Inhalt

LG München I, Beschluss v. 06.11.2023 – 1 S 12945/23 WEG
Titel:

Anforderungen an die Fristenkontrollpflicht eines Rechtsanwalts

Normenkette:
ZPO § 233
Leitsätze:
1. Die Überwachungspflicht des Rechtsanwalts, dem die Handakten zwecks Fertigung der Berufungsschrift vorgelegt werden, beschränkt sich nicht nur auf die Prüfung, ob die Berufungsfrist zutreffend notiert ist, sondern erstreckt sich auch auf die ordnungsgemäße Notierung der Berufungsbegründungsfrist, die mit der Zustellung des erstinstanzlichen Urteils zu laufen beginnt und deren Ablauf daher im Zeitpunkt der Fertigung der Berufungsschrift bereits feststeht. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass sich der Rechtsanwalt zwar von der routinemäßigen Fristberechnung und Fristenkontrolle durch Übertragung dieser Tätigkeit auf zuverlässige und sorgfältig überwachte Bürokräfte entlasten kann. Hiervon ist jedoch die Prüfung des Fristablaufs im Zusammenhang mit der Bearbeitung der Sache zu unterscheiden. Diesen hat der Rechtsanwalt eigenverantwortlich nachzuprüfen, wenn ihm die Sache zur Vorbereitung der fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt wird. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Wiedereinsetzung, Rechtsanwalt, Fristenkontrolle, Berufungsbegründungsfrist, Büroangestellte
Vorinstanz:
AG Starnberg vom -- – 3 C 171/23
Fundstellen:
LSK 2023, 38778
BeckRS 2023, 38778
NJOZ 2024, 286

Tenor

Der Antrag der Berufungsklägerin vom 12.10.2023 auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist wird abgelehnt.

