Titel:
Haftung des Eisenbahnverkehrsunternehmens wegen Verletzungen des Fahrgastes aufgrund eines nicht ausgefahrenen Trittbretts
Normenketten:
HPflG § 1 Abs. 1, § 4, § 12
BGB § 254, § 823
Fahrgastrechte-VO (Bahn) Art. 19 ff., Art. 26, Art. 28
VO (EU) 1302/2014 Anh.
Leitsätze:
1. Beim Aussteigen aus einer Schienenbahn handelt der Fahrgast ohne die gem. § 4 HPflG, § 254 BGB gebotene Sorgfalt, wenn er sich nicht vergewissert, wie die Verhältnisse beim Ausstieg sind; er hat sich auf Risiken beim Ausstieg einzustellen. Verfehlt der Fahrgast beim Aussteigen aus einem Schienenfahrzeug die Bahnsteigkante, so spricht bereits der erste Anschein für eine mangelnde Aufmerksamkeit. In einem solchen Fall können Ansprüche aufgrund eines ganz überwiegenden Eigenverschuldens ausgeschlossen sein. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. So liegt es, wenn der Fahrgast das Risiko eines Ausstiegs ohne ausgefahrene Einstiegshilfe (Trittbrett) aufgrund der Distanz zwischen Zug und Bahnsteigkante erkennt und nicht - wie geboten - die weiteren Personen im Zug, insbesondere Mitarbeiter des Eisenbahnverkehrsunternehmens, um Hilfe beim Aussteigen bittet. In einem solchen Fall tritt das grobe Eigenverschulden des Fahrgastes hinter die Betriebsgefahr der Bahn zurück. (Rn. 28 – 33) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Vorschriften der VO (EG) 1371/2007 sowie der VO (EU) 1300/2014 (TSI-PRM) führen in einem solchen Fall zu keiner Erhöhung der Betriebsgefahr der Bahn. (Rn. 34 – 56) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Eisenbahnunfall, Bahnunfall, Fahrgast, Einstiegshilfe, Trittbrett, Schadensersatz, Schmerzensgeld, Mitverschulden, Betriebsgefahr
Rechtsmittelinstanz:
OLG Bamberg vom -- – 5 U 148/23 e
Fundstellen:
RdTW 2024, 111
LSK 2023, 38910
BeckRS 2023, 38910
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
4. Der Streitwert wird auf 23.189,55 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten um Schmerzensgeld- und Schadenersatzansprüche im Zusammenhang mit dem Ausstieg aus einem Zug.
2
Die Klägerin fuhr am 30.01.2020, mit dem Zug aus Zürich kommend, mit Anschluss von Stuttgart nach Würzburg mit dem Zug der Beklagten, Zugnummer RE 19073, Ankunft am Würzburger Hauptbahnhof Gleis 1 um 14:20 Uhr.
3
Als der Zug an Gleis 1 beim Würzburger Hauptbahnhof anhielt, stand die Klägerin mit weiteren Personen vor der Ausstiegstür. Nachdem sich die Ausstiegstür öffnete, stand die Klägerin an erster Stelle. Die fahrzeuggebundene Einstiegshilfe (Trittbrett) fuhr nicht aus.
4
Die Klägerin sah die Distanz zwischen dem Ausstieg und dem Bahnsteig und wunderte sich noch über die erhebliche Distanz. Dabei dachte die Klägerin: „Da muss ich ja springen“. Die Klägerin fiel beim Aussteigen mit dem rechten Bein auf das Knie und geriet mit dem linken Bein zwischen Bahnsteinkante und Zug. Die Klägerin konnte ihr linkes Bein nicht mehr bewegen und herausziehen, der rechte Fuß war auf dem Bahnsteig, sie verlor das Gleichgewicht und fiel nach vorne.
