz 2 Buchst. a Dublin III-VO i.V.m. Anhang II Verzeichnis A II. Nr. 2 DVO (EU) 118/2004). Die kroatischen Behörden haben zudem in ihrem Schreiben vom 4. Juli 2023 ausgeführt, dass das Asylverfahren der Antragstellerin noch anhängig sei („the procedure is still ongoing“), obgleich im nächsten Absatz ein aus anderen Verfahren bekannter Textbaustein folgt, unter welchen Bedingungen ein Asylverfahren eingestellt werden könne.
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a) Aber vorliegend sind die Erfolgsaussichten der Klage in Bezug auf die Frage offen, ob die Zuständigkeit gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen ist, weil eine Überstellung an Kroatien als den zuständigen Mitgliedstaat an Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO scheitern würde. Denn der Aspekt, ob das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Kroatien systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) mit sich bringen, ist in der Rechtsprechung umstritten. Deswegen erhebt die Kammer diesbezüglich in einem anderen Verfahren Beweis; die Beweiserhebung ist noch nicht abgeschlossen.
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b) Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für die Antragstellerin führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011, a.a.O.). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18 ff.; BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 9; VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris Rn. 41; grundlegend EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, „Abdullahi“ – NVwZ 2012, 417, Rn. 80 ff.). Dabei ist nach der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu berücksichtigen, dass der Begriff der systemischen Schwachstellen nicht notwendigerweise gesamtbezogen auf das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im Überstellungsstaat insgesamt zu verstehen ist, sondern auch Teilbereiche hiervon erfasst sein können, die mit individuellen Umständen des Asylbewerbers verknüpft sind (EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 70 ff. = NVwZ 2017, 691 ff., im Hinblick auf das Gesundheitssystem in Kroatien). Demnach ist mittlerweile geklärt, dass auch die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK eine Überstellung i.S.v. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO unmöglich machen kann, selbst wenn diese Rechtsverletzung nicht die Konsequenz aus der Existenz systemischer Schwachstellen im zuständigen Mitgliedstaat ist (EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 91). Erforderlich, aber auch ausreichend ist daher, wenn auf Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben dem Gericht Anhaltspunkte für Schwachstellen vorliegen, welche eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen und die Antragstellerin betreffen. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist (auch) erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass sich eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Bedürfnissen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C 297/17 „Ibrahim“ u.a. – juris Rn. 89 ff. und C-163/17, „Jawo“ – juris Rn. 91 ff.).
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In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dabei geklärt, dass der verwaltungsgerichtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) besonders dann verfassungsrechtliches Gewicht zukommt, wenn hinreichend substantiierte Behauptungen von Schutzsuchenden oder andere für das Verfahren relevante Erkenntnisse auf Umstände zielen, die, ihr Vorliegen unterstellt, für die Verwirklichung hochrangiger grundrechtlicher Gewährleistungen von ausschlaggebender Bedeutung sind. So kann im Einzelfall ein Verstoß gegen die Verpflichtung zur umfassenden und hinreichend aktuellen Sachaufklärung und erschöpfenden Ausnutzung prozessualer Aufklärungsmöglichkeiten eine Verletzung der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes begründen, wenn das Gericht eine im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt durchführbare Aufklärungsmaßnahme, die zudem eine Vielzahl von Fällen betrifft, unterlassen hat. Dies kann besonders dann der Fall sein, wenn nicht nur aussichtsreiche Aufklärungsmöglichkeiten seitens des Gerichts unterblieben sind, sondern dabei auch spezifische institutionalisierte Quellen, die den Gerichten gerade für die Aufklärung asylrechtlicher Sachverhalte aufbereitet und bereitgestellt werden, außer Acht gelassen werden (vgl. jüngst zum Ganzen: BVerfG, B.v. 2.8.2023 – 2 BvR 593/23 – juris Rn. 11).
