Inhalt

VG München, Beschluss v. 28.12.2023 – M 1 S 23.5542
Titel:

Erfolgloser Eilantrag gegen eine sofort vollziehbare Nutzungsuntersagung hinsichtlich eines auch als Monteursunterkunft genutzten Wohnhauses

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4
BayBO Art. 55, Art. 76 S. 2
Leitsatz:
Eine genehmigungspflichtige Nutzungsänderung liegt nur dann vor, wenn die jeder Nutzung eigene tatsächliche Variationsbreite überschritten wird und der neuen Nutzung aus dem Blickwinkel der maßgeblichen öffentlich-rechtlichen Vorschriften eine andere Qualität zukommt als der bisherigen Nutzung. Nicht erforderlich ist, dass tatsächlich andere Anforderungen an die geänderte Nutzung gestellt werden, sondern nur, dass derartige Anforderungen in Betracht kommen können und die Frage, ob dies tatsächlich der Fall ist, in einem Genehmigungsverfahren geprüft werden muss. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Boardinghouse, Nutzungsuntersagung, Stellplatzbedarf, Vorläufiger Rechtsschutz, vorläufiger Rechtsschutz
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 25.03.2024 – 1 CS 24.65
Fundstelle:
BeckRS 2023, 39225

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Beteiligten streiten über eine sofort vollziehbare Nutzungsuntersagung, die die Antragsgegnerin gegenüber den Antragstellern verfügt hat.
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Die Antragsteller sind Miteigentümer des Grundstücks FlNr. 214/2 Gem. … (Vorhabengrundstück). Das Vorhabengrundstück liegt im Geltungsbereich der Einbeziehungssatzung „… R.-U.weg“. Nach § 2 der Satzung richtet sich die planungsrechtliche Zulässigkeit von Vorhaben nach § 34 BauGB und den Festsetzungen in der Satzung. Die Satzung selbst trifft u.a. Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung sowie zur Bauweise und -form. Ein Bebauungsplan besteht für das Gebiet nicht.
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Mit Bescheid vom 28. Oktober 2003 erteilte die Antragsgegnerin den Antragstellern eine Baugenehmigung zum Neubau eines Einfamilienhauses mit Doppelgarage auf dem Vorhabengrundstück unter Befreiung von der Festsetzung der Einbeziehungssatzung über das Baufenster für die Garage. Dieses wurde in der Folge errichtet.
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Unter dem 5. Dezember 2003 erließ die Antragsgegnerin eine Stellplatz- und Garagensatzung.
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Aufgrund von Nachbarbeschwerden im Jahr 2022 stellte die Antragsgegnerin fest, dass in dem errichteten Gebäude auf dem Vorhabengrundstück eine Arbeiterunterkunft mit Monteurzimmern betrieben wird. Mit Schreiben vom 29. November 2022 gab die Antragsgegnerin der Antragstellerin zu 2) erstmals Gelegenheit, zu dem Sachverhalt Stellung zu nehmen. Unter dem 1. September 2023 teilte die Antragsgegnerin den Antragstellern mit, dass der Betrieb unverändert fortbestehe, sie seit dem Schreiben vom 29. November 2022 keine Rückmeldung erhalten habe und ein Antrag auf Nutzungsänderung nicht eingegangen sei. Sie behalte sich bauaufsichtliche Schritte vor. Die Antragsteller erhielten letztmalig Gelegenheit zur Stellungnahme. Mit E-Mail vom … November 2023 erklärte der Antragsteller zu 2), dass beabsichtigt sei, einen Bauantrag für eine Nutzungsänderung einzureichen.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 17. November 2023 untersagte die Antragsgegnerin die Nutzung des genehmigten Einfamilienhauses mit Doppelgarage auf dem Vorhabengrundstück als Arbeiterunterkunft mit Monteurzimmern ab sofort (Nr. 1) und ordnete die sofortige Vollziehbarkeit der Nr. 1 an (Nr. 3). Ferner wurde ein Zwangsgeld in Höhe von 500,00 EUR für den Fall der Nichterfüllung der Nr. 1 angedroht (Nr. 2). Die Antragsteller hätten das genehmigte Einfamilienhaus in eine Arbeiterunterkunft mit Zimmern für Monteure umgenutzt, ohne die dafür erforderliche Baugenehmigung eingeholt zu haben. Die Unterkunft werde im Internet beworben. Der vom Antragsteller zu 1) angekündigte Bauantrag sei am 15. November 2023 bei der Antragsgegnerin eingegangen. Die unzulässige Nutzungsänderung könne nicht bis zur Entscheidung über den Bauantrag geduldet werden. Für die betriebene Nutzung bestehe keine Genehmigung, sodass