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Die Spaltdistanz zwischen Wagen-Bahnsteig am Bahnhof Würzburg betrug am 30.01.2020 19 cm. Zu diesem Zeitpunkt betrug das Maß von der Schienenoberkante am Gleis zur Oberkante des Abdecksteins 760 mm. Hierbei handelte es sich um das Normmaß der DB bei den Bahnsteigen in Würzburg.
6
Die Klägerin behauptet:
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Die Klägerin habe durch den Sturz eine traumatische Knieverletzung mit Quetschung vom Unterschenkel, ein ausgeprägtes Hämatom bis zum Sprunggelenk, eine Innenbandläsion, eine ausgeprägte Knochenkontusion am lateralen Tibiakopf sowie eine laterale Femurkondyle anterior erlitten.
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Die von der Klägerin durchgeführten Taxifahrten im Zeitraum vom 02.02.2020 bis zum 26,06.2020 seien notwendig gewesen und allein dem Sturz geschuldet. Die Klägerin sei infolge des Sturzes auf eine Haushaltshilfe angewiesen gewesen und habe für die Monate Februar 2020 333 CHF und im März 2020 159,80 CHF gezahlt. Die Physio- und Osteopathiekosten seien aufgrund des Sturzes notwendig gewesen und hierfür seien 4.523,75 CHF angefallen.
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Die Klägerin ist der Ansicht, dass ihr nach § 1 HaftPflG ein Anspruch auf Schmerzensgeld und Schadenersatz zusteht. Weiter meint die Klägerin, dass sich aus Art. 26 der Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 in Verbindung mit Art. 28 der Verordnung sowie der TSI PRM Ziffer 4.2.12.4 sowie der Verordnung EU Nr. 1302/2014 in Ziffer 4.2.5.5.6 eine Haftung der Beklagten ergäbe und wegen des nicht ausgefahrenen Trittbrettes ein Mitverschulden nicht in Betracht kommt.
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Die Klägerin beantragt zuletzt,
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin wegen des Schadens vom 30.01.2020 ein Schmerzensgeld in Höhe von € 12.000,00 zu bezahlen nebst Zinsen in Höhe von 5 %- Punkten über dem Basiszinssatz seit 02.02.2022.
2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin einen zukünftigen materiellen und immateriellen Schaden aus dem Unfallereignis vom 30.01.2020 zu bezahlen, soweit die Ansprüche nicht auf Dritte oder Sozialversicherungsträger übergegangen sind.
3. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Kosten wie folgt zu erstatten.
- Taxikosten vom 02.02.2020 bis 27.06.2022 CHF 945,80;
- Für eine Haushaltshilfe in den Monaten Februar und März 2020 über CHF 492,80 – Eigenbeteiligungen bei Medikamenten und ärztlichen Behandlungen CHF 4.523,75.
4. Die Beklagte wird verurteilt an die Klägerin außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von € 1.398,25 zu bezahlen.
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Die Beklagte beantragt zuletzt,
Die Klage wird abgewiesen.
12
Die Beklagte bestreitet mit Nichtwissen, dass die Klägerin in Folge des Sturzes eine Ruptur des Innenbandes und eine Knieverletzung in Höhe des Tibiakopfes erlitten habe.
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Die Beklagte ist der Ansicht, dass die Spaltdistanz im Sinne des TSI PRM ausreichend gewesen sei. Auf das Ausfahren des Trittbrettes kommt es nach diesen Normen auch nicht an. Weiter sei von einem überwiegenden Eigenverschulden der Klägerin auszugehen.
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Hinsichtlich des beiderseitigen Parteivorbringens im Übrigen wird Bezug genommen auf das schriftsätzliche Vorbringen sowie die Protokolle der mündlichen Verhandlungen vom 20.02.2023 sowie 16.08.2023.
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Nach Schluss der mündlichen Verhandlung ist am 18.08.2023 ein Schriftsatz der Beklagten und am 20.09.2023 ein Schriftsatz der Klägerin bei Gericht eingegangen.