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Unter Umständen kann es deshalb sowohl verfassungsrechtlich als auch europa- und konventionsrechtlich geboten sein, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor der Rückführung eines Asylsuchenden in einen anderen Staat über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen. Soweit entsprechende Erkenntnisse und Zusicherungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht vorliegen und nicht eingeholt werden können, ist es zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes geboten, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (vgl. BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 16). Dies gilt jedenfalls in solchen Fällen, in denen die Auskunftslage im Eilverfahren nicht hinreichend eindeutig erscheint und eine weitere Sachaufklärung im Hauptsacheverfahren naheliegt (vgl. BVerfG, B.v. 21.4.2016 – 2 BvR 273/16 – juris Rn. 14). Dabei ist auch in den Blick zu nehmen, dass die Ablehnung des Antrags nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO ungeachtet sich stellender komplexer Rechts- oder Tatsachenfragen im Hauptsacheverfahren die Rechtsweggarantie eines Antragstellers aus Art. 19 Abs. 4 GG in rechtlich unzulässiger Weise abschneiden kann (BVerfG, B.v. 20.11.2018 – 2 BvR 80/18 – juris Rn. 8, mit Verweis auf § 80 AsylG).
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c) Gemessen an diesen Vorgaben ist nach der vorliegenden Erkenntnismittellage jedenfalls von ernstzunehmenden Anhaltspunkten für das Vorliegen systemischer Mängel im kroatischen Asylsystem auszugehen, hinsichtlich derer auch hinreichend wahrscheinlich erscheint, dass sie die Antragstellerin treffen können.
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Zwar verneint die überwiegende Meinung in der Rechtsprechung das Vorliegen systemischer Mängel (vgl.: VG Karlsruhe, B.v. 29.6.2023 – A 19 K 2160/23 – BeckRS 2023, 16102, Rn. 18 ff.; VG Köln, B.v. 7.6.2023 – 6 L 858/23.A – juris Rn. 29 ff.; VGH BW, U.v. 11.5.2023 – A 4 S 2666/22 – juris; NdsOVG, B.v. 22.2.2023 – 10 LA 12/23 – juris; VG Ansbach, B.v. 21.12.2022 – AN 14 S 22.50376 – juris; VG Leipzig, B.v. 6.12.2022 – 6 L 678/22.A – juris; VG Hannover, B.v. 21.11.2022 – 4 B 4791/22 – juris; VG Stuttgart, U.v. 30.9.2022 – A 13 K 4446/22 – juris; VG Aachen, B.v. 12.9.2022 – 6 L 551/22.A – juris; VG Göttingen, B.v. 8.7.2022 – 4 B 110/22 – juris; VG Düsseldorf, B.v. 4.2.2022 – 12 L 59/22.A – juris; VG Chemnitz, B.v. 10.12.2021 – 4 L 519/21.A – juris). Dies wird trotz der von den kroatischen Behörden vorgenommenen Pushbacks und Kettenabschiebungen angenommen. Hauptargument ist hierbei, dass Dublin-Rückkehrer von diesen Maßnahmen nicht betroffen seien.
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Dagegen bejaht aber ein nicht unerheblicher Teil der Rechtsprechung das Vorliegen systemischer Mängel (vgl. VG Braunschweig, U.v. 8.5.2023 – 2 A 269/22 – juris; VG Braunschweig, U.v. 24.5.2022 – 2 A 26/22 – juris; im Anschluss hieran: VG Freiburg, B.v. 26.7.2022 – A 1 K 1805/22 – juris; VG Hannover, B.v. 7.9.2022 – 15 B 3250/22 – juris; VG Stuttgart, B.v. 2.9.2022 – A 16 K 3603/22 – juris; offenlassend als grundsätzlich bedeutsame Tatsachenfrage i.S.d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG: VG Karlsruhe, B.v. 21.2.2023 – A 19 K 304/23 – juris Rn. 38 ff.; vgl. aus der ausländischen europäischen Rechtsprechung insbesondere: Raad von State, U.v. 13.4.2022 – Az. 202104072/1/V3 = ECLI:NL:RVS:2022:1042 – abrufbar unter: https://... [aufgerufen 22.8.2023]). Diese Auffassung beruft sich unter Auswertung aktueller Erkenntnismittel darauf, dass es in Kroatien nicht nur an der EU-Außengrenze seit Langem und in erheblichem Umfang zu gewaltsamen Pushbacks, d.h. irregulären Abschiebungen von Asylsuchenden über die kroatische EU-Außengrenze nach Serbien und Bosnien-Herzegowina, komme. Vielmehr seien auch Kettenabschiebungen nach Bosnien-Herzegowina von Österreich, Italien oder Slowenien hinreichend belegt. Folglich sei nicht sichergestellt, dass im Wege des Dublin-Verfahrens von Deutschland an Kroatien rücküberstellte Asylsuchende nicht ebenfalls Opfer von Kettenabschiebungen nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien werden könnten und ihr Recht auf Asylantragstellung dadurch vereitelt würde (vgl. zusammenfassend: VG Freiburg, B.v. 26.7.2022, a.a.O., Rn. 14). Insbesondere auch die oben aufgeführte Entscheidung des Raad von State, des höchsten Verwaltungsgerichts der Niederlande, begründet eingehend, dass Pushbacks bzw. Ketten-Pushbacks routinemäßig stattfänden und im Dublin-Verfahren als aufklärungsbedürftiger Umstand berücksichtigt werden müssten.
