Inhalt

LG Traunstein, Beschluss v. 18.12.2023 – 4 T 2190/23
Titel:

Abschiebungshaft: Form des Haftantrages; Anforderungen an die Fluchtgefahr, Benachrichtigungspflichten

Normenketten:
FamFG § 23 Abs. 2, § 417 Abs. 2, § 432
AufenthG § 62 Abs. 3, Abs. 3a
GG Art. 104 Abs. 4
Leitsätze:
1. § 417 FamFG schreibt für Haftanträge keine bestimmte Form vor. Auch kann aus dem erforderlichen Inhalt des Haftantrags, § 417 Abs. 2 FamFG, im Zusammenhang mit § 23 Abs. 1 FamFG keine „faktische Beschränkung in Richtung Schriftlichkeit“ hergeleitet werden. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Antrag iSd § 417 FamFG kann vielmehr auch telefonisch gestellt werden, wenn sich aus anderen Umständen keine Zweifel an der Identität des Urhebers und dessen ernsthaften Willen ergibt, den Antrag in den Rechtsverkehr zu bringen. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
3. Gem § 432 FamFG hat das Gericht von der Anordnung der Freiheitsentziehung und deren Verlängerung einen Angehörigen des Betroffenen oder eine Person seines Vertrauens unverzüglich zu benachrichtigen. Hiermit wird der inhaltsgleiche Art. 104 Abs. 4 GG einfachgesetzlich umgesetzt. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
4. Ein Verzicht auf die Benachrichtigungspflicht ist, jedenfalls wenn die Abwägung ergibt, dass das öffentliche Interesse an einer Benachrichtigung gegenüber dem ebenfalls grundrechtlich über das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG) gesicherten Interesse des Betroffenen, keine Person informieren zu wollen, zurücktritt. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Abschiebehaft, gambischer Staatsangehöriger, Haftantrag, Form, telefonische Antragstellung, Begründungsanforderungen, Haftgrund, Fluchtgefahr, Benachrichtigungspflicht, Verzicht
Vorinstanz:
AG Rosenheim vom -- – 1 XIV 95/23 (B)
Fundstelle:
BeckRS 2023, 38634

Tenor

1. Auf die Beschwerde des Betroffenen hin wird festgestellt, dass die mit Beschluss des Amtsgerichts Rosenheim vom 16.02.2023 angeordnete und vom 16.02.2023 bis zum 08.03.2023 vollzogene Abschiebehaft rechtswidrig war.
2. Der Antrag auf Feststellung der Verletzung von Art. 104 Abs. 4 GG wird abgelehnt.
3. Der Antrag des Betroffenen auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe wird abgelehnt.
4. Die Kosten des Verfahren und die notwendigen Aufwendungen des Betroffenen fallen dem Freistaat Bayern zur Last.
5. Der Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Betroffene ist gambischer Staatsangehöriger. Er reiste erstmals am 02.12.2014 unerlaubt in die Bundesrepublik ein. Am 14.01.2015 stellte er einen Asylantrag, der mit Bescheid vom 23.05.2017 als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde. Dem Betroffenen wurde gleichzeitig die Abschiebung in den Senegal angedroht und er aufgefordert, Deutschland binnen 30 Tagen zu verlassen. Die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage wurde am 08.08.2017 abgewiesen. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge wurde am 20.09.2018 bestandskräftig. Ein am 02.11.2022 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gestellter Wiederaufnahmeantrag zur Feststellung von Abschiebeverboten wurde mit Beschluss vom 16.12.2022, bestandskräftig seit 07.01.2023, abgelehnt.
2
Trotz erfolgter Belehrung bei jeder Duldungsverlängerung, beispielsweise am 21.12.2017, 13.02.2019 und 11.06.2019, auf die Anzeigepflicht eines Wohnortwechsels oder eines Aufenthalts von mehr als drei Tagen unter Hinweis auf die Möglichkeit der Inhaftnahme im Falle eines Verstoßes wurde der Betroffene wiederholt, u.a. am 03.06.2018, 23.12.2018 14.01.2019 und 20.04.2019 auf dem Weg nach Berlin bzw. in Berlin angetroffen.