Gründe

1
1. Die Klägerin hat die Frist zur Einlegung der Berufung gegen das am 06.09.2023 zugestellte Urteil versäumt, da sie die Berufung zunächst beim Landgericht München II eingelegt hat und sodann (erst) mit Schriftsatz vom 12.10.2023 die Wiedereinsetzung beim Landgericht München I unter gleichzeitiger Einlegung der Berufung beantragt hat.
2
Die Klägerin führt zur Fristversäumung aus, dass diese auf einem doppelten Fehler der – bei dem für die zweite Instanz bevollmächtigten Prozessbevollmächtigten – angestellten und zuverlässigen Rechtsanwaltsfachangestellten beruhe.
3
Bei Mandatierung am 18.09.2023 habe der Prozessbevollmächtigte – direkt – die bei ihm angestellte und zuverlässige Rechtsanwaltsfachangestellte Frau angewiesen, das Landgericht München I als Berufungsgericht in die Kanzlei-Software aufzunehmen und sowohl die Vorfristen (eine Woche vor jeweiligem Fristablauf), die Berufungseinlegungsfrist als auch die Berufungsbegründungsfrist – sofort – zu notieren.
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Da aus den vom Berufungsführer übersandten Unterlagen nicht ganz klar war, ob das Urteil der ersten Instanz am 5. September 2023 oder 6. September 2023 zugestellt worden sei, habe der neue Prozessbevollmächtigte seine Rechtsanwaltsfachangestellte angewiesen, dass vorsorglich die Frist vom 5. September 2023 an berechnet werde und demnach die Frist zur Berufungseinlegung auf den 5. Oktober 2023 und die Frist zur Berufungsbegründung (aufgrund des Sonntages) auf den 6. November 2023 notiert werde.
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Nach den oben geschilderten mündlichen Anweisungen des Prozessbevollmächtigten nahm die Rechtsanwaltsfachangestellte in die Adressverwaltung der Kanzlei-Software fälschlicherweise das Landgericht München II auf, statt richtigerweise und weisungsgemäß das Landgericht München I. Infolge dieses Fehlers wurde auch der Schriftsatz zur Einlegung der Berufung an das Landgericht München II angefertigt.
6
Darüber hinaus notierte die Rechtsanwaltsfachangestellte die Frist zur Berufungseinlegung falsch. Richtigerweise hätte die Frist auf den 5. Oktober 2023 notiert werden müssen. Fälschlicherweise notierte jedoch die Rechtsanwaltsfachangestellte die Frist zur Einlegung der Berufung auf den 12. Oktober 2023.
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Am 4. Oktober 2023 entschied sich der Berufungsführer zur Einlegung der Berufung, und beauftragte damit den Rechtsanwalt. Dieser wies daraufhin seine Rechtsanwaltsfachangestellte an, die Berufungsschrift vorzubereiten und deren Versendung vorzubereiten. Dies tat sie, speicherte ihn ab und bereitete dessen Versendung per BEA vor.
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Der Rechtsanwalt signierte und versandte dann am 04.10.2023 den Schriftsatz im Vertrauen darauf, dass die Rechtsanwaltsfachangestellten weisungsgemäß das richtige Gericht erfasst und den Schriftsatz zur Einlegung der Berufung an das richtige Gericht vorbereitet hätte. Zu diesem Zeitpunkt kontrollierte der Rechtsanwalt nicht erneut, ob das richtige Berufungsgericht aufgenommen wurde und der Schriftsatz dorthin vorbereitet wurde. Die Frist wurde ebenso wenig kontrolliert. Dies wäre erst am Tag des Fristablaufes erfolgt.
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Dies ist in der Kanzlei wie folgt organisiert: Bei Ablauf der Vorfrist wird die Sache dem sachbearbeitenden Rechtsanwalt mit einem auffälligen Vermerk „Fristsache“ gesondert vorgelegt. Am Morgen des Fristablaufs wird dem Rechtsanwalt eine Liste der an dem Tag ablaufenden Fristen vorgelegt und der Rechtsanwalt selber überprüft, ob die Frist erledigt wurde. Fristen sind vorrangig zu behandeln und stets sofort einzutragen. Dies wird durch den Rechtsanwalt regelmäßig überprüft. Vor Büroschluss wird kontrolliert, ob alle Fristsachen erledigt sind; erst dann wird die Frist durch den Rechtsanwalt als erledigt markiert. Die Eintragung und die Kontrolle der Fristen obliegt der Angestellten Frau ... Vor diesem Hintergrund hätte der Rechtsanwalt am 12. Oktober 2023 überprüft, ob die Berufung eingelegt wurde und ob es an das richtige Gericht gesandt wurde und die Eingangsbestätigung überprüft, das falsche Gericht wäre aufgefallen und der Rechtsanwalt hätte dies korrigiert. Soweit kam es jedoch nicht. Am 9. Oktober 2023 rief das Landgericht München II in der Kanzlei des Unterzeichnenden an und erklärte, dass die Berufungseinlegung an das unzuständige Gericht gesandt wurde. Erst da fiel auf, dass die Berufung falsch eingelegt wurde.
10
