Inhalt

LG München II, Beschluss v. 20.11.2023 – 12 T 2214/23
Titel:

Wohnraummiete: befristete Einstellung einer Räumungsvollstreckung bei konkreter Lebensgefahr des Schuldners wegen schwerer Erkrankung – keine unbefristete Einstellung bei nicht auszuschließender Gesundheitsverbesserung oder Möglichkeiten des Schuldners zur Mitwirkung an Hilfestellungen zu einem Umzug

Normenketten:
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1
ZPO § 765a Abs. 1 S. 1, § 788 Abs. 1
Leitsätze:
1. § 765a ZPO ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen und bei seiner Anwendung hat eine Interessenabwägung stattzufinden. Eine bei dieser Abwägung zu berücksichtigende, mit den guten Sitten unvereinbare Härte kann vorliegen, wenn die Zwangsvollstreckung zu einer konkreten Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners führt oder der Schuldner an einer Erkrankung leidet und die Fortsetzung des Zwangsversteigerungsverfahrens eine Verschlechterung des Gesundheitszustands und als deren Folge eine Gefahr für sein Leben oder schwerwiegende gesundheitliche Risiken erwarten lässt. Die Zwangsvollstreckung ist dann zumindest zeitweilig einzustellen. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nur in absoluten Ausnahmefällen kann die Einstellung der Zwangsvollstreckung auch unbegrenzt erfolgen. Ein solcher Ausnahmefall kann zu verneinen sein, wenn nicht völlig auszuschließen ist, dass eine schwere Krankheit gestoppt werden kann und sich der Gesundheitszustand des Schuldners wieder verbessert, oder wenn dem Schuldner zuzumuten ist, sich um sachverständig für erforderlich geachtete Hilfestellungen zu bemühen, um einen Umzug zu organisieren, gegebenenfalls in betreutes Wohnen. (Rn. 29 – 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Räumungsvollstreckung, Räumungsschutz, Lebensgefahr, Härtefall, Sachverständigengutachten, Interessenabwägung, befristete Einstellung, unbefristete Einstellung, absoluter Ausnahmefall, nicht auszuschließende Genesung, mögliche Mitwirkung an Hilfestellungen
Vorinstanz:
AG Fürstenfeldbruck, Beschluss vom 31.05.2023 – 1 M 635/23
Fundstellen:
LSK 2023, 38805
BeckRS 2023, 38805
ZMR 2024, 444

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde der Schuldnerin hin wird der Beschluss des Amtsgerichts Fürstenfeldbruck vom 31.05.2023, Az. 1 M 635/23, dahingehend abgeändert, dass die Zwangsvollstreckung aus dem Vergleich des Landgerichts München II vom 17.05.2022 Az. 12 S 4500/21 hinsichtlich Ziffer 1 und 2 bis einschließlich 31.10.2024 einstweilen eingestellt wird.
2. Im Übrigen bleibt der Beschluss des Amtsgerichts Fürstenfeldbruck unverändert und wird die Beschwerde zurückgewiesen.
3. Die Schuldnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
4. Der Beschwerdewert wird auf 7.800,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Zwischen den Parteien wurde am 17.05.2022 im Verfahren 12 S 4500/21 vor dem Landgericht München II ein Vergleich geschlossen, in dem sich die Parteien dahingehend einigten, dass das Mietverhältnis über die von der Schuldnerin bewohnte Wohnung des Anwesens T1. straße 14 in 8... G. spätestens zum einen 30.12.2022 endet (Ziffer 1) und die Schuldnerin die Wohnung spätestens bis zu diesem Zeitpunkt vollständig geräumt an die Klägerin herauszugeben hat (Ziffer 2). In Ziffer 3 des Vergleichs verzichtete die Schuldnerin auf Räumungsschutz, soweit gesetzlich zulässig.
2
Durch Gerichtsvollzieherin K. wurde unter dem Aktenzeichen D 2 ER II 12/23 Räumungstermin auf 07.03.2023 anberaumt.