Entscheidungsgründe
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Die Klägerin hat im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Ereignis keine Schadenersatz- oder Schmerzensgeldansprüche.
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Die Klägerin hat keinen Anspruch aus § 1 Abs. 1 HaftPflG.
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Zwar liegt ein dem Grunde nach haftungsbegründender Unfall im Sinne dieser Vorschrift vor, weil die Klägerin unmittelbar beim Aussteigen aus dem Zug gestürzt ist (vgl. BeckOGK/M. Vogeler, 1.5.2023, HPflG § 1 Rn. 60).
19
Allerdings ist die Haftung wegen eines überwiegenden Eigenverschuldens der Klägerin beim Aussteigen gemäß §§ 4 HaftPflG, 254 BGB ausgeschlossen.
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In Übereinstimmung mit den Grundsätzen zur Anrechnung eines Mitverschuldens (1.), tritt die Gefährdungshaftung der Beklagten hinter das grob-verkehrswidrige Verhalten der Klägerin beim Aussteigen zurück (2.). Die Vorschriften im Zusammenhang mit der Verordnung EU-VO (EG) 1371/2007, insbesondere Art. 26, 19 ff., erhöhen nicht die Betriebsgefahr der Bahn (3.). Weiteren Beweisangeboten war nicht nachzugehen (4.). Das Gericht macht von der Möglichkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens keinen Gebrauch (5.).
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1.§ 254 Abs. 1 BGB lässt die Berücksichtigung des Mitverschuldens des Geschädigten zu. Danach ist der Geschädigte mitverantwortlich, wenn er bei der Entstehung des Schadens in zurechenbarer Weise mitgewirkt hat.
22
Hierfür bedarf es zunächst einer schuldhaften und ursächlichen Sorgfaltsverletzung (sog. „Verschulden gegen sich selbst“). Sorgfalt meint die jedem ordentlichen und verständigen Menschen obliegende Sorgfalt, um sich vor Schaden zu bewahren (Grüneberg/Grüneberg, Bürgerliches Gesetzbuch, 82. Aufl. 2023, BGB § 254 Rn. 8; BeckOGK/M. Vogeler, 1.5.2023, HPflG § 4 Rn. 6). Diese muss vorsätzlich oder fahrlässig verletzt worden sein, wobei Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit vorliegen müssen (vgl. Grüneberg/Grüneberg, BGB § 254 Rn. 9).
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In einem zweiten Schritt bedarf es einer umfassenden Abwägung, wobei es vorrangig auf die Verursachung, zweitrangig auf das Verschulden und drittrangig auf weitere Umstände ankommt (vgl. Grüneberg/Grüneberg, BGB § 254 Rn. 57 ff.).
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Im Rahmen dieser Abwägung ist auch die Betriebsgefahr der Bahn zu berücksichtigen. Im Hinblick auf eine mitwirkende Betriebsgefahr ist daher stets festzustellen, wie sich diese konkret auf die Art und die Schwere des Schadens ausgewirkt hat (konkrete Betriebsgefahr). Durch besondere Umstände kann die allgemeine Betriebsgefahr erhöht sein, was bei der Schadensteilung mit zu berücksichtigen ist (erhöhte Betriebsgefahr). (BeckOGK/M. Vogeler, 1.5.2023, HPflG § 4 Rn. 22)
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Allein durch leichte Fahrlässigkeit wird die Gefährdungshaftung nicht ausgeschlossen; etwas anderes gilt jedoch grundsätzlich im Falle eines grob fahrlässigen bzw. grob verkehrswidrigen Verhaltens des Geschädigten (BeckOGK/M. Vogeler, 1.5.2023, HPflG § 4 Rn. 23).