Art. 55 BayBO verletzt werde. Die Nutzungsuntersagung sei in pflichtgemäßem Ermessen der Antragsgegnerin ausgesprochen worden. Sie sei das einzige Mittel, um kurzfristig die rechtliche Ordnung wiederherzustellen. Die sofortige Vollziehbarkeit der Nr. 1 der Anordnung sei zu verfügen gewesen, weil ein besonderes öffentliches Interesse bestehe. Ein Hinauszögern schaffe vollendete Tatsachen und stelle einen Anreiz für andere dar, gleichermaßen rechtswidrig zu verfahren. Den Vorschriften des Baurechts müsse sofort Geltung verschafft werden. Weitere Verstöße müssten im Interesse der Stärkung der Baumoral verhindert werden. Das öffentliche Interesse begründe sich ferner darin, dass aufgrund der Parksituation im Notfall keine Rettungskräfte zu den umliegenden Grundstücken gelangen könnten, wodurch unter Umständen Gefahr für Leib und Leben der anwohnenden Nachbarn bestehe.
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Mit am 23. November 2023 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten haben die Antragsteller Klage erhoben (M 1 K 23.5541) und beantragen zugleich,
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die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Stadt … vom 17.11.2023, zugestellt am 21.11.2023 bezüglich Ziff. 1. des Bescheids wiederherzustellen und bezüglich Ziff. 2 des Bescheids anzuordnen.
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Die Nutzungsuntersagung sei rechtswidrig und im Hauptsacheverfahren voraussichtlich aufzuheben, sodass es keinen Grund für eine sofortige Vollziehung gebe. Es sei bereits zweifelhaft, ob das Vorhaben formell illegal sei. Genehmigt sei die Nutzung des Gebäudes als Wohnhaus. Solange Wohnnutzung stattfinde, sei eine Baugenehmigung für eine Nutzungsänderung nicht erforderlich. Im Anwesen der Antragsteller würden keinerlei hoteltypische Leistungen angeboten; es gebe weder Frühstück noch einen Getränkeservice o.ä. Die Wohnnutzung stehe im Vordergrund, sodass zweifelhaft sei, ob es sich um eine Nutzungsänderung handle. Der Bescheid sei ermessensfehlerhaft. Der Bescheid beschränke sich auf die formelhafte Wendung, dass die Untersagung in pflichtgemäßem Interesse ausgesprochen werde. Innerhalb einer Nutzungsuntersagung sei zumindest überschlagsmäßig zu prüfen, ob die Nutzung genehmigungsfähig sei. In dem am 15. November 2023 gestellten Bauantrag werde dargelegt, weshalb das Vorhaben genehmigungsfähig sei. Im Übrigen sei die Nutzung jedenfalls ausnahmsweise zulässig. Selbst wenn man von einem reinen Wohngebiet ausgehe, könne ein kleiner Beherbergungsbetrieb ausnahmsweise zugelassen werden. Um einen derartigen Betrieb handle es sich hier, weil weniger als zehn Personen untergebracht würden. Die Anordnung sei zudem unverhältnismäßig. Die Nutzung sei ab sofort untersagt. Bei Bescheidserlass sei der Antragsgegnerin bewusst gewesen, dass die Antragsteller Verträge mit Unternehmen abgeschlossen hätten, die ihre Monteure in dem Gebäude unterbrächten. Es lägen längerfristige Verpflichtungen vor. Die Anordnung sei nur dann verhältnismäßig, wenn eine gewisse Übergangsfrist eingeräumt würde. Die Anordnung verursache einen extremen wirtschaftlichen Schaden, weil die Antragsteller gezwungen wären, sämtliche Mietverhältnisse in ihrem streitgegenständlichen Anwesen sofort aufzulösen und sämtliche neuen Anfragen abzusagen. Die Nutzung als Boardinghouse werde seit langer Zeit durchgeführt, sodass eine Eilbedürftigkeit nicht anzunehmen sei.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Der Bescheid sei rechtmäßig. Die Nutzung habe untersagt werden können, weil das Grundstück im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften genutzt werde. Eine entsprechende Baugenehmigung zur Nutzung als Arbeiterunterkunft sei nicht eingeholt worden und habe nicht vorgelegen. Das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung sei ausreichend schriftlich begründet worden. Der Sofortvollzug sei regelmäßig schon dann gerechtfertigt, wenn die Voraussetzungen einer Nutzungsuntersagung aller Voraussicht nach vorlägen. Im Falle einer formell illegalen und nicht offensichtlich genehmigungsfähigen Nutzungsänderung seien mit Blick auf die negative Vorbildwirkung sowie die Kontrollfunktion