Titel:
Nachbarklage gegen Bau einer Doppelhaushälfte
Normenketten:
BauGB § 30 Abs. 3, § 34 Abs. 1
BauNVO § 22 Abs. 2
Leitsätze:
1. Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade auch dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind, sodass es nicht genügt, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt sind. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Nachbar, der sich auf der Grundlage des § 34 Abs. 1 BauGB gegen ein Vorhaben im Innenbereich wendet, kann mit seiner Klage nur durchdringen, wenn eine angefochtene Baugenehmigung oder ein planungsrechtlicher Vorbescheid gegen das im Tatbestandsmerkmal des Einfügens enthaltene Gebot der Rücksichtnahme verstößt; dies gilt auch hinsichtlich der Bauweise. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Zulässigkeit einer Bebauung als Doppelhaus setzt einen wechselseitigen Verzicht auf seitliche Grenzabstände an der gemeinsamen Grundstücksgrenze voraus, wobei dieser Verzicht die benachbarten Grundeigentümer bauplanungsrechtlich in ein Verhältnis des gegenseitigen Interessensausgleichs einbindet, wodurch die Baufreiheit zugleich erweitert und beschränkt wird. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
4. Ein Doppelhaus iSd § 22 Abs. 2 S. 1 BauNVO ist eine bauliche Anlage, die dadurch entsteht, dass zwei Gebäude auf benachbarten Grundstücken durch Aneinanderbauen an der gemeinsamen Grundstücksgrenze zu einer Einheit zusammengefügt werden. Kein Doppelhaus bilden dagegen zwei Gebäude, die sich zwar an der gemeinsamen Grundstücksgrenze noch berühren, aber als zwei selbstständige Baukörper erscheinen. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
5. Bei der Befreiung von einer Festsetzung, die nicht auch den Zweck hat, die Rechte des Nachbarn zu schützen, sondern „nur“ dem Interesse der Allgemeinheit an einer geordneten städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz gleichwohl nach den Grundsätzen des Rücksichtnahmegebots. Nachbarrechte werden in diesem Falle verletzt, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird. (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Vorbescheid (Nachbaranfechtung), Neubau einer Doppelhaushälfte an eine bestehende Doppelhaushälfte, Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot (Doppelhausrechtsprechung), Nachbarklage, Baugenehmigung, Doppelhaus, Doppelhaushälfte, Drittschutz, Einfügen, offene Bauweise, unbeplanter Innenbereich, Befreiung, Rücksichtnahmegebot
Fundstelle:
BeckRS 2023, 3851
Tenor
I. Der Vorbescheid der Beklagten vom 4. Februar 2021 (Az.: ...) wird aufgehoben.
II. Die Beklagte und der Beigeladene haben die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte zu tragen
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Kläger begehren als Nachbarn die Aufhebung des dem Beigeladenen erteilten Vorbescheids vom 4. Februar 2021 mit dem die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Neubaus einer Doppelhaushälfte mit Garage auf dem Grundstück Fl.Nr. … Gemarkung ..., …straße 4a (im Folgenden: Baugrundstück) bejaht wurde.
2
Die Kläger sind Eigentümer des Grundstücks Fl.Nr. … Gemarkung ..., …straße 4 (im Folgenden: Klägergrundstück), welches im Norden unmittelbar an das Baugrundstück angrenzt. Das Klägergrundstück ist mit einer Doppelhaushälfte – genehmigt durch Baugenehmigung vom 11. Mai 1938 nach Plan Nr. … – bebaut. Ausweislich der genehmigten Pläne beträgt die Breite des Hauses 9,40 m, die Wandhöhe 6,50 m und die Firsthöhe 11,60 m. Das Gebäude verfügt über ein Erdgeschoss, ein 1. Obergeschoss sowie ein Dachgeschoss, das von der Giebelseite mit zwei Fenstern und in der Dachfläche von einer Dachgaube Richtung Westen mit einer Ansichtsfläche von 1 m x 1,20 m belichtet wird. Die Dachneigung des Satteldachs beträgt ca. 47° (abgegriffen).