Ursächlich für die Fristversäumung sei daher die falsche Notierung der Berufungseinlegungsfrist durch die Rechtsanwaltsfachangestellte des Rechtsanwalts. Hätte diese richtigerweise die Frist auf den 5. Oktober 2023 notiert, so wäre dem Rechtsanwalt bei der Fristüberprüfung an dem Tag die Berufungseinlegung an das unzuständige Gericht aufgefallen und er hätte sie an das richtige gesandt.
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Die Gegenseite sieht bei der Fristversäumung ein anwaltliches Verschulden.
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2. Der form- und fristgerecht gemäß §§ 234, 235 ZPO eingelegte Wiedereinsetzungsantrag war als unbegründet zurückzuweisen.
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Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist gemäß § 233 ZPO möglich, wenn eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert ist, eine Rechtsmittelfrist einzuhalten.
14
Fristen haben die Aufgabe, die zügige Erledigung des Rechtsstreits zu fördern, Prozessverzögerung zu verhindern und den Eintritt der Rechtskraft zu sichern. Im Interesse der Rechtssicherheit läge es, die Ausschlusswirkung als Rechtsfolge der Versäumung von Prozesshandlungsfristen (§§ 230, 231) ausnahmslos eingreifen zu lassen. Zur Förderung der Einzelfallgerechtigkeit, also der richtigen und billigen Entscheidung der konkreten Sache, ist es nötig, eine eng begrenzte und sowohl inhaltlich als auch verfahrensmäßig beschränkte Korrekturmöglichkeit für bestimmte Fallgestaltungen zu eröffnen, in denen die Durchsetzung des Prinzips der Fristenstrenge als nicht erträglich empfunden würde. § 233 regelt die inhaltlichen Voraussetzungen für die nachträgliche Beseitigung der Folgen der Fristversäumung (MüKoZPO/Stackmann, 6. Aufl. 2020, ZPO § 233 Rn. 1). Für eine Wiedereinsetzung es hiernach erforderlich, dass eine Partei ohne ihr Verschulden daran gehindert ist, die Frist einzuhalten. Das Verschulden des Prozessbevollmächtigten steht dem Verschulden der Partei gemäß § 85 Abs. 2 ZPO gleich.
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Die Handlungen und Unterlassungen aller anderen Personen, die weder Partei noch Vertreter der Partei, sondern Dritte sind, sind für die Wiedereinsetzung unschädlich. Bei Fehlern des Personals, die der Anwalt nicht selbst durch Auswahl-, Organisations-, Belehrungs- oder Überwachungsfehler ermöglicht hat, auch nicht sonst erkennen oder verhindern konnte, ist Wiedereinsetzung möglich.(MüKoZPO/Stackmann, 6. Aufl. 2020, ZPO § 233 Rn. 36).
16
Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH hat der Anwalt die Einhaltung seiner Anweisungen zur Berechnung einer Frist, ihrer Notierung auf den Handakten, zur Eintragung im Fristenkalender sowie zur Bestätigung der Kalendereintragung durch einen Erledigungsvermerk auf den Handakten stets eigenverantwortlich zu prüfen, wenn er im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Verfahrenshandlung mit der Sache befasst wird (BGH, NJW 2019, 2028 Rn. 11, beck-online). Es entspricht der Rechtsprechung des BGH, dass der Rechtsanwalt die Prüfung des Fristablaufs im Zusammenhang mit der Bearbeitung der Sache nachprüfen muss, wenn ihm diese zur Vorbereitung einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt wird. Nach den zur anwaltlichen Fristenkontrolle entwickelten Grundsätzen hat der Rechtsanwalt alles ihm Zumutbare zu tun und zu veranlassen, damit die Fristen zur Einlegung und Begründung eines Rechtsmittels gewahrt werden. Die Überwachungspflicht des Rechtsanwalts, dem die Handakten zwecks Fertigung der Berufungsschrift vorgelegt werden, beschränkt sich dabei nicht nur auf die Prüfung, ob die Berufungsfrist zutreffend notiert ist, sondern erstreckt sich auch auf die ordnungsgemäße Notierung der Berufungsbegründungsfrist, die nach § 520 II 1 ZPO mit der Zustellung des erstinstanzlichen Urteils zu laufen beginnt und deren Ablauf daher im Zeitpunkt der Fertigung der Berufungsschrift bereits feststeht. Mit der anwaltlichen Verpflichtung, alle zumutbaren Vorkehrungen gegen Fristversäumnisse zu treffen, wäre nicht zu vereinbaren, wenn sich der Anwalt bei der im Zusammenhang mit der Aktenvorlage zwecks Fertigung der Berufungsschrift gebotenen Prüfung der Fristnotierung auf die Berufungsfrist beschränken und die Prüfung der bereits feststehenden Berufungsbegründungsfrist aussparen wollte. Er hat daher bei Vorlage der Handakte zur Fertigung der Berufungsschrift auch zu prüfen, dass die Berufungsbegründungsfrist richtig notiert worden ist (BGH, NJW-RR 2015, 1468 Rn. 7, beck-online).