des Bauordnungsrechts nur geringe Anforderungen an die Begründung der Vollziehungsanordnung zu stellen. Aufgrund der anhaltenden Nutzung als Arbeiterunterkunft ohne erforderliche Baugenehmigung habe eine weitere Nutzung auch nach mehrfacher Verlängerung der Fristen zur Stellungnahme nicht hingenommen werden können. Die Nutzungsuntersagung stelle das einzige Mittel dar, um kurzfristig die rechtliche Ordnung wiederherzustellen, weil nicht bis zur Entscheidung über den Antrag auf Nutzungsänderung abgewartet werden könne. Durch den erhöhten Parkdruck und den zusehends schlechter werdenden Zustand der Straße sei die Anordnung das einzige Mittel gewesen, um die Situation zunächst vorübergehend zu entschärfen. Der eingereichte Bauantrag sei darüber hinaus unvollständig, weshalb die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 22. November 2023 fehlende Unterlagen wie etwa eine Betriebsbeschreibung nachgefordert habe. Über die Genehmigungsfähigkeit habe daher nicht entschieden werden können. Der Antragsgegnerin sei der Umfang, die Anzahl und das zeitliche Ausmaß der eingegangen zivilrechtlichen Verträge nicht bekannt gewesen. Dass die Antragsteller die bestehenden Verpflichtungen nicht sofort auflösen könnten, habe baurechtlich keine Relevanz. Dies gelte auch für den angesprochenen wirtschaftlichen Schaden. Das öffentliche Interesse an der Herstellung und Erhaltung der Rechtsordnung überwiege weiter das Individualinteresse der Antragsteller an der gewinnbringenden Vermietung des Objekts. Eine Übergangsfrist laufe dem Zweck der sofortigen Unterbindung der rechtswidrigen Nutzung zuwider.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die beigezogene Behördenakte, auch im zugehörigen Hauptsacheverfahren M 1 K 23.5541, Bezug genommen.
II.
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Der zulässige Antrag hat in der Sache keinen Erfolg.
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1. Der Antrag ist zulässig. Soweit er sich gegen die für sofort vollziehbar erklärte Nutzungsuntersagung richtet, ist er als Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Nr. 1. des Bescheids vom 17. November 2023 gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO statthaft. Die Klage hat insoweit gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO keine aufschiebende Wirkung. Im Hinblick auf die Zwangsgeldandrohung ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen Nr. 3 des Bescheids ebenfalls statthaft; die aufschiebende Wirkung der Klage ist kraft Gesetzes entfallen, § 80 Abs. 5 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, Art. 21a Satz 1 VwZVG.
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2. Der Antrag ist jedoch unbegründet.
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Das Gericht der Hauptsache kann gem. § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage ganz oder teilweise wiederherstellen, wenn die vorzunehmende, eigene Interessenabwägung ergibt, dass das Interesse der Antragsteller an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage das öffentliche Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsakts überwiegt. Maßgeblich dafür sind in erster Linie die Erfolgsaussichten der Klage in der Hauptsache. Erweist sich der angefochtene Verwaltungsakt nach gebotener, aber auch ausreichender summarischer Prüfung als voraussichtlich rechtswidrig, so ist die Vollziehung regelmäßig auszusetzen, da an der Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts kein öffentliches Interesse bestehen kann. Erscheint der Verwaltungsakt nach vorläufiger Betrachtung hingegen als voraussichtlich rechtmäßig, so ist der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz abzulehnen, sofern ein besonderes Vollzugsinteresse besteht. Stellen sich die Erfolgsaussichten als offen dar, findet eine eigene gerichtliche Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt.
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Ausgehend davon ergibt die im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vorzunehmende summarische Prüfung, dass die Klage keine Erfolgsaussichten hat, weil der angefochtene Verwaltungsakt – der Bescheid der Antragsgegnerin vom 17. November 2023 – voraussichtlich rechtmäßig ist.