3
Bis zum Abbruch im Sommer 2021 bestand auf dem Baugrundstück, unmittelbar an der Grundstücksgrenze zum Klägergrundstück, eine profilgleich an die Doppelhaushälfte auf dem Klägergrundstück angebaute Doppelhaushälfte mit spiegelbildlichem Aufbau (Baugenehmigung vom 17. November 1936 nach Plan Nr. …).
4
Am 22. Dezember 2020 (Eingangsdatum; Plan Nr. …) beantragte der Beigeladene die Erteilung eines Vorbescheids. Das in den zum Vorbescheidsantrag beigegebenen Plänen auf dem Baugrundstück dargestellte Vorhaben wurde als „Neubau einer Satteldach-Doppelhaushälfte mit Gauben mit Garage“ bezeichnet. Die Planung sieht die Errichtung eines zum Klägergrundstück grenzständigen Baukörpers vor, der an der gemeinsamen Grundstücksgrenze eine Breite von 14 m aufweist und straßenseitig profilgleich an das bestehende Gebäude auf dem Klägergrundstück anschließt, während es auf der Westseite zum Garten hin 4,60 m über die westliche Gebäudeaußenwand des Bestandsgebäudes auf dem Klägergrundstück hinausreicht. Das geplante Gebäude soll auf der Straßenseite die gleiche Dachneigung wie das Bestandsgebäude auf dem Klägergrundstück erhalten. Richtung Westen soll die Dachneigung deutlich flacher (30°) ausgeführt werden. Im Dachbereich ist zur Straßenseite und zur Gartenseite jeweils eine umfangreiche Durchbrechung des Dachs vorgesehen. Die Oberkante dieser Dachgeschosserweiterungen ist in den Plänen mit einer Wandhöhe von 9,97 m vermaßt. Dieser Bereich des Daches hat auf beiden Dachseiten eine Breite von ca. 6,40 m (abgegriffen/vermaßt) bei einer vermaßten Dachbreite von 8,90 m. Die nördliche Abschlusswand dieser Dachgeschosserweiterungen ist ca. 1,25 m von der Grundstücksgrenze zum Klägergrundstück entfernt. Der Hauptbaukörper hat im Bereich der mehrgeschossigen Bebauung eine Grundfläche von 14 m x 8,90 m. An der Westseite und Südseite schließt sich daran ein eingeschossiger Anbau an, der Richtung Westen um 2 m, Richtung Süden um 1,35 m über den Hauptbaukörper hinausgeht.
5
Mit dem Vorbescheidsantrag wurden folgende Fragen gestellt:
6
1) Ist das Vorhaben vom Maß der baulichen Nutzung entsprechend Plandarstellung planungsrechtlich zulässig?
7
2) Ist das Vorhaben im Hinblick auf die überbaubare Grundstücksfläche planungsrechtlich zulässig und wird insoweit eine Befreiung wegen Überschreitung der rückwärtigen Baugrenze entsprechend Plandarstellungen in Aussicht gestellt?
8
3) Wird den im Dachbereich vorgesehenen Gauben entsprechend Plandarstellung zugestimmt?
9
4) Wird der Fällung der Bäume 1-5 gegen Ersatzpflanzung zugestimmt?
10
Mit Bescheid vom 4. Februar 2021 beantwortete die Beklagte die Vorbescheidsfragen 1 bis 3 uneingeschränkt mit „ja“ und führte jeweils aus, dass sich der Baukörper nach „Art und Maß“ in die Umgebung einfüge und eine Befreiung wegen der Überschreitung der rückwärtigen Baugrenze in Aussicht gestellt werden könne. Die Frage 4 blieb aufgrund des Fehlens ausreichender Angaben unbeantwortet.
11
Mit Schriftsatz vom 23. Februar 2021 erhoben die Kläger Klage.
13
Der Vorbescheid der Beklagten vom 4. Februar 2021 Az.: … wird aufgehoben.