3
Mehreren Aufforderungen zur Passersatzbeschaffung seit 2017 kam der Betroffene nicht nach. Mit Bescheid vom 20.05.2019, zugestellt an den damaligen Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen, wurde gegen den Betroffenen eine räumliche Aufenthaltsbeschränkung auf die Stadt und den Landkreis Rosenheim erlassen, wogegen der Betroffene wiederholt, nämlich am 04.10.2019, 09.10.2019, 02.03.2020 und 27.03.2021 verstieß.
4
Aufgrund fortdauernder Passlosigkeit und Indizien für eine Herkunft des Betroffenen aus Gambia statt wie vom Betroffenen angegeben aus dem Senegal wurde am 14.10.2019 die Passersatzbeschaffung für Gambia eingeleitet. Die Aufforderung mit Schreiben der ZAB Oberbayern vom 02.01.2020 unter Hinweis auf die Möglichkeit der Inhaftnahme bei Nichterscheinen zur Vorsprache bei einer Delegation der Republik Gambia zwecks Feststellung der Identität und Ausstellung eines Reisedokuments am 16.01.2020 wurde an den damaligen Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen versandt; ein Zustellnachweis liegt in der Ausländerakte jedoch nicht vor. Eine zwangsweise Vorführung am 16.01.2020 scheiterte, da der Betroffene nicht in seiner Unterkunft angetroffen werden konnte.
5
In der Folge wurde der Betroffene erneut erfolglos mit Schreiben der ZAB Oberbayern vom 02.12.2020 unter Hinweis auf die Möglichkeit der Inhaftnahme bei Nichterscheinen, zugestellt an seinen damaligen Verfahrensbevollmächtigten am 09.12.2020, zur Passbeschaffung und mit Schreiben vom 22.02.2021, wofür allerdings kein Zustellnachweis vorliegt, zur Identitätsfeststellung in Form einer Anhörung am 04.03.2021 in München aufgefordert.
6
Anlässlich einer Wohnsitzüberprüfung durch die PI B. A. am 04.03.2021 wurde festgestellt, dass der Betroffene nicht mehr an der Meldeadresse aufhältig war. Er wurde am 18.03.2021 als nach Unbekannt verzogen abgemeldet.
7
Am 23.04.2021 stellten die gambischen Behörden einen Heimreiseschein für den Betroffenen aus, nachdem sie den Betroffenen im Rahmen einer Sammelanhörung als Gambier identifizieren konnten. Am 06.04.2022 erfolgte ein Wiederzuzug des Betroffenen, nachdem der Betroffene sich bei der Erstaufnahmeeinrichtung in München meldete.
8
Seit 11.08.2022 war der Betroffene … gemeldet.
9
Mit Bescheid vom 16.12.2022, zugestellt am 23.12.2022 an der Adresse des Betroffenen in Ba., bestandskräftig seit 07.01.2023, konkretisierte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Zielstaat auf Gambia und teilte dies dem Landratsamt R. in der Abschlussmitteilung vom 08.02.2023 mit.
10
Laut Telefonvermerk des Landratsamts R. teilte die PI W. am 08.02.2023 telefonisch mit, dass sich der Betroffene nie in seiner Unterkunft … aufhalte und bereits bei mehreren Einsätzen in der Vergangenheit (z.B. Zwangsvorführung bei der gambischen Botschaftsdelegation zur Ausstellung von Passersatzpapieren) nicht in seiner Unterkunft angetroffen habe werden können.
11
Die Staatsanwaltschaft Traunstein erteilte am 09.02.2023 ihr Einverständnis mit der Abschiebung des Betroffenen.
12
Mit Haftantrag vom 14.02.2023, mitsamt Unterschrift auf dem Dokument eingescannt und als PDF-Dokument per E-Mail versandt, beantragte das Landratsamt R. die zeitgerechte Festnahme des Betroffenen durch die Polizei im Wege der einstweiligen Anordnung und die Anordnung von Haft zur Sicherung der Abschiebung nach Gambia bis längstens 09.03.2023. Die Ausländerakte wurde per Cloud zur Verfügung gestellt.