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a) Die Anordnung des Sofortvollzugs ist formell rechtmäßig. Gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Dabei reicht jede schriftliche Begründung, die zu erkennen gibt, dass die anordnende Behörde eine Anordnung des Sofortvollzugs im konkreten Fall für geboten erachtet. Die Begründung muss kenntlich machen, dass sich die Behörde bewusst ist, von einem rechtlichen Ausnahmefall Gebrauch zu machen. Es müssen also die besonderen, auf den konkreten Fall bezogenen Gründe angegeben werden, die die Behörde dazu bewogen haben, den Suspensiveffekt auszuschließen (Hoppe in Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Auflage 2022, § 80 Rn. 55).
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Die Begründung der Antragsgegnerin unter II. (Seite 3) des Bescheids genügt diesen Anforderungen. Sie hat die Notwendigkeit des sofortigen Einschreitens u.a. damit begründet, dass ein Hinauszögern vollendete Tatsachen schaffe und einen Anreiz für andere darstelle, gleichermaßen rechtswidrig zu verfahren. Zudem begründe sich das öffentliche Interesse am Sofortvollzug darin, dass aufgrund der Parksituation im Notfall keine Rettungskräfte zu den umliegenden Grundstücken gelangen könnten, wodurch unter Umständen Gefahr für Leib und Leben der anwohnenden Nachbarn bestehe. Ob die Begründung zutreffend ist, kann an dieser Stelle dahinstehen; auf die inhaltliche Richtigkeit der Begründung kommt es für die formelle Rechtmäßigkeit der Anordnung des Sofortvollzugs nicht an.
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b) Nach der im Verfahren des Eilrechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden, summarischen Prüfung hat die Klage der Antragsteller gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 17. November 2023 voraussichtlich keinen Erfolg. Die Nutzungsuntersagung ist rechtmäßig. Das Zwangsgeld begegnet ebenfalls keinen Bedenken, sodass der Bescheid nach summarischer Prüfung rechtmäßig ist und die Antragsteller nicht in ihren Rechten verletzt werden, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiegt daher das Interesse der Antragsteller an der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage.
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aa) Die Nutzungsuntersagung in Nr. 1 des Bescheids ist rechtmäßig.
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(1) Die Anordnung ist formell rechtmäßig, insbesondere wurden die Antragsteller vor Erlass mit Schreiben vom 1. September 2023 ordnungsgemäß angehört, Art. 28 BayVwVfG.
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(2) Auch in materieller Hinsicht ist die Nutzungsuntersagung nicht zu beanstanden.
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Rechtsgrundlage der angefochtenen Nutzungsuntersagung ist Art. 76 Satz 2 BayBO. Danach kann die Bauaufsichtsbehörde die Nutzung untersagen, wenn Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften genutzt werden. Ein Verstoß gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften, die den Erlass einer Nutzungsuntersagung rechtfertigt, liegt grundsätzlich schon bei sogenannter formeller Rechtswidrigkeit vor, wenn also die untersagte Nutzung ein gemäß Art. 55 Abs. 1 BayBO genehmigungspflichtiges Vorhaben betrifft, dem die erforderliche Baugenehmigung fehlt (BayVGH, B.v. 19.5.2016 – 15 CS 16.300 – juris Rn. 21; B.v. 27.2.2017 – 15 CS 16.2253 – juris Rn. 33).
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(a) Die Nutzung des Gebäudes auf dem Vorhabengrundstück als Boardinghouse ist bereits formell baurechtswidrig.
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Gem. Art. 55 Abs. 1 BayBO bedarf u.a. die Nutzungsänderung von Anlagen der Baugenehmigung. Eine Nutzungsänderung in diesem Sinne liegt dabei nur dann vor, wenn die jeder Nutzung eigene tatsächliche Variationsbreite überschritten wird und der neuen Nutzung aus dem Blickwinkel der maßgeblichen öffentlich-rechtlichen Vorschriften eine andere Qualität zukommt als der bisherigen Nutzung (BayVGH, B.v. 20.12.2000 – 2 B 99.2118 – juris Rn. 19). Nicht erforderlich ist, dass tatsächlich andere Anforderungen an die geänderte Nutzung gestellt werden, sondern nur, dass derartige Anforderungen in Betracht kommen können und die Frage, ob dies tatsächlich der Fall ist, in einem Genehmigungsverfahren geprüft werden muss.