14
Die Verwirklichung des Neubauvorhabens führe dazu, dass vom planungsrechtlichen Konzept des Doppelhauses abgewichen werde und ein unzulässiges grenzständiges Gebäude entstehe. Die beiden Haushälften seien nicht mehr wechselseitig aufeinander abgestimmt, weshalb nicht mehr von einem Doppelhaus als einheitlichem Gesamtbaukörper ausgegangen werden könne. In Bezug auf die Grenzwandlänge seien die derzeitigen Bestandsbaukörper mit einer Länge von 9,4 m aneinandergebaut. Der geplante Neubau überschreite diese Grenzwandlänge um 4,6 m, unter Berücksichtigung des erdgeschossigen Anbaus um 6,6 m und aufgrund der Wandhöhe im Grenzbereich von ca. 8,6 m ergebe sich eine fensterlose Wandscheibe von ca. 40 m² im Grenzbereich. Die Grundfläche des Neubaus sei mit der Grundfläche des Bestandsgebäudes nicht mehr vergleichbar. Das Anwesen der Kläger stelle sich nach Verwirklichung des Neubaus als „Anhängsel“ dar. Auch für eine Überschreitung der Baugrenze gebe es keine Rechtfertigung. Das Vorhaben sei im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Doppelhaus als rücksichtslos zu bewerten. Insbesondere die Belichtung der Wohnräume im Erdgeschoss des Anwesens der Kläger werde erheblich beeinträchtigt.
15
In der mündlichen Verhandlung vom 13. Februar 2023 stellten die Kläger klar, dass sich der Aufhebungsantrag nicht auf die Beantwortung der Frage 4 des Vorbescheidsantrages beziehe.
16
Die Beklagte beantragt,
18
Eine Stellungnahme in der Sache erfolgte nicht.
19
Die Beigeladenen beantragen,
21
Die Berechnungen der Kläger zu den Größenverhältnissen seien teilweise unzutreffend. Die Beantwortung der Fragen 2, 3 und 4 verletze keine nachbarlichen Belange. Die rückwärtige Baugrenze vermittle keinen Nachbarschutz. Gleiches gelte für die Beantwortung der Frage 3 hinsichtlich der Dachform.
22
Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebotes durch die unterschiedliche Gestaltung der Haushälften in Form eines Verstoßes gegen die Doppelhausrechtsprechung liege nicht vor. Beide Haushälften hätten gleiche Wand- und Firsthöhen. Der Versatz an der Grundstücksgrenze stelle eine Erweiterung um weniger als die Hälfte des Bestandes dar. In der Rechtsprechung werde auch ein größerer Versatz für zulässig erachtet. Die beiden Hälften seien noch als eine bauliche Einheit anzusehen.
23
Die Beklagte hat dem Beigeladenen am 27. Dezember 2021 eine Baugenehmigung zur Errichtung eines der Planung im Vorbescheidsantrag weitgehend vergleichbaren Baukörpers erteilt. Auf die hiergegen gerichtete Klage der Kläger wurde die Baugenehmigung mit Urteil der erkennenden Kammer vom heutigen Tag aufgehoben (Verfahren M 8 K 22.386). Bereits mit Beschluss vom 5. April 2022 war die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet worden (Verfahren M 8 SN 22.388).
24
Wegen der weiteren Einzelheiten und zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen wird auf die vorgelegten Behördenakten und sowie die Gerichtsakte in diesem und in den Verfahren M 8 SN 22.388 und M 8 K 21.989 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
25
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Vorbescheid ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
26
1. Streitgegenstand ist – wie die Kläger in der mündlichen Verhandlung klargestellt haben – der Vorbescheid der Beklagten insofern, als damit zu den Fragen 1 bis 3 eine Regelung getroffen wurde und eine bindende Antwort auf die Vorbescheidsfragen gegeben wurde. Zu Frage 4 enthält der Vorbescheid keine Regelung. Die Beklagte hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Frage 4 des Vorbescheidsantrags aufgrund fehlender Angaben zu den Baumarten nicht beantwortet werden könne. Mit Frage 1 und 3 ist bei sachgerechter Auslegung insgesamt nach der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit des Maßes der Nutzung des in den Plänen dargestellten Baukörpers gefragt. Die durch die Fragestellung vorgesehene Aufteilung der bauplanungsrechtlichen Beurteilung nach dem zulässigen Nutzungsmaß in den allgemeinen Baukörper und die Dachaufbauten ist nicht möglich, da ein Vorhaben nicht hinsichtlich einzelner Teile des Baukörpers beurteilt werden kann. Zugunsten des Bauherren waren Fragen 1 und 3 daher zusammen zu lesen und als einheitliche Frage nach dem bauplanungsrechtlich zulässigen Nutzungsmaß auszulegen. So hat die Beklagte die Fragen offenbar verstanden und in beiden Antworten ein bauplanungsrechtlich zulässiges Maß der baulichen Nutzung bestätigt. Mit der Antwort auf Frage 2 wird die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit der Planung hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche bestätigt und zugleich eine Befreiung wegen Überschreitung der rückwärtigen Baugrenze in Aussicht gestellt.