13
Mit Beschluss vom 14.02.2023 ordnete das Amtsgericht ausländerrechtliche Sicherungshaft in einer Abschiebehafteinrichtung im Wege der einstweiligen Anordnung bis spätestens 09.03.2023 an. Der Betroffene wurde bei seinem Termin zur Duldungsverlängerung am 16.02.2023 in der Ausländerbehörde festgenommen. Das Amtsgericht Rosenheim hörte den Betroffenen am 16.02.2023 an. Der am selben Tag eingegangene Schriftsatz des Verfahrensbevollmächtigten W.-L. wurde in der Anhörung verlesen. Es wurde darauf hingewiesen, dass der Betroffene einen Antrag „nach Paragraph 104 C“ beim Landratsamt R. gestellt habe. Der Betroffene äußerte, er sei unschuldig, was die Betäubungsmittelgeschichte angehe. Er habe nie zu arbeiten gelernt, ihm sei langweilig gewesen. Es sei ihm scheißegal, wenn er wieder nach Afrika geschickt werde. Er möchte aber nicht gehen, er sei gut integriert. Wenn er beschäftigt sei, habe er keine Zeit Marihuana zu rauchen.
14
Mit Beschluss vom 16.02.2023 ordnete das Amtsgericht Rosenheim ausländerrechtliche Sicherungshaft bis 09.03.2023 an.
15
Mit Schriftsatz vom 23.02.2023 legte der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen, Rechtsanwalt F3., gegen den Beschluss vom 16.02.2023 Beschwerde ein und beantragte, festzustellen, dass der angefochtene Beschluss den Betroffenen in seinen Rechten verletzt habe, sowie dem Betroffenen Verfahrenskostenhilfe unter seiner Beiordnung zu bewilligen.
16
Der Betroffene wurde am 08.03.2023 abgeschoben.
17
Im Schriftsatz vom 07.05.2023 wies der Verfahrensbevollmächtigte darauf hin, dass es an einem wirksamen, vollstreckbaren Beschluss fehle, weil der Zeitpunkt der sofortigen Wirksamkeit entgegen § 422 Abs. 3 S. 3 FamFG nicht auf dem Beschluss vermerkt worden sei. Ob der Haftantrag unter den Vorgaben des § 14 b FamFG gestellt worden sei, könne er nicht ersehen. Ob und wann das Gericht die Akten des Betroffenen eingesehen habe, könne er nicht ersehen. Er rügte einen Verstoß gegen das faire Verfahren, soweit Rechtsanwalt W. nicht zur Anhörung geladen worden sei. Er sei auch nicht dahingehend belehrt worden, dass er eine erneute Anhörung im Beisein eines Anwalts zu durchlaufen. Es bestehen ferner erhebliche Bedenken, dass ein Haftgrund vorliege. Er beklagt einen Verstoß gegen § 72 Abs. 4 AufenthG, da ein Ermittlungsverfahren wegen des Besitzes von Betäubungsmitteln eingeleitet worden sei und die Staatsanwaltschaft ihr Einverständnis zur Abschiebung nicht erteilt habe. Es sei unklar, ob/wann/wo dem Betroffenen der Bescheid des BAMF vom 16.02.2022 mit der Zielstaatskorrektur zugestellt worden sei. Ohne ordnungsgemäße Zustellung würde es an einer hinreichenden Rückkehrentscheidung fehlen, so dass auch aus diesem Grund der Haftbeschluss den Betroffenen in seinen Rechten verletzt habe. Weiter beantragte er die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 104 Abs. 4 GG, da der Betroffenen niemanden als Vertrauensperson benannt habe und dieses Recht auf Benachrichtigung einer Vertrauensperson unverzichtbar sei. Darüber hinaus genüge die Unterbringung in der JVA Eichstätt den unionsrechtlichen Vorgaben einer speziellen Abschiebehafteinrichtung nicht. Auf die Ausführungen wird Bezug genommen (Bl. 34 ff.).