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Beim Aussteigen handelt der Fahrgast ohne die gebotene Sorgfalt, wenn er sich nicht vergewissert, wie die Verhältnisse beim Ausstieg sind; er hat sich auf Risiken beim Ausstieg einzustellen. Verfehlt der Fahrgast beim Aussteigen aus einem Schienenfahrzeug die Bahnsteigkante, so spricht bereits der erste Anschein für eine mangelnde Aufmerksamkeit. In einem solchen Fall können Ansprüche aufgrund eines ganz überwiegenden Eigenverschuldens ausgeschlossen sein (BeckOGK/M. Vogeler, 1.5.2023, HPflG § 4 Rn. 24).
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2. Zur Überzeugung des Gerichts steht eine grob verkehrswidrige Sorgfaltsverletzung der Klägerin fest (a). Die allgemeine Betriebsgefahr der Bahn tritt nach umfassender Abwägung aller Umstände des Einzelfalles hinter diese Sorgfaltsverletzung zurück (b).
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a) Die Klägerin hat sich auf die Risiken beim Ausstieg nicht ausreichend eingestellt. Das Risiko eines Ausstiegs ohne ausgefahrene Einstiegshilfe (Trittbrett) war für die Klägerin erkennbar und sie hätte den Sturz sowie dessen Verletzungsfolgen durch umsichtiges Verhalten verhindern können.
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Im konkreten Fall hat die Klägerin die Distanz zwischen Zug und Bahnsteigkante erkannt und gesehen. Sie wunderte sich über die erhebliche Distanz und ging sogar davon aus, dass sie springen muss. Trotz dieser Umstände und trotz dieses erkannten Risikos, versuchte die Klägerin aus dem Zug auszusteigen. Die Klägerin hätte den Sturz ohne weiteres vermeiden können, wenn sie die weiteren Personen im Zug, insbesondere den Zugpersonenbegleiter und den Fahrkartenkontrolleur mit dessen Assistentin, um Hilfe beim Aussteigen gebeten hätte.
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Ein verständiger Mensch würde in dieser Situation um Hilfe ersuchen, um Schaden von sich abzuwenden. Es stellt ein grob verkehrswidriges Eigenverschulden gegen sich selbst dar, in einer derartigen Situation nicht um Hilfe zu bitten. Dieses grob verkehrswidrige Verhalten wird dadurch verstärkt, dass die Klägerin die – aus ihrer Sicht – bestehende Gefahrensituation bemerkt hat und entgegen ihrer eigenen Gedanken ohne Hilfe auszusteigen versucht hat.
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b) Die weit überwiegende Verursachung der Verletzungen ist auf das Verhalten der Klägerin zurückzuführen. Ohne das grob fahrlässige Verhalten der Klägerin wäre es nicht zu den Verletzungsfolgen gekommen.
32
Ein besonderes über die allgemeine Betriebsgefahr hinausgehenden Verursachungsbeitrages oder Verschuldens der Beklagten liegt nicht vor. Die Bahn machte am Würzburger Bahnhof, Gleis 1, einen planmäßigen halt. Die Klägerin hatte die Möglichkeit aus dem stehenden Zug auszusteigen. Die Klägerin hat freiwillig den Zug zu verlassen versucht, eine besondere körperliche oder psychische Bedrängnis durch die dahinterstehenden Gäste gab es nicht.
33
Die nichtausgefahrene Einstiegshilfe (Trittbrett) erhöht die Betriebsgefahr gerade nicht (siehe dazu sogleich, Ziffer 3). Doch selbst wenn man hier einen gewissen Verursachungsbeitrag ansehen möchte, so überwiegt immer noch das grobe Eigenverschulden der Klägerin. Insofern ist von einem minimalen Verursachungsbeitrag von höchstens 5% auszugehen, weshalb das Eigenverschulden der Klägerin mit mindestens 95% weiterhin überwiegt.
34
3. Die Vorschriften der EU-VO (EG) 1371/2007 führen zu keiner Erhöhung der Betriebsgefahr der Bahn, insbesondere weil durch das Nichtausfahren der Einstiegshilfe keine allgemeinen Verkehrspflichten verletzt worden sind. Auf möglicherweise besondere Schutzvorschriften kann sich die Klägerin nicht berufen. Mangels Verletzung europarechtlicher Vorschriften bedarf es somit auch keiner europarechtskonformen Auslegung von § 254 BGB.