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d) Das Hauptargument der überwiegenden Rechtsprechung, dass Dublin-Rückkehrer von Pushbacks und Kettenabschiebungen nicht betroffen seien, ist bei summarischer Bewertung und unter Zugrundelegung des gegenwärtigen Erkenntnisstands jedenfalls zweifelhaft: Die Eigenschaft als Dublin-Rückkehrer räumt den Geflüchteten keinen rechtlichen Sonderstatus ein, sondern Dublin-Rückkehrer sind nach Art. 18 Abs. 2 Dublin III-VO zu behandeln wie Erstantragsteller. Wenn sie Kroatien vor Abschluss des Asylverfahrens verlassen, wird ihr Verfahren ausgesetzt, und sie müssen nach ihrer Rückkehr erneut einen Antrag stellen, um das Asylverfahren fortzusetzen oder neu einzuleiten. Eine Differenzierung, wie etwa zwischen anerkannten international Schutzberechtigten und Asylbewerbern, ist damit nicht angezeigt. Die Gruppe der Dublin-Rückkehrer von den sonstigen Asylsuchenden in Kroatien abzuspalten und als eigenständige (privilegierte) Kategorie zu betrachten, wäre nur dann gerechtfertigt, wenn es gelänge, positiv zu belegen, dass Dublin-Rückkehrern die Gefahren, denen sämtliche andere Asylbewerber in Kroatien ausgesetzt sind, nicht drohen (vgl. hierzu: VG Braunschweig, U.v. 8.5.2023 – 2 A 269/22 – juris LS 3 und Rn. 54, 56).
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Diese Annahme wird entgegen der überwiegenden Rechtsprechung auch nicht mit dem pauschalen Verweis auf den unionsrechtlichen Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens („mutual trust“) in Zweifel gezogen (so aber insbesondere NdsOVG, B.v. 22.2.2023 – 10 LA 12/23 – juris Rn. 8). Die in der überwiegenden Rechtsprechung wiederholt anzutreffende Argumentation, es lägen nicht einmal Anhaltspunkte für das Vorliegen systemischer Mängel im kroatischen Asylsystem vor bzw. der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens wäre erst dann widerlegt, wenn Kettenabschiebungen von Dublin-Rückkehrern in faktischer Hinsicht eindeutig (d.h. sinngemäß durch Strengbeweismittel) nachgewiesen seien, dürfte die Darlegungsanforderungen für die Widerlegung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens – jedenfalls in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes – unter Berücksichtigung der oben genannten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, B.v. 2.8. 2023 – 2 BvR 593/23 – juris Rn. 11; B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 16; B.v. 20.11.2018 – 2 BvR 80/18 – juris Rn. 8; B.v. 21.4.2016 – 2 BvR 273/16 – juris Rn. 14) wohl überspannen. Denn die Annahme, dass Dublin-Rückkehrer einen rechtlichen Sonderstatus innehätten, der sie vor einer Kettenabschiebung etwa nach Bosnien und Herzegowina bewahren würde, führt nicht nur zu der nicht vertretbaren methodischen Konsequenz, dass einem Dublin-Rückkehrer so eine nähere Aufklärung der genannten Kettenabschiebungen bezogen auf eine individualisierte Prüfung der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK entzogen wird, während zugleich aufgrund der Unanfechtbarkeit im Eilverfahren praktisch kaum mehr rückgängig zu machende Fakten geschaffen werden (BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 15; B.v. 21.4.2016 – 2 BvR 273/16 – juris Rn. 14). Bei dieser Betrachtungsweise wird nämlich gerade auch der rechtliche Kontext der in der Erkenntnismittellage beschriebenen Kettenabschiebungen, der auf der nationalen und völkervertragsrechtlichen Ebene liegt, ausgeblendet. Mit den maßgeblichen völkerrechtlichen Abkommen (dazu sogleich) wird losgelöst vom Dublin-System ein Parallelregime implementiert, das tatbestandsmäßig Dublin-Rückkehrer im Anwendungsbereich gerade nicht ausdrücklich ausschließt (vgl. auch hinsichtlich der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Mitgliedstaat Ungarn und der damaligen Frage von Kettenabschiebungen nach Serbien nach dem entsprechenden Rückführungsabkommen: HessVGH, U.v. 1.9.2017 – 4 A 2987/16.A – juris Rn. 51; NdsOVG, U.v. 20.12.2016 – 8 LB 184/15 – juris Rn. 52). Ein derartiger aus dem Grundsatz des „mutual trust“ abgeleiteter gerichtlicher Kontrollverzicht lässt sich jedenfalls im Eilverfahren dann nicht mehr legitimieren, wenn sich nach dem nationalen Recht des Zielstaats oder von diesem geschlossenen völkerrechtlichen Abkommen unter Berücksichtigung von deren Vollzugspraxis die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer Rechtsverletzung aus Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK im Einzelfall ergibt (vgl. auch allg. zum Grundsatz des „mutual trust“ und der Schwelle der hinreichenden Wahrscheinlichkeit: Lübbe, NVwZ 2017, 674 [678 f.]). Hinsichtlich der in der Erkenntnismittellage vielfach thematisierten Kettenabschiebungen nach Bosnien und Herzegowina (vgl. dazu beispielhaft: AIDA v. 26.6.2023, Country Report Report Croatia, Update 2022, S. 16 m.w.N; ausführlich Human Rights Watch, „Like We Were Just Animals“, Pushbacks of People Seeking Protection from Croatia to Bosnia and Herzegowina [2023], S. 66 ff.; Report of the Special Rappoteur on the human rights of migrants, Felipe González Morales: Human rights violations at international borders: trends, prevention and accountability [26.4.2022] – UN Doc. A/HRC/50/31, insbes. Rn. 49 m.w.N.) werfen insoweit auf völkervertragsrechtlicher Ebene das (bilaterale) „Abkommen vom 11. März 2011 zwischen der Regierung der Republik Kroatien und dem Ministerrat von Bosnien und Herzegowina über die Übergabe und Aufnahme von Personen, deren Einreise oder Aufenthalt illegal ist“ (kroatischer Original-Text des Abkommens im kroatischen Gesetzblatt abrufbar unter https://... sowie das Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Bosnien und Herzegowina über die Rücknahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt vom 19. Dezember 2007 in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht Fragen auf. Die Kammer erhebt im Verfahren M 10 K 22.50479 u.a. auch unter Berücksichtigung der oben genannten völkerrechtlichen Abkommen und deren Vollzugspraxis Beweis, inwieweit Dublin-Rückkehrer von der von Kroatien praktizierten Kettenüberstellungspraxis tatsächlich betroffen sein können. Die Kammer holt in diesem Zusammenhang Auskünfte vom Auswärtigen Amt, dem European Center for Constitutional and Human Rights und Amnesty International Deutschland ein.
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Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin und weiten Teilen der Rechtsprechung stellen die in der Erkenntnismittellage beschriebenen Kettenabschiebungen nach völkerrechtlichen Rückübernahmeabkommen auch einen hinreichenden „Anhaltspunkt“ dar, dass auch Dublin-Rückkehrer bei einer Rückführung nach Kroatien hiervor betroffen sein können. Im Kern geht es um die Frage, ob ein Dublin-Rückkehrer einem Mitgliedstaat überantwortet werden kann, welcher in der Vergangenheit nachweislich und in erheblichem Ausmaß dorthin rückgeführte bzw. dort angekommene Personen nach seinen mit den Nachbarstaaten Serbien sowie Bosnien und Herzegowina geschlossenen bilateralen Rückübernahmeabkommen dorthin weitergeschoben hat. Der Antragsgegnerin ist bekannt, dass der Beweisansatz der Kammer im Verfahren M 10 K 22.50479 seinerseits an abstrakte Rechtssätze zu obergerichtlicher Rechtsprechung zum Mitgliedstaat Ungarn aus den Jahren 2016 und 2017 anknüpft und die sich mit eben jener Tatsachenfrage von Kettenabschiebungen nach einem bilateralen Rückübernahmeabkommen als systemischen Mangel auseinandergesetzt hat (vgl. eingehend dazu BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.50003 – juris Rn. 32 ff.; HessVGH, U.v. 1.9.2017 – 4 A 2987/16.A – juris Rn. 48 ff.; NdsOVG, U.v. 20.12.2016 – 8 LB 184/15 – juris Rn. 48 ff.; VGH BW, U.v. 13.10.2016 – A 11 S 1596/16 – juris Rn. 43). Mit den in Bezug