18
Zum Beschwerdevorbringen nahm das Landratsamt R. mit Schriftsatz vom 01.06.2023 Stellung. Hinsichtlich des Haftgrunds verwies es auf die Sachverhaltsdarstellung im Haftantrag. Das unter dem Aktenzeichen 120 Js 10660/23 geführte Ermittlungsverfahren stellte die Staatsanwaltschaft Traunstein am 23.03.2023 nach § 154 b StPO ein. Der Bescheid mit der Zielstaatsbestimmung sei dem Betroffenen am 23.12.2022 in seiner Wohnung zugestellt worden. Das Innenministerium benenne die JVA Eichstätt als geeignete Haftanstalt für die Abschiebehaft; es könne nicht weiter Stellung genommen werden.
19
Mit Schriftsatz vom 20.06.2023 nahm der Verfahrensbevollmächtigte erneut Stellung. In der Stellungnahme vom 09.08.2023 erklärte das Landratsamt R., Haftanträge künftig über das besondere Behördenpostfach an das Amtsgericht zu versenden, um das Erfordernis aus § 14 b FamFG zu erfüllen. Aus der übermittelten Rückseite der Postzustellungsurkunde ergibt sich, dass am 23.12.2022 ein Schriftstück durch Einlage in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt wurde. Mit Schriftsatz vom 29.08.2023 nahm der Verfahrensbevollmächtigte hierzu erneut Stellung.
20
Das Amtsgericht Rosenheim wies mit Beschluss vom 25.09.2023 den Antrag auf Feststellung, dass der Beschluss vom 16.02.2023 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat, sowie den Antrag auf Gewährung von Verfahrenskostenhilfe zurück und legte die Akten dem Landgericht vor.
21
Mit Schriftsatz vom 18.12.2023 regte der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen unter Verweis auf einen Beschluss des Landgerichts Coburg an, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH zwecks Klärung der Frage vorzulegen, ob eine Unterbringung von Gefangenen in der JVA Eichstätt mit der Rückführungsrichtlinie vereinbar ist.
22
Das Landratsamt T. nahm am 06.12.2023 erneut Stellung insbesondere zum Haftgrund der Fluchtgefahr. Eine Stellungnahme hierauf durch den Verfahrensbevollmächtigten erfolgte binnen gesetzter Frist nicht. Die Ausländerakte lag dem Beschwerdegericht elektronisch vor.
II.
23
1. Gegen den Beschluss des Amtsgerichts Rosenheim vom 16.02.2023 war gemäß § 106 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 58 Abs. 1 FamFG das Rechtsmittel der Beschwerde gegeben. Diese wurde fristgerecht innerhalb der einmonatige Beschwerdefrist (§ 63 Abs. 1 FamFG) eingelegt und war auch im Übrigen zulässig. Die Beschwerde des Betroffenen hat sich mit Entlassung erledigt. Aufgrund der erfolgten Entlassung des Betroffenen und dem begründeten Feststellungsinteresse konnte die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haft begehrt werden; der Feststellungsantrag kann auch bereits mit Beschwerdeeinlegung gestellt werden. Er ist mithin zulässig.
24
2. Der Feststellungsantrag ist auch begründet. Die Anordnung und Vollziehung der Haft zur Sicherung der Abschiebung für den Zeitraum vom 16.02.2023 bis zum 08.03.2023 war rechtswidrig. Es liegt kein Haftgrund i.S.d. § 62 Abs. 3 AufenthG vor.
25
a) Der Betroffene ist aufgrund des seit 20.09.2018 bestandskräftigen Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23.05.2017, mit dem der Asylantrag abgelehnt und die Abschiebung in den Senegal angedroht wurde, nach Ablauf der einwöchigen Ausreisefrist seit 27.09.2018 vollziehbar ausreisepflichtig (§ 58 Abs. 2 S. 2, 50 Abs. 1 AufenthG). Der Zielstaat wurde mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.12.2022, bestandskräftig seit 07.01.2023, auf Gambia korrigiert. Das Haftgericht durfte sich insoweit auf die Mitteilung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 08.02.2023 verlassen (vgl. zur Abschlussmitteilung: BGH, Beschl. v. 24.08.2020, Az.: XIII ZB 83/19).