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Art. 26 VO (EG) 1371/2007 trifft keine Aussage zu einem etwaigen Ausfahren der Einstiegshilfe (Trittbrett) und stellt darüber hinaus auch keine drittschützende Norm dar, weshalb sich die Klägerin hierauf nicht berufen kann (a).
36
Unabhängig vom möglichen drittschützenden Charakter der Art. 19 ff. VO (EG) 1371/2007, kann sich die Klägerin nicht auf diese Vorschriften in Verbindung mit der VO (EU) 1300/2014 (TSI-PRM) berufen, weil die Klägerin weder eine Behinderung noch eine generell eingeschränkte Mobilität vorgetragen hat (b).
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Darüber hinaus ist ein Verstoß gegen die technischen Vorgaben im Zusammenhang mit VO (EG) 1371/2007 sowie VO (EU) 1300/2014 nicht behauptet und nicht ersichtlich (c).
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Auf Ziffer 4.2.5.5.6 des Anhangs zur VO (EU) 1302/2014 kommt es ebenfalls nicht an, da diese Norm die Betriebsgefahr nicht erhöht und jedenfalls nicht drittschützend ist (d).
39
a)aa) Art. 26 VO (EG) 1371/2007 stellt nach dessen Wortlaut zunächst einen Auftrag an die Bahnbetreiber dar. Danach sollen geeignete Maßnahmen zur persönlichen Sicherheit der Fahrgäste in den Bahnhöfen sowie in den Zügen gewährleistet sein.
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Aufgrund dieser klaren Formulierung ist hier von einem allgemeinen Auftrag im Sinne eines öffentlichen Interesses auszugehen. Ein individualschützender Charakter lässt sich nicht ableiten. Zwar ergibt sich aus der redaktionellen Überschrift „Persönliche Sicherheit der Fahrgäste“, dass entsprechende Vorgaben den Fahrgästen zugute kommen sollen. Allerdings findet sich die Vorschrift in Kapitel VI unter „Sicherheit, Beschwerden und Qualität der Verkehrsdienste“. Daraus kann abgeleitet werden, dass es sich um einen generellen Auftrag an die Bahnbetreiber handelt, welcher im Zusammenwirken mit den Behörden ausgefüllt werden muss. Konkrete Vorgaben lassen sich insoweit aus dieser Vorschrift nicht ableiten.
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Darüber hinaus spricht auch Art. 27 VO (EG) 1371/2007 dagegen, dass hier ein individualschützender Charakter gewollt ist. Zwar können sich Fahrgäste über bestimmte Zustände beschweren. Dennoch erfolgt eine mögliche Anpassung sowie Verbesserung der Qualität und Sicherheit erst in einem zweiten Schritt durch Zusammenwirken aller beteiligten Akteure.
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bb) Hiernach liegt schon kein Verstoß gegen Art. 26 VO (EG) 1371/2007 vor. Entgegen der Rechtsansicht der Klägerin lassen sich aus dieser Vorschrift allein keine Anforderungen an das Ausfahren einer Einstiegshilfe herleiten. In jedem Fall vermag diese Vorschrift die Betriebsgefahr der Beklagten nicht zu erhöhen.
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b)aa) Art. 19 ff. VO (EG) 1371/2007 regeln, dass Fahrgäste mit Behinderung oder eingeschränkter Mobilität Anspruch auf Beförderung und Hilfeleistungen haben.
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Nach Art. 21 Abs. 1 VO (EG) 1371/2007 haben die Eisenbahnunternehmen und Bahnhofsbetreiber durch Einhaltung der TSI PRM (VO 1300/2014) dafür zu sorgen, dass für so eben benannte Personengruppen unter anderem die Bahnsteige und Fahrzeuge zugänglich sind.