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Für das Vorhaben kommen andere bauordnungsrechtliche Anforderungen in Betracht als für die bisher ausgeübte Nutzung, weil das Vorhaben einen höheren Stellplatzbedarf auslöst. Genehmigt wurde mit der Baugenehmigung vom 28. Oktober 2003 der Neubau eines Einfamilienhauses und die Nutzung zu Wohnzwecken. Ausweislich der beigezogenen Behördenakten (Bl. 14 d. BA zum Genehmigungsverfahren 2003) wurden zwei Garagenstellplätze auf dem Vorhabengrundstück errichtet.
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Nach der am 5. Dezember 2003 von der Antragsgegnerin gem. Art. 47 Abs. 2 Satz 2 BayBO erlassenen Stellplatz- und Garagensatzung (Satzung) ist der Stellplatzbedarf gem. § 3 Abs. 1 der Satzung anhand der als Anlage beigefügten Richtzahlliste zu ermitteln. Nach Nr. 1.2 der Anlage 1 zur Satzung ergibt sich für das bestehende Einfamilienhaus mit einer Wohneinheit ein Bedarf von zwei Stellplätzen.
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Das Vorhaben löst unter jedem denkbaren Gesichtspunkt einen erhöhten Stellplatzbedarf aus.
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Unterstellt zu Gunsten der Antragsteller, dass es sich bei der Nutzung als Boardinghouse um Wohnnutzung handelt und das Gebäude (weiterhin) als Wohngebäude anzusehen ist, regelt Nr. 1.1.1 der Satzung, dass in Mehrfamilienhäusern für Wohnungen bis einschließlich 120 m² Wohnfläche 1,5 Stellplätze erforderlich sind. Ausweislich der in den Behördenakten befindlichen letzten Internetanzeige über das Vorhaben (Bl. 24 ff. der Verfahrensakte zur Nutzungsuntersagung) befinden sich jedenfalls im Erdgeschoss und im 1. Obergeschoss abschließbare Wohnungen. Ob im Untergeschoss eine weitere abschließbare Wohnung besteht, ist aus der Anzeige nicht eindeutig ersichtlich. Ausweislich der dortigen Angaben stehen im Untergeschoss vier Betten in zwei Doppelzimmern zur Verfügung. Der danach zu berechnende Stellplatzbedarf beträgt somit (mindestens) 3,0 Stellplätze (2 Wohnungen à 1,5 Stellplätze), wenn nicht gar 4,5 Stellplätze bei Berücksichtigung einer etwaigen Wohnung im Untergeschoss. Bereits unter diesem Aspekt erhöht sich der Stellplatzbedarf durch das Vorhaben.
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Es ist zudem zu befürchten, dass der soeben berechnete Stellplatzbedarf dem tatsächlich zu erwartenden Stellplatzbedarf nicht gerecht wird, sodass eine höhere Anzahl an notwendigen Stellplätzen anzunehmen ist. Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 2 der Satzung ist der Stellplatzberechnung die Zahl der zu erwartenden Beschäftigten/Besucher zu Grunde zu legen, wenn sich bei der Berechnung nach der Richtzahlliste ein offensichtliches Missverhältnis zum tatsächlich zu erwartenden Stellplatzbedarf ergibt. Eine Vergleichsbetrachtung sieht § 3 Abs. 2 der Satzung vor, wonach der Stellplatzbedarf für Verkehrsquellen, die in der Anlage zur Satzung nicht erfasst sind, nach den besonderen Verhältnissen im Einzelfall unter sinngemäßer Berücksichtigung der Richtzahlen für Verkehrsquellen mit vergleichbarem Stellplatzbedarf zu ermitteln ist. Unter Berücksichtigung der den beiden Regelungen zugrundeliegenden Erwägungen, nämlich, dass für den Fall, dass eine Berechnung nach der Richtzahlliste zu unbilligen Ergebnissen führen würde bzw. eine Subsumtion unter die in der Anlage genannten Verkehrsquellen nicht möglich ist, eine Einzelfallbetrachtung notwendig ist, ist der Stellplatzbedarf höher anzusetzen. Im Rahmen der Einzelfallbetrachtung