26
b) Der einstweiligen Anordnung der Zurückschiebehaft lag ein zulässiger und ausreichend begründeter Haftantrag der beteiligten Ausländerbehörde vom 14.02.2023 zugrunde, § 51 Abs. 1 FamFG.
27
Für Abschiebehaftanträge werden hier insbesondere Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebevoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Abschiebung und zu der notwendigen Haftdauer verlangt (vgl. § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3-5 FamFG). Inhalt und Umfang der erforderlichen Darlegung bestimmen sich nach dem Zweck des Begründungserfordernisses. Es soll gewährleisten, dass das Gericht die Grundlagen erkennt, auf welche die Behörde ihren Antrag stützt, und dass das rechtliche Gehör des Betroffenen durch die Übermittlung des Haftantrags nach § 23 Abs. 2 FamFG gewahrt wird (BGH, Beschluss vom 22.07.2010 – V ZB 28/10, NVwZ 2010, 1511). Die Darlegungen dürfen knapp gehalten sein, müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte des Falles ansprechen (BGH vom 15.09.2011, FGPrax 2011, 317).
28
aa) Aus dem Haftantrag der beteiligten Behörde gehen die Voraussetzungen und Durchführbarkeit der Abschiebung, der die aufgeführten Haftgründe aus Sicht der Ausländerbehörde stützende Sachverhalt und die Begründung für die erforderliche Haftdauer hervor. Der Betroffene wurde für die geplante Sammelrückführungsmaßnahme am 08.03.2023 eingeplant; die Haft wurde bis 09.03.2023 beantragt, um im Fall des Scheiterns der Abschiebung eine Verlängerung der Abschiebehaft zu beantragen.
29
bb) Dass der Haftantrag mittels handschriftlich unterschrieben und eingescannten PDF-Dokuments im Anhang einer einfachen E-Mail übermittelt wurde, ist unschädlich. Aus § 14 b FamFG, der vorschreibt, dass bei Gericht schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen u.a. durch eine Behörde als elektronisches Dokument zu übermitteln sind, kann jedenfalls keine Rechtswidrigkeit der Haftanordnung hergeleitet werden. Die Norm gilt bereits nur für schriftlich einzureichende Dokumente. § 417 FamFG schreibt für Haftanträge jedoch gerade keine bestimmte Form vor. Auch kann aus dem erforderlichen Inhalt des Haftantrags, § 417 Abs. 2 FamFG, im Zusammenhang mit § 23 Abs. 1 FamFG auch keine „faktische Beschränkung in Richtung Schriftlichkeit“ hergeleitet werden (so aber AG Itzehoe, Beschl. v. 18.01.2022, Az.: 86 XIV 1845 B). Ein Antrag i.S.d. § 417 FamFG kann vielmehr auch telefonisch gestellt werden, wenn sich aus anderen Umständen keine Zweifel an der Identität des Urhebers und dessen ernsthaften Willen ergibt, den Antrag in den Rechtsverkehr zu bringen (BGH, Beschl. v. 17.11.2021 – 3 ZB 2/21). Nach dem Gesetzeswortlauf ist der nach Erlass dieser Entscheidung in Kraft getretene § 14 b FamFG für Haftanträge nicht einschlägig; eine planwidrige Regelungslücke ist nicht ersichtlich. Jedenfalls kann aus einer etwaigen Verletzung dieser Formvorschrift keine Rechtswidrigkeit der Haftanordnung gefolgert werden. § 14 b FamFG dient der Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs, nicht jedoch dem Schutz von Betroffeneninteressen. Solange kein Zweifel daran besteht, dass der Haftantrag von der benannten Ausländerbehörde herrührt und eine Übermittlung mit Entfaltung von Rechtswirkung nach Außen beabsichtigt war – was hier der Fall ist, da der Haftantrag unterschrieben, mit Unterschrift versehen, eingescannt und als PDF-Anhang versandt wurde – wird kein subjektives Recht des Betroffenen verletzt.