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Diese Überprüfungspflicht hat der neue Prozessbevollmächtigte der Klägerin verletzt, wodurch die Frist zur Einlegung der Berufung versäumt wurde.
18
Der Anwalt war nach diesen Grundsätzen bei Aktenvorlage zur Fertigung der Berufungsschrift verpflichtet, die Fristnotierung für die Berufungsfrist zu prüfen (neben der für die Berufungsbegründungsfrist). Dies hat er nicht getan, obwohl er verpflichtet gewesen wäre, es zu tun. Vor diesem Hintergrund kann somit nicht von einem fehlendem Verschulden ausgegangen werden kann.
19
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass sich der Rechtsanwalt zwar von der routinemäßigen Fristberechnung und Fristenkontrolle durch Übertragung dieser Tätigkeit auf zuverlässige und sorgfältig überwachte Bürokräfte entlasten kann. Hiervon ist jedoch die Prüfung des Fristablaufs im Zusammenhang mit der Bearbeitung der Sache zu unterscheiden. Diesen hat der Rechtsanwalt eigenverantwortlich nachzuprüfen, wenn ihm die Sache zur Vorbereitung der fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt wird (vgl. BGH, Beschlüsse vom 13. November 1975 – III ZB 18/75, NJW 1976, 627 = VersR 1976, 342 und vom 19. April 2005 – X ZB 31/03, juris Rn. 4, BGH Beschluss vom 3.5.2011 – VI ZB 4/11, BeckRS 2011, 12919 Rn. 6, beck-online). Spätestens bei Vorlage der vorbereiteten Berufungseinlegung hätte somit der Prozessbevollmächtigte den Fristablauf überprüfen müssen.
20
Dabei gehört die Erstellung fristwahrender Rechtsmittel oder Rechtsmittelbegründungen zu den Aufgaben, die ein Rechtsanwalt seinem angestellten Büropersonal nicht übertragen darf, ohne das Arbeitsergebnis auf seine Richtigkeit und Vollständigkeit selbst sorgfältig zu überprüfen (BGH NJW-RR 2021, 998 Rn. 14; NJW-RR 2016, 126 Rn. 9 = NJW 2016, 719 Ls.; NZFam 2015, 984 = WM 2016, 142 Rn. 12). Ein Rechtsanwalt handelt daher schuldhaft, wenn er eine Rechtsmittelbegründungsschrift unterschreibt, ohne sie zuvor auf Richtigkeit und Vollständigkeit zu überprüfen (NJW 2022, 1964 Rn. 9, beck-online).
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Wäre mithin am 4.10.2023 bei Unterzeichnung der Berufungseinlegung eine solche Kontrolle erfolgt, wäre aufgefallen, dass die Frist unzutreffend notiert worden war.
22
Daneben ist der Rechtsanwalt auch verpflichtet, bei der Unterzeichnung einer Berufungsschrift diese auf Richtigkeit und Vollständigkeit zu überprüfen und damit auch im Hinblick auf deren Einreichung beim zuständigen Gericht. Dies hat der Rechtsanwalt unterlassen, da er ausgeführt hat, dass eine solche Prüfung erst bei Vorlage des notierten Fristablaufs bei ihm erfolge. Wer jedoch einen Berufungsschriftsatz unterzeichnet, ohne darauf zu schauen, ob er an das zuständige Berufungsgericht adressiert ist, verletzt diese Anwaltspflicht. Hätte der Prozessbevollmächtigte eine solche Prüfung vorgenommen, wäre der am 04.10.2023 versandte Berufungsschriftsatz fristgerecht an das zuständige hiesige Gericht gelangt.
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Wiedereinsetzung kommt weiter nur in Betracht, wenn die Verhinderung, die die Fristversäumung bewirkt, ursächlich auf Umständen beruht, die ohne Verschulden der Partei eingetreten sind. Gefordert wird adäquate Kausalität. Sie ist gegeben, wenn die Frist ohne Hinzutreten des unverschuldeten Umstands nach üblichen Maßstäben, bei gewöhnlichem Lauf der Dinge gewahrt worden wäre.(MüKoZPO/Stackmann, 6. Aufl. 2020, ZPO § 233 Rn. 28).
24
Die Fristversäumung wurde damit ursächlich dadurch bewirkt, dass der Anwalt den Berufungsschriftsatz unterzeichnet hat, ohne auf die Adressierung an das zuständige Berufungsgericht zu achten. Nach üblichen Maßstäben hätte der Anwalt dies aber prüfen müssen, so dass der Fehler der Rechtsanwaltsgehilfen ihn nicht entlasten kann.
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Die Fristversäumung wurde aber auch dadurch bewirkt, dass der Anwalt es unterlassen hat, bei Vorlage der Akten an ihn am 4.10.2023 zur Einlegung der Berufung in diesem Zusammenhang keine Prüfung der notierten Frist vorgenommen zu haben. Hätte er die pflichtgemäße Prüfung der Frist im Zusammenhang mit der Vorlage der Akte an ihn vorgenommen, wäre ihm eine fristgerechte Einlegung möglich gewesen.
26
Ein ursächliches Verschulden des Rechtsanwalts war somit im Ergebnis nicht zu verneinen. Im Gegenteil.
27
Da der Partei das Verschulden Ihres Anwalts zuzurechnen ist und die Frist infolge von Fehlern, die er zu verantworten hatte, versäumt wurde, fehlt es an den tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung nach § 233 ZPO. Der entsprechende Antrag war daher abzulehnen.