ist zunächst anzuführen, dass das Boardinghouse der Antragsteller eine erhebliche Anzahl verfügbarer Betten aufweist. Verteilt auf drei Geschosse stehen insgesamt 16 Betten in acht Doppelzimmern zur Verfügung. Bei Vollauslastung sind in dem bislang als Einfamilienhaus genutzten Gebäude somit 16 Bewohner untergebracht. Als potenzielle Mieter sind insbesondere vorübergehend in der Umgebung tätige Arbeiter angesprochen; die Anzeige war vor ihrer Herausnahme auf „www. …de“ geschaltet und richtete sich an einen klar definierten Adressatenkreis. Zu berücksichtigen ist insoweit, dass eine Vermietung des gesamten Hauses an eine (Arbeiter-)Gruppe zwar möglich, aber keinesfalls zwingend ist. Bei einer Vermietung des gesamten Hauses an eine Gruppe wäre womöglich geringerer Anreiseverkehr zu erwarten, weil eine Anreise im Kollektiv und in weniger Fahrzeugen wahrscheinlich ist und der Bedarf an Mobilität vor Ort geringer sein dürfte. Bei einer möglichen Vermietung an eine Vielzahl verschiedener Gruppen oder gar Einzelpersonen dürfte der Stellplatzbedarf noch höher sein, weil Fahrgemeinschaften wegfallen. Im „worst-case-szenario“ findet folglich An- und Abreiseverkehr mitsamt Stellplatzbedarf von bis zu 16 Einzelpersonen und 16 Fahrzeugen statt. Gemessen an diesen Annahmen kommt dem geplanten Boardinghouse aus dem Blickwinkel der Stellplätze eine völlig andere Qualität zu als der bisherigen Nutzung als Einfamilienhaus. Insoweit ist die geplante Nutzung in stellplatzrechtlicher Hinsicht eher pensions- und beherbergungsähnlich ausgestaltet. Für originäre Hotel- und Pensionsnutzung sieht die Satzung in Nr. 5.3 einen Stellplatzbedarf von 0,75 Stellplätzen je Zimmer vor. Unter sinngemäßer Berücksichtigung der Richtzahlen für Verkehrsquellen mit diesem Stellplatzbedarf im Sinne von § 3 Abs. 2 der Satzung ergäbe sich im vorliegenden Fall aufgrund von acht verfügbaren Doppelzimmern schon ein Stellplatzbedarf von mindestens sechs Stellplätzen. Angesichts der dargestellten Erwägungen und Umstände des Einzelfalls könnte es sachgerecht sein, diesen Stellplatzschlüssel wegen der Möglichkeit der Einzelvermietung noch zu erhöhen. Das Vorhaben wirft daher die Stellplatzfrage neu auf und ruft jedenfalls einen deutlich erhöhten Bedarf hervor. Einzelheiten wird die Bauaufsichtsbehörde unter Berücksichtigung einer Betriebsbeschreibung zu prüfen haben.
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Sofern es sich bei der Nutzung als Boardinghouse nicht mehr um Wohnnutzung, sondern bereits um Beherbergung handeln sollte, wäre ohnehin ein Bedarf von mindestens sechs Stellplätzen anzunehmen, wie sich aus einer direkten Anwendung von Nr. 5.3 der Satzung ergibt.
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Dass das Vorhaben auch tatsächlich einen deutlich gesteigerten Stellplatzbedarf auslöst, zeigen schließlich die aktenkundigen Nachbarbeschwerden (Bl. 23 d. Verfahrensakte zur Nutzungsuntersagung). Die Gefahr, dass zu dem Boardinghouse gehörende Fahrzeuge den öffentlichen Verkehrsraum mangels vorhandener Stellplätze auf dem Vorhabengrundstück übermäßig beanspruchen, hat sich bereits realisiert. Die gewichtige Divergenz zwischen den vorhandenen und den für das Vorhaben tatsächlich notwendigen Stellplätzen führte bereits in der Vergangenheit zu Spannungen zwischen Mietern des Boardinghouses und angrenzenden Bewohnern. Im Übrigen wird der Zugang für Rettungskräfte etc. erschwert. Die beiden vorhandenen Stellplätze sind für das Vorhaben schlicht nicht ausgelegt und ungenügend.