30
c) Es liegen jedoch weder die Voraussetzungen der vom Amtsgericht angenommenen widerleglichen Vermutungen für eine Fluchtgefahr gemäß §§ 57 Abs. 3, 62 Abs. 3, Abs. 3 a Nr. 2, Nr. 3, Nr. 5 AufenthG noch die im Haftantrag vorgebrachten widerleglichen Vermutungen bzw. konkreten Anhaltspunkte für eine Fluchtgefahr gemäß §§ 57 Abs. 3, 62 Abs. 3, Abs. 3 a Nr. 2, Nr. 3, Abs. 3 b Nr. 5, Nr. 6 AufenthG vor noch kann angesichts der Gesamtumstände aufgrund des aus der Ausländerakte bekannten Sachverhalts unabhängig von den Voraussetzungen der § 62 Abs. 3 a und 3 b AufenthG auf eine Fluchtgefahr i.S.d. § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 geschlossen werden.
31
aa) Fluchtgefahr wird gemäß § 62 Abs. 3 a Nr. 2 AufenthG widerleglich vermutet, wenn der Ausländer unentschuldigt zur Durchführung einer Anhörung oder ärztlichen Untersuchung nach § 82 Absatz 4 Satz 1 AufenthG nicht an dem von der Ausländerbehörde angegebenen Ort angetroffen wurde, sofern der Ausländer bei der Ankündigung des Termins auf die Möglichkeit seiner Inhaftnahme im Falle des Nichtantreffens hingewiesen wurde. Es wurden zwar am 02.01.2020 und am 22.02.2021 entsprechende Schreiben an den damaligen Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen versandt; allerdings befinden sich hierfür keine Zustellnachweise in der Akte. Ein Einlieferungsbeleg reicht nicht. Darüber hinaus ist fraglich, ob der zeitliche Zusammenhang dieses Verstoßes zur zwei Jahre später erst durchgeführten Abschiebung noch gewahrt ist.
32
bb) Fluchtgefahr wird gemäß § 62 Abs. 3 a Nr. 3 AufenthG widerleglich vermutet, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Ausländer seinen Aufenthaltsort trotz Hinweises auf die Anzeigepflicht gewechselt hat, ohne der zuständigen Behörde eine Anschrift anzugeben, unter der er erreichbar ist. Eine Wohnsitzüberprüfung durch die PI B. A. am 04.03.2021 ergab zwar, dass sich der Betroffene an der Meldeadresse nicht mehr aufhält; er galt seit dem 18.03.2021 als nach Unbekannt verzogen. Ein Wiederzuzug erfolgte erst am 06.04.2022, als der Betroffene sich bei der Erstaufnahmeeinrichtung in München zurückmeldete. Damit gab der Betroffene für über ein Jahr der Ausländerbehörde seinen Aufenthaltsort nicht an. Dieser Verstoß lag bei Beschlusserlass allerdings bereits über ein Jahr zurück; der erforderliche zeitliche Zusammenhang zur Abschiebung (vgl. Hofmann/Keßler, Ausländerrecht, § 62 AufenthG Rn. 30 m.w.N.) ist daher nicht mehr gegeben. Außerdem ist nicht zu sehen, dass sich der Betroffene durch den Wechsel des Aufenthaltsortes aktiv und zielgerichtet dem Zugriff der Behörde entzogen hat (vgl. Hofmann/Keßler, Ausländerrecht, § 62 AufenthG Rn. 30). Auch der Telefonvermerk des Landratsamts T. über das Telefonat mit der PI W. vom 08.02.2023 kann nicht herangezogen werden. Diese teilte lediglich mit, dass sich der Betroffene nie in seiner Unterkunft … aufhalte und bereits bei mehreren Einsätzen in der Vergangenheit (z.B. Zwangsvorführung bei der gambischen Botschaftsdelegation zur Ausstellung von Passersatzpapieren) nicht in