3
Mit Schreiben vom 22.02.2023, eingegangen beim Amtsgericht Fürstenfeldbruck am gleichen Tag, stellte die Schuldnerin Antrag auf Vollstreckungsschutz gemäß § 765 a ZPO, mit dem Antrag, die Zwangsvollstreckung aus dem Vergleich des Landgerichts München II vom 17.05.2022, Az. 12 S 4500/21, hinsichtlich des Räumungs- und Herausgabeanspruchs (Ziff. 1-3) unbefristet zu untersagen, die Zwangsvollstreckung bis zur Entscheidung einstweilen einzustellen sowie die Kosten den Antragsgegnern aufzuerlegen gemäß 788 Abs. 3 ZPO. In dem Antrag wurde ausgeführt, dass die Schuldnerin nach dem Räumungsvergleich im Juni 2023 mit einer Lungenembolie und Pneumothorax bei akuter Lebensgefahr mit einem Rettungswagen in das Krankenhaus auf die Intensivstation eingeliefert worden sei, wo sie künstlich habe beatmet werden müssen. Anlässlich der medizinischen Untersuchungen hätten die Ärzte festgestellt, dass die Schuldnerin schwer und unheilbar an Krebs im fortgeschrittenem Stadium erkrankt sei. Es sei ein Ovarialkarzinom (Eierstockkrebs) festgestellt worden, das sich bereits in der Bauchhöhle und der Brusthöhle ausgebreitet gehabt habe. Dieses habe bereits gestreut und Metastasen an Zwerchfell, Leber und Milz gebildet. Das Ovarialkarzinom sei inoperabel. Die Lebenserwartung der Antragstellerin betrage nur noch wenige Monate, im günstigsten Fall 1 bis 2 Jahre. Die Schuldnerin sei aufgrund ihrer schweren Krankheit mit zahlreichen langen Krankenhausaufenthalten nicht in der Lage gewesen, sich um eine neue Wohnung zu kümmern. Durch eine Zwangsräumung drohe nicht nur eine gravierende Verschlechterung des Gesundheitszustandes, sondern sogar akute Lebensgefahr. Allein der Stress durch die Zwangsräumung und anschließende Einweisung in ein Obdachlosenasyl würde bei der Schuldnerin, die einen stark reduzierten Gesundheitszustand bei eingeschränkter respiratorischer Kapazität aufweise, die Gefahr von zunehmenden Pleuraergüssen, Tumoranämie und der kurzfristige Tod drohen. Auch durch die sehr hohe Infektanfälligkeit aufgrund der laufenden Chemotherapie drohe die schnelle und erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes bis hin zum schnellen Tod. Die Antragstellerin sei daher absolut räumungsunfähig.
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Ein weiterer eigenständiger Härtegrund liege auch darin begründet, dass die Antragstellerin ohnehin nur noch wenige Monate oder im günstigsten Fall 1 bis 2 Jahre zu leben habe und ihr daher ein Zwischenumzug nicht mehr zugemutet werden könne.
5
Durch Beschluss des Amtsgerichts Fürstenfeldbruck vom 27.02.2023 wurde der Schuldnerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt bezüglich der Versäumung der Frist des § 765 Abs. 3 ZPO und die Zwangsvollstreckung aus dem Räumungsvergleich des Landgerichts München II vom 17.05.2022 einstweilen eingestellt. Mit weiteren Beschluss des Amtsgerichts Fürstenfeldbruck vom 16.03.2023 wurde ein Gutachten zu der Frage in Auftrag gegeben, inwieweit die bestehende Krebserkrankung und der damit verbundene körperliche Zustand einer Zwangsräumung aus der streitgegenständlichen Wohnung entgegensteht und ob den etwaigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen aufgrund der Zwangsräumung durch Hilfestellungen beispielsweise durch eine Betreuung oder durch stationären Aufenthalt in einer Fachklinik begegnet werden könne. Mit der Erstellung des Gutachtens wurde Prof. Dr. med. K. beauftragt, der sein wissenschaftliches Gutachten, auf das verwiesen wird, am 30.04.2023 erstattete.