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(b) Auf die von der Antragspartei aufgeworfene planungsrechtliche Frage, ob es sich bei der Nutzung als Boardinghouse (noch) um Wohnnutzung oder bereits um einen Beherbergungsbetrieb handelt, war im Ergebnis nicht entscheidungserheblich einzugehen, weil das Vorhaben somit selbst bei fortgesetzter Wohnnutzung genehmigungspflichtig ist. Die Kammer weist, ohne dass es entscheidungserheblich darauf ankommt, darauf hin, dass angesichts der Angaben in der Anzeige einige Anhaltspunkte dafür bestehen, dass es sich ohnehin um einen (ungenehmigten, aber genehmigungspflichtigen) Beherbergungsbetrieb handelt. Nach der Rechtsprechung stellt ein Boardinghouse eine Übergangsform zwischen einer Wohnnutzung und einem Beherbergungsbetrieb dar, wobei die schwerpunktmäßige Zuordnung von den konkreten Verhältnissen des Einzelfalls abhängt. Soweit eine solche Nutzung schwerpunktmäßig als Wohnen ohne die für einen Beherbergungsbetrieb typischen Dienstleistungsbereiche, wie etwa Speise- und Aufenthaltsräume mit zugehörigem Personalservice, erfolgt, liegt dies innerhalb der einer Wohnnutzung eigenen Variationsbreite (BayVGH, B.v. 22.1.2020 – 15 ZB 18.2547 – juris Rn. 8). Letztlich bestimmt das individuelle Nutzungskonzept unter Berücksichtigung der objektiven baulichen Verhältnisse über die Frage, ob in einem Boardinghouse gewohnt oder ein Gast beherbergt wird (Stock in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 150. EL 2023, § 4 Rn. 113a). Ausgehend davon erweckt die Internetanzeige insgesamt den Eindruck, dass die Überlassung der Räume eher als beherbergungsähnliche Nutzung beabsichtigt ist. Dafür spricht zunächst, dass es keine Mindestmietdauer gibt. Zwar fällt bei der Buchung von nur einer Woche eine Endreinigungsgebühr in Höhe von 15,00 EUR an. Dass die Räume auch nur für kürzere Zeit vermietet werden, ist jedoch nicht ausgeschlossen. Die Möglichkeit kurzer Mietzeiträume spricht gegen eine definitionsgemäß auf Dauer angelegte Wohnnutzung. Nach der ersten Internetanzeige (Bl. 4 ff. d. Verfahrensakte zur Nutzungsuntersagung) wird zudem ein Waschservice angeboten. Die beiden genannten Angebote zur Reinigung der Wäsche und Endreinigung der Zimmer sind typisch für einen Beherbergungsbetrieb. All dies spricht eher gegen eine schwerpunktmäßige Nutzung zu Wohnzwecken.
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Da für die neue Nutzung somit andere öffentlich-rechtliche Anforderungen in Betracht kommen, liegt auch keine Verfahrensfreiheit i.S.d. Art. 57 Abs. 4 Nr. 1 BayBO vor.
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(3) Die Antragsgegnerin hat das ihr in Art. 76 Satz 2 BayBO eingeräumte Ermessen auch in nicht zu beanstandender Weise ausgeübt. Da die Nutzungsuntersagung in erster Linie die Funktion hat, den Bauherrn auf das Genehmigungsverfahren zu verweisen, sind insoweit nur geringe Anforderungen zu stellen. Insbesondere muss grundsätzlich nicht geprüft werden, ob das Vorhaben materiell genehmigungsfähig ist (BayVGH, B.v. 27.7.2021 – 1 CS 21.153 – juris Rn. 10).
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Nur in besonderen Fällen, etwa bei einer offensichtlichen Genehmigungsfähigkeit, darf eine lediglich formell rechtswidrige Nutzung mit Blick auf das im Rahmen des behördlichen Ermessens zu berücksichtigende Übermaßverbot nicht untersagt werden. Nach Sinn und Zweck des Art. 76 Satz 2 BayBO ist die Bauaufsichtsbehörde jedoch nicht gehalten, nach den Maßstäben für ein Baugenehmigungsverfahren zu prüfen; es genügt vielmehr eine Offensichtlichkeitsprüfung. Eine solche offensichtliche Genehmigungsfähigkeit liegt hier schon deshalb nicht vor, weil das Vorhaben einen neuen Stellplatzbedarf auslöst (s.o.). Ob der durch das Vorhaben ausgelöste deutlich höhere Stellplatzbedarf auf dem Grundstück oder einem geeigneten Grundstück in der Nähe gedeckt werden kann, kann nicht zweifelsfrei im Sinne offensichtlicher Genehmigungsfähigkeit angenommen werden.