seiner Unterkunft angetroffen habe werden können. Es fehlt in der Ausländerakte jedoch an konkreten Nachweisen, an welchen Tagen der Betroffene nicht angetroffen werden konnte. Von den gambischen Behörden wurden im Übrigen bereits am 23.04.2021 ein Heimreiseschein für den Betroffenen ausgestellt. Der pauschale Hinweis, der Betroffene halte sich „nie“ an seiner Unterkunft auf, reicht jedenfalls nicht. Zumal sich die Ausländerbehörden hier zu sich selbst in Widerspruch setzen: Einerseits gehen sie davon aus, dass der Betroffene an seiner Unterkunft, an der er gemeldet ist, auch wohnhaft ist, da ihm dort beispielsweise der Bescheid des BAMF vom 16.12.2022 zugestellt wurde und beispielsweise auch das Anschreiben zur Duldungsverlängerung noch am 02.02.2023 in diese Unterkunft versandt wurde und der Betroffene vom Termin am 16.02.2023 zur Duldungsverlängerung, an dem er verhaftet wurde, offenbar auch Kenntnis erlangte, da er erschien. Andererseits wird auf den pauschalen Hinweis, er halte sich nie in der Unterkunft auf, ein Haftgrund gestützt. Für die Beschwerdekammer ist daher aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse zum Sachverhalt nicht ausreichend dargetan, dass der Betroffene tatsächlich dauerhaft seinen Wohnort gewechselt hat, ohne dies der Ausländerbehörde gegenüber anzugeben.
33
cc) Fluchtgefahr wird gemäß § 62 Abs. 3 a Nr. 5 AufenthG weiter widerleglich vermutet, wenn der Ausländer sich bereits in der Vergangenheit der Abschiebung entzogen hat. Da am 08.03.2023 erstmals die Abschiebung geplant war und auch durchgeführt wurde, sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt.
34
dd) Ein konkreter Anhaltspunkt für Fluchtgefahr i.S.d. § 62 Abs. 3 b Nr. 5 AufenthG kann ferner sein, dass der Ausländer die Passbeschaffungspflicht nach § 60 b Abs. 3 S. 1 Nr. 1, 2 und 6 AufenthG nicht erfüllt oder andere als die in § 62 Abs. 3 a Nr. 2 genannten gesetzlichen Mitwirkungshandlungen zur Feststellung der Identität, insbesondere die ihm nach § 48 Abs. 3 S. 1 AufenthG obliegenden Mitwirkungshandlungen, verweigert oder unterlassen und vorher auf die Möglichkeit seiner Inhaftnahme im Falle der Nichterfüllung der Passersatzbeschaffungspflicht bzw. der Verweigerung oder Unterlassung der Mitwirkungshandlung hingewiesen wurde. Der Betroffene wurde zwar mit mehreren Schreiben aus den Jahren 2017 bis 2019 erfolglos aufgefordert, an seiner Identitätsklärung mitzuwirken und Identitätsnachweise vorzulegen. In diesen Schreiben fehlte jedoch die Belehrungspflicht. Das Schreiben vom 02.12.2020 enthielt schließlich die erforderliche Belehrung über die Möglichkeit der Inhaftnahme und wurde auch an den damaligen Verfahrensbevollmächtigten zugestellt. Aus der Ausländerakte geht auch mehrfach hervor, dass der Betroffene sich auf Deutsch verständigen kann. Allerdings fehlt es auch hier am erforderlichen zeitlichen Zusammenhang zu einer konkret bevorstehenden Abschiebung (vgl. Hofmann/Keßler, Ausländerrecht, § 62 AufenthG Rn. 39), da die Abschiebung erst mehr als zwei Jahre nach Herausgabe des Schreibens betrieben wurde.