27
Der so zu verstehende Vorbescheid verstößt mit seiner gesamten Regelungswirkung gegen drittschützende Rechte der Kläger (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Da mit der Antwort auf Frage 4 lediglich Hinweise gegeben wurden, ohne eine Regelung über diese Frage zu treffen, konnte im Urteilstenor die Aufhebung des Vorbescheids insgesamt erfolgen ohne über den Klageantrag hinaus zu gehen.
28
2. Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade auch dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (BayVGH, B.v. 21.07.2020 – 2 ZB 17.1309 – juris Rn. 4; B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20). Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt sind. Zu prüfen ist daher allein die Verletzung nachbarschützender Vorschriften.
29
Bauplanungsrechtlicher Nachbarschutz ist vorliegend, da sich die Genehmigungsfähigkeit des streitgegenständlichen Vorhabens nach § 30 Abs. 3, § 34 BauGB beurteilt, aus § 34 BauGB herzuleiten. Ein Nachbar, der sich auf der Grundlage des § 34 Abs. 1 BauGB gegen ein Vorhaben im Innenbereich wendet, kann mit seiner Klage nur durchdringen, wenn eine angefochtene Baugenehmigung oder ein planungsrechtlicher Vorbescheid gegen das im Tatbestandsmerkmal des Einfügens enthaltene Gebot der Rücksichtnahme verstößt (stRspr, BVerwG, U.v. 5.12. 2013 – 4 C 5.12, ZfBR 2014, 257, m.w.N.). Dies gilt auch hinsichtlich der Bauweise (vgl. BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5/12 – BVerwGE 148, 290 – juris Rn. 19 f.).
30
2.1 Der Vorbescheid verstößt durch die positive Beantwortung der Fragen 1 und 3 gegen das im vorliegenden Fall gem. § 30 Abs. 3 BauGB i.V.m. § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB im Begriff des „Einfügens“ enthaltene Rücksichtnahmegebot.
31
Bei der hier streitgegenständlichen Bebauung ist das Rücksichtnahmegebot in seiner besonderen Ausprägung in Form der Grundsätze der sog. Doppelhausrechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu beachten, die auch in dem in offener Bauweise bebauten unbeplanten Innenbereich über das im Tatbestandsmerkmal des Einfügens in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltene Gebot der Rücksichtnahme grundsätzlich zur Anwendung kommen können (vgl. BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – juris Rn. 12).
32
Ist ein unbeplanter Innenbereich in offener Bauweise bebaut, weil dort nur Einzelhäuser, Doppelhäuser und Hausgruppen im Sinn von § 22 Abs. 2 BauNVO den maßgeblichen Rahmen bilden, fügt sich ein grenzständiges Vorhaben im Sinn von § 34 Abs. 1 BauGB grundsätzlich nicht nach der Bauweise ein, wenn es unter Beseitigung eines bestehenden Doppelhauses grenzständig errichtet wird, ohne mit dem verbleibenden Gebäudeteil ein Doppelhaus zu bilden (vgl. BVerwG, U.v. 19.3.2015 – 4 C 12.14 – BauR 2015, 1309; U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – juris). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts setzt die Zulässigkeit einer Bebauung als Doppelhaus einen wechselseitigen Verzicht auf seitliche Grenzabstände an der gemeinsamen Grundstücksgrenze voraus. Danach bindet dieser Verzicht die benachbarten Grundeigentümer bauplanungsrechtlich in ein Verhältnis des gegenseitigen Interessensausgleichs ein, wodurch die Baufreiheit zugleich erweitert und beschränkt wird. Einerseits wird durch die Möglichkeit des Grenzanbaus die bauliche Nutzbarkeit der Grundstücke erhöht, was aber durch den Verlust seitlicher Grenzabstände an der gemeinsamen Grenze, die Freiflächen schaffen und dem Wohnfrieden dienen, erkauft wird (BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – juris Rn. 22 m.w.N.). Diese Interessenlage rechtfertigt es, dem Bauherrn eine Rücksichtnahmeverpflichtung aufzuerlegen, die eine grenzständige Bebauung ausschließt, wenn er den bisher durch das Doppelhaus gezogenen Rahmen überschreitet und der Doppelhauscharakter durch die Änderung entfällt.