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Bereits aus Artikel 1 der TSI PRM ergibt sich, dass die dort getroffenen Vorgaben tatsächlich drittschützend sein können.
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Konkret sind in der Ziffer 4.2.2.11.1 der Anlage zur TSI-PRM die allgemeinen Anforderungen an die Position von Stufen zum Ein- und Ausstieg geregelt. Aus der Vorbemerkung zu Tabelle 9 in Verbindung mit Tabelle 7 ergibt sich, dass der Abstand zwischen Position der Stufe und Bahnsteig, im Falle einer Bahnsteighöhe von 760 m, 200 mm (20 cm) betragen muss.
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In Ziffer 4.2.2.12 sowie 4.2.2.12.1 ist geregelt, dass das Verbauen von beweglichen Trittstufen im Sinne einer Einstiegshilfe möglich ist und der jeweilige Bahnbetreiber auch eine andere Möglichkeit im Rahmen des TSI PRM nutzen kann.
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bb) Im vorliegenden Fall kann ein – möglicher – Verstoß gegen die TSI-PRM keine Auswirkungen auf den Verursachungsbeitrag der Beklagten haben. Diese Vorschriften dienen lediglich dem Schutz von Menschen mit Behinderung oder eingeschränkter Mobilität. Insofern kann sich die Klägerin auf diese Normen bereits nicht berufen, weil sie vom persönlichen Schutzbereich dieser Norm nicht umfasst ist.
49
Weiter erhöhen die Vorgaben der TSI-PRM nicht generell die Sorgfaltsanforderungen der Beklagten. Eine zum Schutz bestimmter Personengruppen getroffene Regelung kann die generellen Sorgfaltspflichten gegenüber nicht erfassten Personen nicht verschärfen oder erhöhen.
50
Demnach kann das Nichtausfahren der Einstiegshilfe bereits dem Grunde nach nicht zu einer Erhöhung der Betriebsgefahr gegenüber der Klägerin führen. Das Nichtausfahren der Einstiegshilfe ist insoweit haftungsrechtlich irrelevant.
51
c) Im konkreten Fall hat die Klägerin nicht einmal die Verletzung der technischen Vorschriften der TSI-PRM behauptet. Es wurde lediglich behauptet, dass die Spaltdifferenz betreffend den Würzburger Hauptbahnhof nicht ausreichend gewesen wäre.
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Auf das kommt es hier jedoch gerade nicht an. Unstreitig ist der Abstand von 20 cm eingehalten worden. Somit wurden sogar die Vorgaben der TSI-PRM eingehalten, auf die es jedoch ohnehin nicht ankommt, weil die Klägerin vom Schutzbereich nicht umfasst ist. Weitere oder strengere Vorgaben sind weder vorgetragen, noch ersichtlich.
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d)aa) In Ziffer 4.2.5.5.6 Abs. 4 der Anlage zur VO (EU) 1302/2014 findet sich eine Regelung zum Ausfahren einer beweglichen Stufe. Diese Norm greift dann, wenn eine bewegliche Stufe ausgefahren werden muss. Ist dies der Fall, muss diese beim Öffnen der Tür automatisch ausfahren.
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bb) Zunächst ergibt sich bereits aus Art. 1 der VO (EU) 1302/2014 sowie den Vorbemerkungen hierzu, dass es sich um keine individualschützende Norm handelt. Diese Verordnung enthält lediglich technische Spezifikationen für die Interoperabilität des Bahnverkehrs.
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Technische Vorgaben sind nicht generell drittschützend. Ein derartiger besonderer gesetzgeberischer Wille ist nicht erkennbar und auch nicht gegeben.