35
ee) Ein konkreter Anhaltspunkt für Fluchtgefahr i.S.d. § 62 Abs. 3 b Nr. 6 AufenthG kann ferner sein, dass der Ausländer nach Ablauf der Ausreisefrist wiederholt gegen eine Pflicht nach § 61 Abs. 1 S. 1, Abs. 1 a, 1 c S. 1 Nr. 3 oder S. 2 AufenthG verstoßen hat. Dem Betroffenen wurde mit Bescheid vom 20.05.2019, zugestellt an seinen damaligen Verfahrensbevollmächtigten eine räumliche Beschränkung für den Landkreis Rosenheim gemäß § 61 Abs. 1 c S. 1 Nr. 1 AufenthG auferlegt. Hiergegen verstieß er am 20.10.2019, 02.03.2020, 04.10.2020 und zuletzt am 27.03.2021. Einen konkreten Anhaltspunkt für Fluchtgefahr bieten jedoch nur Verstöße gegen Pflichten nach § 61 Abs. 1 S. 1, Abs. 1 a, 1 c S. 1 Nr. 3 oder S. 2 AufenthG, aber nicht nach § 61 Abs. 1 c S. 1 Nr. 1 AufenthG.
36
ff) Auch bei einer Gesamtschau des Sachverhalts mag zwar durchaus von einer gewissen Unzuverlässigkeit des Betroffenen ausgegangen werden. Der Gesetzgeber hat aber bewusst durch Normierung konkreter Sachverhaltsgestaltungen in § 62 Abs. 3 a und 3 b AufenthG den Begriff der Fluchtgefahr ausformen und spezifizieren wollen. Allein aufgrund des Verhaltens des Betroffenen in den Jahren seit Ablauf seiner Ausreisepflicht, das wie aufgezeigt keinen der Tatbestände des § 62 Abs. 3 a und 3 b AufenthG erfüllt, kann nicht allgemein auf eine Fluchtgefahr geschlossen werden. Die fluchtgefahrbegründenden Handlungen liegen entweder zu lange zurück oder sind nicht konkret nachgewiesen.
37
d) Die weiteren Einwände des Verfahrensbevollmächtigten gegen die Haftanordnung können daher dahinstehen.
38
3. Es liegt kein Verstoß gegen Art. 104 Abs. 4 GG vor, auch wenn der Betroffene keine Vertrauensperson benannt hatte.
39
Gemäß § 432 FamFG hat das Gericht von der Anordnung der Freiheitsentziehung und deren Verlängerung einen Angehörigen des Betroffenen oder eine Person seines Vertrauens unverzüglich zu benachrichtigen. Hiermit wird der inhaltsgleiche Art. 104 Abs. 4 GG einfachgesetzlich umgesetzt.
40
Ein Verzicht auf die Benachrichtigungspflicht ist nach überzeugender Ansicht möglich (vgl. BayObLG, Beschl. v. 04.04.1975 – 3 Z 32/75, Haußleiter/Heidebach, § 432 FamFG Rn. 5; Hömig/Wolff, Art. 104 GG Rn. 14; vgl. auch BGH, Beschl. v. 21.01.2016 – V ZB 6/14; ablehnend BeckOK-GG/Radtke, Art. 104 GG Rn. 18; restriktiv: Sachs/Degenhart, Art. 104 GG Rn. 26), jedenfalls wenn die Abwägung ergibt, dass das öffentliche Interesse an einer Benachrichtigung gegenüber dem ebenfalls grundrechtlich über das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG) gesicherten Interesse des Betroffenen, keine Person informieren zu wollen, zurücktritt (vgl. Dürig/Herzog/Scholz/Mehde, Art. 104 GG Rn. 167; BeckOK-FamFG/Günter, § 432 Rn. 4; MüKo/FamFG-Wendtland, § 432 Rn. 2; OLG Celle Beschl. v. 22.03.2004, 16 W 37/04).
41
Es gab keine konkrete Veranlassung für das Gericht, geeignete Personen zu ermitteln und ohne den Willen des Betroffenen zu benachrichtigen. Der Betroffene hat wirksam auf die Benachrichtigung durch das Gericht verzichtet.
42
4. Der Antrag auf Gewährung von Verfahrenskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren war zurückzuweisen, da Unterlagen zur Bedürftigkeit nicht vorgelegt wurden.
43
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 S. 1 FamFG.
44
6. Die Festsetzung des Geschäftswerts der Beschwerde beruht auf §§ 61 Abs. 1 Satz 1, 36 Abs. 3 GNotKG.