33
Ein Doppelhaus im Sinn des § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO ist eine bauliche Anlage, die dadurch entsteht, dass zwei Gebäude auf benachbarten Grundstücken durch Aneinanderbauen an der gemeinsamen Grundstücksgrenze zu einer Einheit zusammengefügt werden. Kein Doppelhaus bilden dagegen zwei Gebäude, die sich zwar an der gemeinsamen Grundstücksgrenze noch berühren, aber als zwei selbstständige Baukörper erscheinen. Ein Doppelhaus verlangt ferner, dass die beiden Haushälften in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinandergebaut werden (BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – juris Rn. 13 m.w.N.). Demnach liegt eine bauliche Einheit vor, wenn die einzelnen Gebäude einen harmonischen Gesamtkörper bilden, der nicht den Eindruck eines einseitigen Grenzanbaus vermittelt. Voraussetzung ist insoweit zwar nicht, dass die einzelnen Häuser gleichzeitig und deckungsgleich errichtet werden müssen. Ein einheitlicher Gesamtbaukörper kann auch noch vorliegen, wenn z.B. aus gestalterischen Gründen die gemeinsame vordere und/oder rückwärtige Außenwand des einheitlichen Baukörpers durch kleine Vor- und Rücksprünge aufgelockert wird (BayVGH, U.v. 11.12.2014 – 2 BV 13.789 – juris Rn. 27 m.w.N.). Zu fordern ist jedoch, dass die einzelnen Gebäude zu einem wesentlichen Teil (quantitativ) und in wechselseitig verträglicher und harmonischer Weise (qualitativ) aneinandergebaut sind (BayVGH, U.v. 11.12.2014 a.a.O. m.w.N.). In quantitativer Hinsicht können bei der Beurteilung der Verträglichkeit des Aneinanderbauens insbesondere die Geschoßzahl, die Gebäudehöhe, die Bebauungstiefe und -breite sowie das durch diese Maße im Wesentlichen bestimmte oberirdische Brutto-Raumvolumen zu berücksichtigen sein. In qualitativer Hinsicht kommt es u.a. auch auf die Dachgestaltung und die sonstige Kubatur des Gebäudes an. Bei den quantitativen Kriterien ist eine mathematisch-prozentuale Festlegung nicht möglich, vielmehr ist eine Gesamtwürdigung des Einzelfalls anzustellen. Es ist qualitativ insbesondere die wechselseitig verträgliche Gestaltung des Gebäudes entscheidend, auf die umgebende Bebauung kommt es insoweit nicht an (vgl. BVerwG, U.v. 19.3.2015 – 4 C 12.14 – juris Rn. 14 ff.). Die beiden „Haushälften“ können auch zueinander versetzt oder gestaffelt an der Grenze errichtet werden, sie müssen jedoch zu einem wesentlichen Teil aneinandergebaut sein. Kein Doppelhaus entsteht danach, wenn ein Gebäude gegen das andere an der gemeinsamen Grundstücksgrenze so stark versetzt wird, dass sein vorderer oder rückwärtiger Versprung den Rahmen einer wechselseitigen Grenzbebauung überschreitet, den Eindruck eines einseitigen Grenzanbaus vermittelt und dadurch einen neuen Bodennutzungskonflikt auslöst.