genommenen Rechtssätzen der zitierten obergerichtlichen Entscheidungen hat sich weder die Antragsgegnerin noch die von ihr referierte Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (A 4 S 2666/22 – juris) überzeugend auseinandergesetzt. Die (implizite) Annahme des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, dass Rücküberstellungen nach Kroatien und anschließende Kettenabschiebungen nach bilateralen Rückübernahmeabkommen grundsätzlich nicht relevant seien (A 4 S 2666/22 – juris Rn. 60), ist daher mit Blick auf die oben genannten obergerichtlichen Entscheidungen mit Nachdruck entgegenzutreten. Im Übrigen ist anzumerken, dass auch die grundsätzliche Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, die unionsrechtswidrige Behandlung eines Asylantrags als Folgeantrag stelle keinen systemischen Mangel des kroatischen Asylsystems dar bzw. dürfe von deutschen Verwaltungsgerichten überhaupt nicht als Umstand berücksichtigt werden (A 4 S 2666/22 – juris Rn. 84 ff.), im Hinblick auf obergerichtliche Rechtsprechung mit gegensätzlichen allgemeinen Rechtssätzen mindestens Zweifeln begegnet und damit keiner höheren rechtlichen Richtigkeitsgewähr unterliegt (vgl. mit gegensätzlichen Ausführungen zum Mitgliedstaat Ungarn: SächsOVG, U.v. 6.7.2017 – 4 A 584/16.A – juris Rn. 36).
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Für das Gericht erscheint es nach dem Vorstehenden daher jedenfalls möglich, dass Kroatien im Einklang nach den Modalitäten des bilateralen Rückübernahmeabkommens vom 11. März 2011 eine Anschlussüberstellung nach Bosnien und Herzegowina anstrebt, da eine anderweitige von Kroatien offenbar angestrebte rechtliche Drittstaatszuständigkeit nach einem vom Gemeinsamen Europäischen Asylsystem losgelösten Rechtsmechanismus lediglich auf nationaler oder völkervertragsrechtlicher Ebene denkbar ist (vgl. dazu mutatis mutandis die obergerichtliche Rechtsprechung hinsichtlich des Mitgliedstaats Ungarn: BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.50003 – juris Rn. 32 ff.; HessVGH, U.v. 1.9.2017 – 4 A 2987/16.A – juris Rn. 51; NdsOVG, U.v. 20.12.2016 – 8 LB 184/15 – juris Rn. 52). Generell scheint Kroatien nach aktuellen Berichten seit diesem Jahr verstärkt das 2011 geschlossene bilaterale Rückführungsabkommen mit Bosnien- und Herzegowina zur Anwendung bringen zu wollen:
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„The Readmission Agreement with Croatia was signed in 2011 and has been in effect since that date,” the security ministry told BIRN, but since the beginning of this year, “there has been an increase in Croatia’s requests for the acceptance of migrants who illegally cross from Bosnia and Herzegovina into Croatia.” (vgl. A. Kurtic/T. Siviero/V. Tesija, „Bosnia Contradicts Croatian Claim about Migrant, Refugee ‘Readmissions’“ Balkan Insight 23.5.2023, abrufbar unter https://.../ [aufgerufen 21.8.2023])
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Im vorliegenden Fall wirkt insbesondere der Rekurs Kroatiens auf Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO auch deshalb merkwürdig, wenn einerseits ausgeführt wird, dass das Asylverfahren noch anhängig sei (vgl. auch Vollrath in BeckOK MigR, Stand 15.4.2023, Art. 20 Dublin III-VO Rn. 5) und anderseits mit dem Normverweis zum Ausdruck gebracht werden wird, dass die Zuständigkeit für das Asylverfahren der Antragstellerin noch geklärt werden müsse. Andere EURODAC-Treffer als die für Kroatien liegen aktuell nicht vor, sodass sich die Zuständigkeit eines anderen Staates für das Asylverfahren der Antragstellerin aus der Perspektive Kroatiens nach derzeitigem Stand allenfalls nach seinem nationalen Recht oder nach bilateralen Rücküberstellungsabkommen ergeben kann (vgl. auch bereits VG München, B.v. 28.6.2023 – M 10 S 23.50657 – juris Rn. 26 a.E.). Näheres wird das Gericht im Hauptsacheverfahren zu klären haben.