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Durch Beschluss des Amtsgerichts Fürstenfeldbruck vom 31.05.2023 wurde daraufhin die Zwangsvollstreckung aus dem Vergleich des Landgerichts München II vom 17.05.2022 bis einschließlich 31.12.2023 hinsichtlich Ziffer 1 und 2 einstweilen eingestellt und die darüber hinausgehenden Anträge der Schuldnerin zurückgewiesen. Das Amtsgericht führt in seinem Beschluss aus, dass das eingeholte Sachverständigengutachten bestätige, dass die Schuldnerin aufgrund der Krebserkrankung und weiterer bestehender Erkrankungen in ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit massiv eingeschränkt sei. Laut dem Gutachten würde sich eine Zwangsräumung sehr negativ auf den gesamten Gesundheitszustand bis hin zu einer Lebensgefahr auswirken. Weiter werde aber ebenfalls im Gutachten ausgeführt, dass sich ein voll organisierter Umzug bei entsprechender ärztlicher Begleitung in eine Wohnung, die der Schuldnerin eine bessere Wohnsituation biete, positiv auf die Schuldnerin auswirken könne. Von der Schuldnerin könne erwartet werden, dass sie alles Zumutbare unternehme, um Gefahren für Leben und Gesundheit, die eine Zwangsräumung mit sich bringe, möglichst auszuschließen. Es könne daher von der Schuldnerin erwartet werden, dass sie sich um Hilfe, zum Beispiel in Form einer Betreuung, bemühe, um eine Wohnung zu finden, die für sie zu einer besseren Wohnsituation führe. Die Schuldnerin sei anwaltlich vertreten, so dass sie bei der Einrichtung einer Betreuung nicht auf sich allein gestellt sei. Es sei der Schuldnerin daher ausreichend Zeit zur Verfügung zu stellen gewesen, um sich Hilfe für den Umzug zu organisieren. Für eine unbefristete Einstellung der Zwangsvollstreckung biete das vorliegende Gutachten keine Grundlage, so dass dieser Antrag zurückzuweisen gewesen sei.
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Darüber hinaus sei der Antrag, die Kosten des Verfahrens dem Gläubiger aufzuerlegen, zurückzuweisen gewesen. § 788 Abs. 3 ZPO sei hier nicht anwendbar. Wenn überhaupt, könnten die Kosten den Gläubigern gem. § 788 Abs. 4 ZPO auferlegt werden. Die Kosten des Verfahrens nach § 765 a ZPO würden zu den Kosten der Zwangsvollstreckung gehören. § 788 Abs. 4 ZPO sei die Ausnahme von der Regel des Abs. 1. Es sei daher vom Grundsatz der Kostentragungspflicht des Schuldners auszugehen und hiervon abzuweichen, wenn und soweit dies aus besonderen in dem Verhalten des Gläubigers liegenden Gründen der Billigkeit entspreche. Dazu genüge nicht, dass der Gläubiger mit einem Verfahren nach § 765 a ZPO hätte rechnen können, vielmehr müsse der Erfolg des Vollstreckungsschutzantrages auf dem Verhalten des Gläubigers beruhen. In den Vollstreckungsschutzfällen könne ein besonderer Grund, der zur Billigkeitshaftung des Gläubigers führe, dann angenommen werden, wenn der Gläubiger auf einer offensichtlich aussichtslosen Vollstreckungsmaßnahme beharre, obwohl er erkenne, dass sie der Schutzbedürftigkeit und Schutzwürdigkeit des Schuldners zuwider laufe. Vorliegend habe der Gläubiger lediglich versucht, seinen titulierten Räumungsanspruch durchzusetzen. Ein Beharren auf einer offensichtlich aussichtslosen Vollstreckungsmaßnahme liege nicht vor. Es würden daher keine im Verhalten der Gläubiger liegenden Gründe vorliegen, die eine Kostenauferlegung gemäß § 788 Abs. 4 ZPO rechtfertigen würden.