34
Gemessen an diesen Grundsätzen liegt im Fall der Errichtung des von den Beigeladenen geplanten Neubaus kein aus den beiden Haushälften gebildeter einheitlicher Baukörper mehr vor. Eine harmonische Beziehung der Gebäude zueinander bestünde nicht mehr und das nachbarliche Austauschverhältnis würde aus dem Gleichgewicht gebracht. Die streitgegenständliche Planung lässt eine Abstimmung der beiden Haushälften aufeinander vollständig vermissen. Es besteht nicht nur ein erheblicher Versatz der Baukörper zueinander, indem die geplante Bebauung um 4,60 m weiter nach Westen rückt als die Grenzwand des Bestandes auf dem Klägergrundstück (die Hausbreite des Anwesens der Kläger beträgt nach der Darstellung im genehmigten Plan (Grundriss Erdgeschoss) 9,40 m (Bemaßung), die Hausbreite des streitgegenständlichen Vorhabens an der Grenze 14,00 m). Durch die abweichende Geschossigkeit, die Dachgeschosserweiterungen, die Richtung Westen nicht vergleichbare Dachneigung, die Anbauten und die größere Grundfläche ist ein Zusammenhang zwischen den beiden Haushälften im Sinne eines aufeinander abgestimmten Gesamtbaukörpers nicht mehr erkennbar.
35
Bei der Betrachtung quantitativer Kriterien lassen sich kaum solche finden, in denen die beiden Haushälften künftig übereinstimmen. Die streitgegenständliche Haushälfte ist in Bezug auf die Geschossigkeit, die Grundfläche, das Bauvolumen und den Umfang der Grenzbebauung nicht mit der Haushälfte der Kläger vergleichbar. Es kann dabei dahinstehen, wie die prozentuale Überschreitung der Größe der grenzständigen Wand des streitgegenständlichen Vorhabens im Verhältnis zur Haushälfte der Kläger im Einzelnen zu bemessen ist. Angesichts der erheblichen Abweichung in mehreren Maßkriterien kommt es auf die von den Parteien unterschiedlich bezifferten Werte nicht an. Entscheidend ist die Gesamtbetrachtung der quantitativen und qualitativen Kriterien. Ein mathematisch-prozentualer Ansatz wäre ebenso verfehlt wie eine feste oder indizielle Grenze von 50% der Übereinstimmung (BVerwG, U. v. 19.3.2015 – 4 C 12.14 – juris Rn. 17).
36
Das streitgegenständliche Vorhaben ist insbesondere hinsichtlich seiner Geschossigkeit mit der Haushälfte der Kläger nicht mehr zu vergleichen. Das Dachgeschoss des geplanten Vorhabens ist als vollständiges Geschoss geplant, das hinsichtlich seiner Grundfläche nicht hinter das 1. Obergeschoss zurücktritt. Es handelt sich nach den Angaben im Vorbescheidsantrag um ein Vollgeschoss mit einer Geschossfläche von 115 m². Für das 1. Obergeschoss wird eine Geschossfläche von 125 m² ausgewiesen. Durch die im Dachgeschoss auf beiden Dachseiten vorgesehenen Durchbrechungen des Satteldaches mit einer als Wand wirkenden Ansichtsfläche entsteht äußerlich der Eindruck eines 2. Obergeschosses. Mit dieser Gestaltung des Dachgeschosses weicht die Planung vollkommen von der Gestaltung der Haushälfte der Kläger ab. Das dort bestehende Dachgeschoss tritt nach außen kaum in Erscheinung, da es lediglich Richtung Westen eine kleine Dachgaube aufweist. Der Baukörper erscheint zweigeschossig mit einem einheitlichen steilen Satteldach. Nach den Plänen in der Baugenehmigung vom 11. Mai 1938 befinden sich dort nur zwei kleine Räume, die von der Giebelseite belichtet werden und ein Speicherraum. Demgegenüber wird das Dach des geplanten Vorhabens von den Durchbrechungen des Daches dominiert. Die Dachgeschosserweiterungen erstrecken sich nahezu über die gesamte Breite der jeweiligen Dachseite und stellen in der Dachgeschossebene eine Verlängerung der Außenwand dar. Sie treten weitestgehend an die Stelle einer schräg geneigten Dachfläche. Die geplante Haushälfte wirkt daher dreigeschossig, während die Haushälfte der Kläger nur zwei Geschosse aufweist.