39
Die Antragsgegnerin hat im Bescheid auch deutlich gemacht, dass sie eine Ermessensentscheidung trifft und ihre Erwägungen in der Antragserwiderung (dort 2.4) in rechtlich unbedenklicher Weise näher dargelegt, § 114 Satz 2 VwGO. Sie hat erläutert, dass und aus welchen Gründen die Nutzungsuntersagung das einzige Mittel gewesen sei, um kurzfristig die rechtliche Ordnung wiederherzustellen. Dies genügt den für die Nutzungsuntersagung geringen Anforderungen an die Ermessensausübung. Die bestehenden zivilrechtlichen Verpflichtungen der Antragsteller hat sie – entgegen der Auffassung der Antragspartei – im Rahmen der Antragserwiderung ebenfalls in ihre Ermessenausübung eingestellt und plausibel ausgeführt, dass ihr diese mangels Äußerung der Antragsteller dazu zunächst nicht bewusst gewesen seien.
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bb) Die Zwangsgeldandrohung in Nr. 2. des Bescheids begegnet ebenfalls keinen Bedenken. Die Antragsgegnerin hat das Zwangsgeld in rechtlich nicht zu beanstandender Weise für den Fall der Nichterfüllung der Nr. 1. in Höhe von 500,00 EUR, und damit im unteren Bereich des vorgesehenen Rahmens, angedroht. Die Antragspartei hat diesbezüglich auch nichts vorgetragen.
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c) Es besteht auch ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der Nutzungsuntersagung. Die Begründung der Antragsgegnerin ist für die Anordnung des Sofortvollzugs ausreichend.
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Nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ist für die Anordnung des Sofortvollzugs ein besonderes Vollzugsinteresse erforderlich. Die Vollziehung des Verwaltungsakts muss wegen öffentlicher oder überwiegender privater Interessen besonders dringlich sein und keinen Aufschub bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens dulden (BayVGH, B.v. 23.8.2012 – 15 CS 12.130 – juris Rn. 12). Nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Nutzungsuntersagung in der Regel gerechtfertigt, wenn die Voraussetzungen des Art. 76 Satz 2 BayBO vorliegen (BayVGH, B.v. 5.10.2010 – 1 CS 10.1793 – juris Rn. 21).
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Im vorliegenden Fall ist keine Ausnahmesituation gegeben, die es rechtfertigen würde, zu einer anderen Einschätzung zu gelangen. Das Interesse der Antragsteller, das Gebäude vorläufig weiter als Boardinghouse zu nutzen, ist nur gering zu gewichten. Das Vorliegen zivilrechtlicher Verpflichtungen rechtfertigt es nicht, baurechtswidrige Zustände weiter zuzulassen, indem die Nutzung formell illegaler Anlagen hingenommen wird. Es besteht ein öffentliches Interesse daran, dass dem Bauherrn eines formell illegalen Vorhabens versagt wird, aus baurechtswidrigen Zuständen Früchte zu ziehen. Dies gilt insbesondere deshalb, weil dem Vorhaben eine erhebliche Bezugsfallwirkung für gleichgelagerte Fälle innewohnt. Es ist den Antragstellern zuzumuten, die Entscheidung über ihren Bauantrag abzuwarten. Dass der Antragsgegnerin die Nutzung als Boardinghouse womöglich schon seit längerem bekannt war, schließt ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der Nutzungsuntersagung ebenfalls nicht aus. Zum einen häuften sich die Nachbarschwerden nach den Akten in den Monaten und Wochen vor Erlass des streitgegenständlichen Bescheids, was eine erneute Befassung mit der Sache notwendig machte. Zum anderen hat die Antragsgegnerin dargelegt, dass sich die Parksituation und der Zustand der Straße zunehmend verschlechtert und Rettungskräfte im Notfall nicht zu den umliegenden Grundstücken gelangen. Die sofortige Untersagung der Nutzung durfte somit angeordnet werden.
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Nach alledem wird die Klage voraussichtlich erfolglos sein, sodass das Vollzugsinteresse das Aussetzungsinteresse der Antragsteller überwiegt.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, im Hinblick auf die Personenmehrheit auf Antragstellerseite zudem auf § 159 Satz 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs. Es erscheint angemessen, den für die Hauptsache anzunehmenden Streitwert von 5.000,00 EUR im Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes zu halbieren.