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Gegen diesen Beschluss legte die Schuldnerin mit Schriftsatz vom 19.06.2023 sofortige Beschwerde ein, der durch Beschluss des Amtsgerichts Fürstenfeldbruck vom 22.06.2023 nicht abgeholfen wurde. Zur Begründung der sofortigen Beschwerde wird ausgeführt, dass das Amtsgericht zu Unrecht eine nur befristete Einstellung der Zwangsvollstreckung ausgesprochen habe. Die Einstellung der Zwangsvollstreckung sei auf unbestimmte Zeit auszusprechen. Der Beschluss des Amtsgerichts gehe von falschen Annahmen aus und verkenne die akute Lebensgefahr. Er sei jedoch auch durch die aktuelle zwischenzeitliche Entwicklung überholt, die nach der Begutachtung durch den medizinischen Sachverständigen Professor Dr. med. K. vom 05.04.2023 eingetreten sei. Es sei zu einer wesentlichen und deutlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Antragstellerin gekommen. Zum Beweis hierfür wird ein klinischer Befund des ... Klinikums Klinik und Poliklinik für Radiologie vom 29.06.2023 vorgelegt, auf den Bezug genommen wird. Hiernach seien mehrere neue Tumore hinzugekommen und die bestehenden Tumore hätten sich zum Teil vergrößert. So sei ein neuer Tumor an der Milz, eine hypodense Raumforderung am Milzhilius und Lymphknotenmetastasen neu hinzugekommen. Weiterhin hätten sich die bestehenden Tumore vergrößert. Insgesamt habe sich der gesundheitliche Allgemeinzustand der Schuldnerin durch den fortschreitenden Krebs seit der Begutachtung durch den Sachverständigen Prof. Dr. K. im April 2023 stark verschlechtert, so dass in jedem Falle akute Lebensgefahr und Todesgefahr drohe, wenn die Antragstellerin ihre Wohnung verlassen bzw. räumen müsse. Die Antragstellerin würde sterben, wenn sie geräumt werde, sie werde die Räumung nicht überleben. Die Wahrscheinlichkeit der akuten Lebens- und Todesgefahr sei seit April 2023 stark angestiegen, bis zu einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit oder an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Dies gelte auch im Falle einer Hilfestellung. Die Todesgefahr drohe durch die mit der Organisation und Durchführung des Umzugs verbundenen Belastungen selbst und die mit der Umstellung auf eine neue Unterkunft verbundenen Belastungen.
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Das Gutachten von Professor Dr. K. trage nicht die Feststellungen des Amtsgerichts, wonach keine Lebensgefahr drohe bzw. die Todesgefahr durch eine Hilfestellung beim Umzug ausgeräumt sei.
10
Schließlich gehe das Amtsgericht von falschen Annahmen aus, da die Schuldnerin keinerlei Helfer oder Freunde habe, die bei der Organisation des Umzugs helfen oder diese unterstützen könnten. Die Schuldnerin könne auch kein Umzugsunternehmen bezahlen, da sie über keinerlei Mittel verfüge. Es bestehe keinerlei Hilfestellung.
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Auch wenn die Einstellung der Zwangsvollstreckung auf unbestimmte Zeit den Ausnahmefall darstelle, so liege genau ein solcher Ausnahmefall hier vor. Ein solcher Ausnahmefall sei denkbar, wenn der Härtegrund mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu beheben sei. So liege der Fall hier. Die Erkrankung der Antragstellerin sei nicht heilbar, sie werde fortschreiten.
12
Mit Schriftsatz vom 14.11.2023 wurde ein weiteres Attest des Hausarztes Dr. med. T2. vom 18.10.2023 nachgereicht, auf das ebenfalls Bezug genommen wird.
II.
13
1. Die sofortige Beschwerde ist gemäß § 793 ZPO statthaft und im Übrigen zulässig, sie wurde insbesondere innerhalb der 2 -wöchigen Notfrist des § 569 ZPO eingereicht.