37
Die geplante Bebauung hat zudem im Erdgeschoss eine weit über die Maße der Haushälfte der Kläger hinausgehende Grundfläche. Während die Breite des Baukörpers der Kläger ausweislich der Angaben im genehmigten Plan vom 11. Mai 1938 lediglich 8 m beträgt und dieser eine Tiefe von 9,40 m hat, sieht die geplante Haushälfte auf der Gartenseite eine Breite von 10,25 m vor. Die Tiefe des Baukörpers beträgt ausweislich der Maßangaben in dem streitgegenständlichen Plan an der gemeinsamen Grundstücksgrenze 14 m, im Bereich des Anbaus im Süden 16 m. Die Grundflächen der beiden Haushälften sind damit nicht annähernd vergleichbar. An der gemeinsamen Grundstücksgrenze ergibt sich ein Versatz in Erdgeschoss, Obergeschoss und Dachgeschoss von 4,60 m, der mit dem erdgeschossigen Anbau im Südwesten nochmals um 2 m erweitert wird.
38
Angesichts der Durchbrechung des Daches an der Westseite des geplanten Gebäudes durch die Dacherweiterung ergibt sich an der Westseite eine Wandhöhe von 9,77 m (vermaßt). Demgegenüber beträgt die genehmigte Wandhöhe der Haushälfte der Kläger 6,30 m (abgegriffen).
39
In Anbetracht der dargestellten Maße ergibt sich ein Volumen des geplanten Baukörpers, das weit über das Volumen der Haushälfte der Kläger hinausgeht. Bei einer Gesamtschau lassen es die Überschreitungen in nahezu allen Faktoren somit nicht zu, von einem quantitativ mit der bestehenden Haushälfte abgestimmten Baukörper zu sprechen.
40
Auch bei qualitativer Betrachtung der Planung ist festzustellen, dass diese keine harmonische Abstimmung mit der bestehenden Haushälfte darstellt. Es entsteht weder ein einheitlicher Gesamtbaukörper, noch kann von einer wechselseitig verträglichen Bebauung gesprochen werden. Vielmehr bringt das geplante Vorhaben das nachbarschaftliche Austauschverhältnis erheblich aus dem Gleichgewicht.
41
Die Beeinträchtigung des nachbarschaftlichen Austauschverhältnisses ergibt sich zunächst aufgrund der deutlichen Überschreitung der Tiefe der bestehenden Haushälfte der Kläger an der gemeinsamen Grundstücksgrenze und der sich daraus ergebenden einseitigen Grenzbebauung. An der Südseite des Anwesens der Kläger entstünde bei Realisierung der streitgegenständlichen Planung eine grenzständige und grenznahe Bebauung, die über das hinausgeht, was bei einer aufeinander abgestimmten Doppelhausbebauung hinzunehmen wäre. Neben dem einseitigen Grenzanbau von 4,60 m im Erd- und Obergeschoss führt die Dachgestaltung des geplanten Gebäudes auf der Westseite zu einer weiteren Erhöhung der Massivität der einseitigen Grenzbebauung. Es ergibt sich damit auch im Bereich des Daches und über das 1. Obergeschoss hinausgehend eine grenzständige Wand, die weit über das Maß hinausgeht, mit dem die Haushälfte der Kläger im Giebelbereich an der gemeinsamen Grundstücksgrenze steht.
42
Hinzu kommt, dass die Dachgeschosserweiterung in Form eines „aufgeklappten“ Daches auf der Westseite des geplanten Baukörpers wie eine Erweiterung der bereits überdimensionierten Grenzwand wirkt. Die nördliche Seitenwand der geplanten Dachgeschosserweiterung weist lediglich eine Entfernung von 1,25 m von der gemeinsamen Grundstücksgrenze auf. Angesichts einer sehr geringen Dachneigung der Dachgeschosserweiterung ergibt sich Richtung Norden zum Grundstück der Kläger eine weitere Wandscheibe in einer Entfernung von nur ca. 1,25 m zur Grundstücksgrenze. In der Summe wirkt damit die geplante Bebauung gegenüber dem Grundstück der Kläger wie eine dreigeschossige grenzständige Wand mit einer Tiefe von 4,60 m für die es auf dem Grundstück der Kläger keine Entsprechung gibt.