56
Unabhängig davon ist die Norm auch nicht verletzt. Gegenüber der Klägerin muss die Einstiegshilfe nicht ausgefahren werden, weil sie nicht in den Schutzbereich der TSI-PRM fällt. Insofern fehlt es bereits an einem Tatbestandsmerkmal der Norm, weshalb die – in diesem konkreten Fall – nicht automatisch ausgefahrene Einstiegshilfe auch insoweit zu keiner Erhöhung der Betriebsgefahr führen kann.
57
4. Es bedurfte keiner Inaugenscheinnahme des Bahnsteiges. Zum einen halten die Züge der Beklagten nicht mehr am Gleis 1, sondern am Gleis 2 des Würzburger Hauptbahnhofs. Des weiteren hat die Klägerin die von der TSI-PRM einzuhaltenden Entfernungen und Distanzen nicht bestritten. Wie bereits erläutert greift der Einwand einer Unangemessenheit im Einzelfall nicht ein. Da die TSI-PRM in diesem Fall keine Auswirkungen hat und besondere Vorschriften für etwaige Abstände nicht bestehen, sind die Abstände letztlich vollkommen irrelevant und haben keinerlei Auswirkungen auf die Betriebsgefahr der Beklagten.
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5. Von einem Vorabentscheidungsverfahren wird abgesehen, insbesondere weil die betreffenden europäischen Vorschriften in diesem Fall bereits nicht einschlägig sind.
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6. Aufgrund des haftungsausschließenden Mitverschuldens kommt es auf die Ursächlichkeit der Verletzungsfolgen sowie die Ersatzfähigkeit etwaiger Schäden nicht an.
60
Die Klägerin hat keinen Anspruch aus §§ 12 HaftPflG, 823 Abs. 1 BGB.
61
Es fehlt bereits an einem behaupteten Verschulden der Beklagten. Das Nichtausfahren einer Einstiegshilfe alleine reicht nicht aus.
62
Darüber hinaus schließt das überwiegende Eigeneverschulden gemäß § 254 Abs. 1 BGB auch die Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB aus.
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Mangels einer Haftungsgrundlage kann auch keine Feststellung der Ersatzfähigkeit künftiger Schäden begehrt werden.
64
Mangels Hauptanspruchs können keine vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten und keine Zinsen verlangt werden.
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Die Kostenentscheidung ergeht nach § 91 ZPO.
66
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeht nach § 709 S. 1, 2 ZPO.
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Der Streitwert ist gemäß § 63 GKG auf 23.189,55 € festzusetzen.
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Dies ergibt sich zunächst daraus, dass der Schmerzensgeldantrag mit 12.000 € und der Streitwert des Feststellungsantrages gemäß § 52 Abs. 2 GKG mit 5.000 € zu bemessen sind. Die Forderungen aus Ziffer 3 der Klageanträge sind von schweizerischen Franken in Euro umzurechnen. Zum 16.08.2023 ergab sich ein Wechselkurs von 1 CHF zu 1.04 €, was einem Wert von 6.189,55 € entspricht.
69
Es bestand kein Anlass gemäß § 156 ZPO erneut in die mündliche Verhandlung einzutreten.
70
§ 156 Abs. 2 ZPO, insbesondere Nr. 1, sind nicht erfüllt. Das Gericht hat ausführlich auf die Möglichkeit eines überwiegenden Eigenverschuldens hingewiesen und der Klägerin Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
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Der Schriftsatz der Beklagten vom 18.08.2023 gab keinen Anlass wieder in die mündliche Verhandlung einzutreten, weil hier lediglich Rechtsausführungen getätigt worden sind.
72
Der Schriftsatz der Klägerin vom 20.09.2023 gab keinen Anlass wieder in die mündliche Verhandlung einzutreten, weil es sich bei den entscheidungserheblichen Ausführungen zur Frage des Mitverschuldens lediglich um Rechtsausführungen handelte. Die weiteren Ausführungen und Beweisangebote zu den möglichen Folgen des Sturzes sind mangels bestehenden Haftungsgrundes nicht entscheidungserheblich.