14
2. Die sofortige Beschwerde ist teilweise begründet.
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Die Zwangsvollstreckung war für einen weiteren Zeitraum bis 31.12.2024 einstweilen einzustellen, da derzeit eine Räumung auch unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses der Gläubiger wegen ganz besonderer Umstände eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht vereinbar ist, § 765 a ZPO. § 765 a ZPO ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen (vgl. Zöller, ZPO, 31. Aufl., 765a, Rn. 5 f). Im Rahmen des § 765 a ZPO hat eine Interessenabwägung stattzufinden. Wenn die Räumung zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht des Schuldners auf Leben und/oder körperliche Unversehrtheit besorgen lässt und die Schuldnerinteressen im konkreten Fall wesentlich schwerer wiegen als Gläubigerbelange, so begründet die Zwangsmaßnahme eine sittenwidrige Härte. Die Zwangsvollstreckung ist dann zumindest zeitweilig einzustellen. In besonders gelagerten Einzelfällen kann der Schutz des lebensbedrohten oder gesundheitsgefährdeten Schuldners auch die Einstellung der Zwangsvollstreckung für einen längeren Zeitraum rechtfertigen (vgl. Zöller, ZPO, 31. Aufl., 765a Rn. 11 mwN). Eine bei der Abwägung zu berücksichtigende mit den guten Sitten unvereinbare Härte liegt dabei vor, wenn die Zwangsvollstreckung zu einer konkreten Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners führt oder der Schuldner an einer Erkrankung leidet und die Fortsetzung des Zwangsversteigerungsverfahrens eine Verschlechterung des Gesundheitszustands und als deren Folge eine Gefahr für sein Leben oder schwerwiegende gesundheitliche Risiken erwarten lässt (vgl. Thomas/Putzo, ZPO, 44. Aufl., § 765a Rz 9).
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Diese Voraussetzungen sind derzeit erfüllt.
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Bereits der vom Amtsgericht eingeschaltete Sachverständige Professor Dr. med. K. führte in seinem Gutachten vom 30.04.2023 aus, dass bei der Schuldnerin eine nicht heilbare Krebserkrankung mit infauster Prognose vorliege. Zudem bestünden bei ihr weitere Erkrankungen, die ihre körperliche Leistungsfähigkeit massiv einschränken würden. Er kam zu dem Ergebnis, dass eine Zwangsräumung sich sehr negativ auf den gesamten Gesundheitszustand der Schuldnerin auswirken werde und es nicht auszuschließen sei, dass die aus der Räumung resultierenden körperlichen und psychischen Einwirkungen sich massiv bis hin zu einer Lebensgefahr negativ auswirken könnten.
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Der Sachverständige führte am 04.05.2023 eine ambulante Untersuchung vor, zudem lagen ihm diverse Fremdbefunde vor. Er führte in seinem Gutachten aus, dass bei der Schuldnerin im Rahmen eines stationären Aufenthalts im Juni 2022 ein weit fortgeschrittenes Ovarialkarzinom festgestellt worden sei, das zu metastatischen Absiedelungen im Bereich des Pleuraraumes und im Bereich des Bauchraumes geführt habe. Im Thoraxbereich sei es zu einer sogenannten Pleurakarzinose gekommen, d. h. einer Metastasenbildung an den Lungenhäuten. Im Bauchraum selbst sei es ebenso zu einer Metastasenbildung im Bereich des Bauchfells gekommen und ebenso seien Tumore nachweisbar im Bereich unter dem Zwerchfell an der Leberpforte, an den großen Bauchgefäßen und es sei ein Konglomerattumor des kleinen Beckens mit einem Befall der Gebärmutter und beider Eierstöcke festgestellt worden. Das Ovarialkarzinom habe nicht operiert werden können. Bei der Schuldnerin sei eine Chemotherapie durchgeführt worden, die gut vertragen worden sei, aber mit einer starken Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes verbunden gewesen sei. Bei dem Ovarialkarzinom handele es sich um eine bösartige Tumorerkrankung, die bei der Schuldnerin in den großen Körperhöhlen nämlich der Thoraxhöhle und der Bauchhöhle zum metastatischen Absiedlungen geführt habe. Es seien auch metastatische Lymphknotenvergrößerungen erkennbar gewesen. Unter der jetzigen Therapie habe sich eine Reduktion der Wasseransammlungen in den Körperhöhlen und auch eine Reduktion der Größe der Absiedlungen ausgebildet, im Vergleich zum Oktober 2022 sei jedoch erkennbar, dass auch der Verlaufsparameter des CA 125 nun wieder deutlich gestiegen sei, was darauf hinweise, dass eine Tumoraktivität weiterhin bestehe. Es sei heute davon auszugehen, dass dieses Leiden nicht heilbar sei, sondern es allenfalls möglich sei, im Rahmen einer fortlaufenden Chemotherapie eine Progression des Tumorleidens zu verzögern.