43
Auch die äußere Gestalt des geplanten Vorhabens ist in keiner Weise auf die bestehende Haushälfte abgestimmt. Die geplante Bebauung passt sich lediglich mit der ostseitigen Dachneigung an das bestehende Gebäude auf dem Klägergrundstück an. Hinsichtlich sämtlicher anderer äußerlich in Erscheinung tretender Merkmale lässt sich keine Angleichung feststellen. Weder die Firsthöhe noch die Dachneigung auf der Westseite oder die Wandhöhe auf der Westseite und auf der Straßenseite sind der Haushälfte der Kläger angepasst.
44
Die geplante grenzständige Bebauung erweist sich somit gegenüber den Klägern als rücksichtslos. In der geplanten Form fügt sich das Vorhaben nicht in entsprechender Anwendung des § 22 Abs. 2 BauNVO als grenzständiges Doppelhaus in die Umgebung ein. Es kann somit nach planungsrechtlichen Vorschriften nicht an der Grenze errichtet werden. Die mit der Planung für das Grundstück der Kläger einhergehende Beeinträchtigung geht deutlich über das hinaus, was bei einer Doppelhausbebauung hinzunehmen wäre. Durch die grenzständigen Außenwände kommt es auf dem Grundstück der Kläger zu einer unzumutbaren Beeinträchtigung der Belichtung sowie zu einer Verschattung, die nicht im Rahmen des gegenseitigen Austauschverhältnisses hinzunehmen ist.
45
2.2 Die Nachbarrechtsverletzung ergibt sich auch aus der Antwort auf Frage 2 einschließlich der dort in Aussicht gestellten Befreiung von der rückwärtigen Baugrenze.
46
Zwar haben Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche grundsätzlich keine nachbarschützende Wirkung (vgl. BVerwG, B.v. 23.6.1995 – 4 B 52.95 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 18.12.2017 – 9 CS 17.345 – juris Rn. 16 m.w.N), weshalb die Kläger nicht geltend machen können, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht gegeben seien. Bei der Befreiung von einer Festsetzung, die nicht auch den Zweck hat, die Rechte des Nachbarn zu schützen, sondern „nur“ dem Interesse der Allgemeinheit an einer geordneten städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz gleichwohl nach den Grundsätzen des Rücksichtnahmegebots. Nachbarrechte werden in diesem Falle verletzt, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 19.9.1986 – 4 C 8.84 – juris Rn. 17; B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – juris Rn. 6, BayVGH, B.v. 27.11.2019 – 9 CS 19.1595, BeckRS 2019, 32500).
47
Mit der Beantwortung von Frage 2 wird im vorliegenden Fall neben der durch den eingeschossigen Anbau an der Westseite notwendig werdenden Befreiung zugleich die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit nach der überbaubaren Grundstücksfläche bejaht. Damit bestätigt die Antwort die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des in den Plänen dargestellten Gesamtvorhabens nach seiner Lage im Grundstück. Die geplante grenzständige Bebauung ist indes – wie vorstehend unter Nr. 2.1 dargelegt – mit dem Rücksichtnahmegebot in seiner Ausprägung durch die Doppelhausrechtsprechung nicht vereinbar. Damit verletzt auch die Beantwortung der Frage 2 des Vorbescheidsantrags das im Begriff des „Einfügens“ gem. § 30 Abs. 3 BauGB i.V.m. § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB enthaltene Rücksichtnahmegebot.
48
3. Nach alledem war der Klage mit der Kostenfolge gemäß § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Nachdem der Beigeladene einen Antrag gestellt hat und mit diesem unterlegen ist, waren ihm die Hälfte der Kosten aufzuerlegen (§ 154 Abs. 3 VwGO).
49
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).