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Eine Überstellung der Antragstellerin nach Kroatien würde im Hinblick auf die rechtlichen Vorgaben aus Art. 18 Abs. 2 Dublin III-VO, Art. 9 Abs. 1 Satz 1 RL 2013/32/EU bzw. Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK im Übrigen nicht weniger rechtswidrig, wenn eine Anschlussüberstellung der Antragstellerin nach Bosnien und Herzegowina nicht umgehend, sondern erst nach einer bestimmten Zeit nach Ankunft in Kroatien vollzogen würde, ohne dass eine Sachentscheidung über den Asylantrag der Antragstellerin in Kroatien erginge. Auch in diesem Fall wäre eine rechtswidrige Weiterführung der Antragstellerin nach Bosnien und Herzegowina der Antragsgegnerin indirekt zuzurechnen, da diese letztlich in kausalem Zusammenhang mit der Überstellung nach Kroatien stünde (vgl. allg. zum Verbot des sog. indirekten refoulement: EGMR, U.v. 21.9.2019 [GK] – Ilias und Ahmed/Ungarn, Nr. 47287/15 – HUDOC Rn. 129 m.w.N. = NVwZ 2020, 937 [939]; mutatis mutandis BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.50003 – juris Rn. 32; NdsOVG, B.v. 20.12.2016 – 8 LB 184/15 – juris Rn. 48, zu Kettenabschiebungen von Dublin-Rückkehrern von Ungarn aus nach Serbien).
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Eine Kettenabschiebung der Antragstellerin nach Bosnien und Herzegowina würde damit bedeuten, dass die Antragstellerin dort wiederum den dortigen Bedingungen ausgesetzt wäre. In einem Arbeitspapier der Europäischen Kommission vom 12. Oktober 2022 (SWD[2022] 336 final) wird angedeutet, dass dort hinsichtlich der Aufnahmebedingungen von Asylsuchenden derzeit (noch) elementare menschliche Bedürfnisse nicht befriedigt werden können und willkürliche Beschränkungen der Freiheitsrechte von Ausländern aufgehoben werden sollten (Europäische Kommission, a.a.O., S. 37; vgl. auch kritisch US Department of State, Bosnia and Herzegovina 2021 Human Rights Report, S. 25).
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3. Nach den obigen Ausführungen und angesichts der uneinheitlichen Rechtsprechung zur Frage des Vorliegens systemischer Mängel in Kroatien sowie der hierzu derzeit durchgeführten Beweiserhebung durch die Kammer sind die Erfolgsaussichten der Klage gegen die Abschiebungsanordnung derzeit jedenfalls als offen zu bewerten. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung ist anzuordnen, da im Rahmen der Interessenabwägung die Nachteile, die sich für die Antragstellerin bei einem Sofortvollzug ergeben würden, gegenüber den Nachteilen, die die Antragsgegnerin aufgrund der Anordnung der aufschiebenden Wirkung erleidet, überwiegen. Auch wenn nach der gesetzgeberischen Grundwertung des § 75 AsylG im Fällen wie dem Vorliegenden der Klage grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung zukommen soll, ist das Interesse der Antragstellerin vorliegend als gewichtiger zu bewerten. Während bei einem Sofortvollzug der streitbefangenen Anordnung vorliegend mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine potenziell irreversible Verletzung der (hochrangigen) Rechtsgüter der Antragstellerin aus Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK droht, würde sich auf der anderen Seite der Aufenthalt des Klägers lediglich bis zu seiner Überstellung nach Kroatien verlängern, sollte die Klage (etwa aufgrund weiterer tatsächlicher Erkenntnisse im Hauptsacheverfahren) doch erfolglos bleiben. Eine (unterstellte) verzögerte Überstellung der Antragstellerin nach Kroatien wäre insoweit – auch vor dem Hintergrund der Gewährung effektiven Rechtsschutzes gem. Art. 19 Abs. 4 GG – als weniger schwerwiegend anzusehen und damit eher hinzunehmen als der (potenzielle) Eintritt irreversibler Tatsachen im Kontext der absoluten Rechtspositionen aus Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK (vgl. BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 16; B.v. 20.11.2018 – 2 BvR 80/18 – juris Rn. 8).
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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5. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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