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Im Rahmen des Beschwerdeverfahrens wurden weitere medizinische Befunde vorgelegt. In der Beurteilung des LMU Klinikums, Klinik für Poliklinik und Radiologie vom 29.06.2023 wird ausgeführt, dass es bei dem Ovarialkarzinom eine Befundprogredienz im Vergleich zum 24.02.2023 ergeben habe. Der Primarius mit Beteiligung des Uterus sowie der Ovarien sei beidseits gering größenprogredient. Es lägen größenprogrediente und neu aufgetretene Lymphknotenmetastasen vor sowie bei Peritonealkarzinose knotige Verdichtungen, weiterhin nicht mehr eindeutig abgrenzbar. Es bestehe bei Verdacht auf eine Pleurokarzinose eine unveränderte pleurale Verdickung.
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Des weiteren wurde im Rahmen des Beschwerdeverfahrens eine Bescheinigung des Hausarztes Dr. med. T2. vom 18.10.2023 vorgelegt. Dieser bezieht sich hierin auf seine letzte Stellungnahme vom Februar 2023. In der Zwischenzeit sei das mögliche Karzinom der Brust als gutartig diagnostiziert worden. In den meisten anderen Aspekten sei es aber trotz wöchentlicher Chemotherapie zu einer relevanten Verschlechterung gekommen. In der Zusammenschau der Befunde sei trotz der fortgeführten Chemotherapie von einem deutlichen Progress der Erkrankung auszugehen sei. Er führt aus, dass unter der laufenden Chemotherapie nahezu wöchentliche Laborkontrollen stattfinden würden. Das Immunsystem der Patientin (Schuldnerin) sei mittlerweile deutlich eingeschränkt trotz ihres sehr intensiven medikamentösen Therapieregimes. Kontakte mit Infektionsgefahr, insbesondere mit Covid sollten daher auf ein Minimum reduziert werden. Aus seiner Sicht bestehe bei einem Umzug mit Wohnungssuche ein sehr hohes und im Vergleich zur letzten Stellungnahme gestiegenes Risiko für Gesundheit und Leben der Patientin (Schuldnerin)
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Aus den vorgelegten Befunden ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts, dass sich der Gesundheitszustand der Schuldnerin seit der Entscheidung des Amtsgerichts weiter massiv verschlechtert hat. Hinzu kommt, dass sie sich, wie aus den Attesten ersichtlich, weiterhin laufend Chemotherapien unterziehen muss, die das Immunsystem schwächen.
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Aufgrund ihrer schweren Erkrankung würde zur Überzeugung des Gerichts eine Zwangsräumung zu einer weiteren Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes und als deren Folge zu einer konkreten Lebensgefahr führen.
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Das Amtsgericht stellte die Zwangsvollstreckung lediglich bis einschließlich 31.12.2023 ein. Dies im Hinblick auf das Gutachten des Sachverständigen Professor Dr. K. Dieser führte in seinem Gutachten vom 30.04.2023 aus, dass, wenn ein Umzug in eine andere Wohnung durch eine Betreuung voll organisiert werden würde und der Schuldnerin alle Hilfestellungen gegeben werden könnten, so dass sich der Umzug für sie körperlich nicht negativ auswirken würde, sondern allenfalls eine psychische Auswirkung durch eine begrenzte Entwurzelung sich einstellen würde, bezüglich derer aber ebenfalls fachliche Hilfestellung gegeben werden müsste, dies für die Schuldnerin aufgrund einer besseren Wohnsituation sich positiv auswirken könne.
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Nach dem Verständnis des Beschwerdegerichts ist das Gutachten dahingehend zu verstehen, dass lediglich bei Vorliegen sämtlicher dieser Voraussetzungen sich ein Umzug gegebenenfalls positiv auf die Schuldnerin auswirken könne. Zudem unterstellt der Sachverständige hier das Vorhandensein einer „besseren Wohnsituation“.
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Nach dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. med. K., dem sich das Beschwerdegericht anschließt, ist es in Ermangelung dieser Voraussetzungen nicht auszuschließen, dass sich eine Zwangsräumung mit den damit verbundenen körperlichen und psychischen Einwirkungen massiv bis hin zu einer Lebensgefahr negativ auf die Schuldnerin aus wirken könnte.
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Zu berücksichtigen ist hierbei zwar, dass, wie das Amtsgericht zutreffend ausführt, von der Schuldnerin alles ihr Zumutbare erwartet werdenkann. Hierbei darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass die körperlichen und psychischen Kräfte der Schuldnerin durch die schwere Erkrankung stark beeinträchtigt sind. Hinzu kommt, dass die Schuldnerin nur über eingeschränkte finanzielle Mittel verfügt.
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Derzeit liegen die vom Sachverständigen geforderten Voraussetzungen jedenfalls nicht vor.
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Eine zeitlich begrenzte Einstellung der Zwangsvollstreckung, wenn auch mit der großzügigen einstweiligen Einstellungsfrist bis 31.10.2024, erschien daher angezeigt.
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Die Einstellung der Zwangsvollstreckung war nicht unbegrenzt auszusprechen. Zwar kann in Ausnahmefällen die Einstellung der Zwangsvollstreckung auch unbegrenzt erfolgen (vgl. Zöller ZPO, 31. Aufl., § 765a Rz. 11). Es muss sich allerdings um einen absoluten Ausnahmefall handeln, den das Gericht trotz der schweren Erkrankung der Schuldnerin vorliegend nicht für gegeben sieht.
30
Das Gericht sieht es nicht als völlig ausgeschlossen, dass die Krebserkrankung der Schuldnerin gestoppt werden kann und sich ihr Zustand wieder verbessert. Vor allem aber besteht die Möglichkeit, dass der Schuldnerin die von dem Sachverständigen für erforderlich geachteten Hilfestellungen gewährt werden, um einen Umzug zu organisieren, gegebenenfalls in betreutes Wohnen. Das Beschwerdegericht geht auch davon aus, dass von der Schuldnerin zu erwarten ist, dass sie sich im Rahmen des Zumutbaren, soweit es ihr Gesundheitszustand erlaubt, hierum bemüht.
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Bei dieser Entscheidung wurden auch die Gläubigerinteressen berücksichtigt. Das Gericht verkennt nicht, dass der der Zwangsräumung zugrunde liegende Vergleich bereits vor eineinhalb Jahren abgeschlossen wurde und bereits durch das Amtsgericht eine großzügige Einstellungsfrist gewährt wurde. Soweit die Gläubiger vortragen, dass sich die Schuldnerin weiterhin weigere, Rauchmelder anbringen zu lassen, und dies eine Gefahr für das Leben ihrer Mitbewohner und Nachbarn im Hause in Kauf nehme, ist darauf hinzuweisen, dass die diesbezügliche Verpflichtung der Schuldnerin durch die vorliegende Entscheidung nicht berührt wird.
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3. Gemäß § 788 Abs. 1 ZPO hat die Schuldnerin die Kosten des Verfahrens zu tragen.
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Auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens gelten als Kosten der Zwangsvollstreckung. Hat die Beschwerde des Schuldners Erfolg, so hat er damit die notwendigen Kosten beider Verfahren als Zwangsvollstreckungskosten zu tragen (vgl. Zöller, ZPO, § 788 Rz. 27).
34
Die Kosten kann das Gericht gemäß § 788 Abs. 4 ZPO zwar aus besonderen Gründen dem Schuldner auferlegen. Vorliegend sind aber keine besonderen, in dem Verhalten der Gläubiger liegenden Gründe erkennbar, die eine Auferlegung der Kosten auf Seiten der Gläubiger rechtfertigen würde. Insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen im amtsgerichtlichen Beschluss verwiesen.
35
Die Festsetzung des Beschwerdewertes orientiert sich an den Vollstreckungsinteressen des Gläubigers, welche einem Nutzungsentgelt für den begehrten Räumungsaufschub entsprechen, § 3 ZPO. Vorliegend wurde Räumungsaufschub für unbestimmte Zeit, hilfsweise bis 31.12.2024 verlangt, so dass der Jahreswert der Nettomiete anzusetzen ist.