Inhalt

VG München, Beschluss v. 03.03.2023 – M 4 K 22.6333
Titel:

Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer, Zulässige Untätigkeitsklage, Sofortige Abhilfe

Normenketten:
KDVG
VwGO § 75
VwGO § 92 Abs. 3
VwGO § 161 Abs. 2
VwGO § 156
VwGO § 161 Abs. 3
Schlagworte:
Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer, Zulässige Untätigkeitsklage, Sofortige Abhilfe
Fundstelle:
BeckRS 2023, 3846

Tenor

I. Das Verfahren wird eingestellt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Kläger hat mit Schreiben vom 10. März 2022, bei der Beklagten am ... 2022 eingegangen, beantragt, ihn als Kriegsdienstverweigerer anzuerkennen.
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Am ... 2022 wurde der Musterungsbescheid an die Beklagte übermittelt. Mit Email vom ... 2022 forderte das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten die Zusendung der vollständig ausgefüllten Vollmacht an, weil in der vorliegenden der Name des Antragstellers fehle. Bei nicht eindeutig identifizierbarer Mandatierung dürfe die Korrespondenz nur mit dem Antragsteller geführt werden. Mit Schriftsatz vom ... 2022 erhob der Prozessbevollmächtigte für den Kläger Untätigkeitsklage auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer. Die Beklagte teilte mit Schreiben vom ... 2023 mit, dass sie den Kläger mit Bescheid vom 10. Januar 2023 als Kriegsdienstverweigerer anerkannt habe und den Rechtsstreit in der Hauptsache als erledigt ansehe.
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Die Klagepartei hat mit Schreiben vom ... 2023 den Rechtsstreit unter Verwahrung gegen die Kostenlast für erledigt erklärt.
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Mit Schreiben vom ... 2023 beantragte die Beklagte, die Kosten dem Kläger aufzuerlegen und wies zur Begründung auf u.a. auf entsprechende verwaltungsgerichtliche Entscheidungen, eine Versechsfachung der Antragszahlen nach Ausbruch des Ukrainekriegs, unerwartete personelle Engpässe, in diesem Zusammenhang getroffene organisatorische Maßnahmen zur Bearbeitung des erhöhten Antragsaufkommens und die Umstände im vorliegenden Einzelfall hin.
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Wegen der weiteren Einzelheiten nimmt das Gericht Bezug auf die Gerichts- und die vorgelegte Behördenakte.
II.
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1. Das Verfahren ist in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.
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2. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 161 Abs. 2 VwGO unter Berücksichtigung des Rechtsgedankens von § 156 VwGO (2.1.). Die Voraussetzungen der spezielleren Regelung des § 161 Abs. 3 VwGO liegen nicht vor (2.2.).
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2.1. Ist der Rechtsstreit – wie vorliegend aufgrund der übereinstimmenden Erledigungserklärungen durch Erlass des begehrten Verwaltungsakts – in der Hauptsache erledigt, ist nach § 161 Abs. 2 VwGO über die Kosten des Verfahrens nach billigem Ermessen zu entscheiden. Es entspricht vorliegend – unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands – billigem Ermessen, dem Kläger die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, obwohl er in der Sache obsiegt hat. Das Gericht berücksichtigt bei der Ausübung billigen Ermessens den Rechtsgedanken des § 156 VwGO.
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Gemäß § 156 VwGO fallen dem Kläger die Prozesskosten zur Last, wenn der Beklagte durch sein Verhalten keine Veranlassung zur Erhebung der Klage gegeben hat und den Anspruch sofort anerkennt. Diese Voraussetzungen liegen – entsprechend – vor.
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2.1.1. Die Beklagte hat den Anspruch auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer vorliegend zwar nicht anerkannt, sondern den begehrten Bescheid erlassen und damit eine Erledigungssituation herbeigeführt. Jedoch ist auch in diesem Fall bei der Kostenentscheidung der Rechtsgedanke des § 156 VwGO entsprechend zu berücksichtigen (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 13.3.2918 – 13 ME 38/18 – BeckRS 2018, 3801; Eyermann/Wöckel, VwGO, § 156 Rn. 1).
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2.1.2. Die Herbeiführung der Erledigung ist auch sofort erfolgt. Ein Anerkenntnis (und entsprechend die Erledigung durch Erlass des begehrten Verwaltungsakts) ist dann sofort, wenn es in der ersten sachlichen Äußerung zur Klage – also ohne vorheriges sachliches Bestreiten – abgegeben wird. Dies ist vorliegend mit der Klageerwiderung vom ... 2023 geschehen.
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2.1.3. Die Beklagte hat auch keine Veranlassung zur Klage im Dezember 2022 gegeben. Veranlassung zur Klage gibt der Beklagte, wenn ein vernünftiger Kläger annehmen musste, er werde ohne Klage nicht zu seinem Recht kommen (BVerwG, U.v. 17.8.2017 – 5 A 2/17D – juris Rn. 47). Bloße Nichtleistung genügt nur bei eindeutiger Fälligkeit; im Regelfall muss der Kläger anfragen oder anmahnen (Eyermann/Wöckel, VwGO, § 156 Rn. 3). Eine Anfrage oder Mahnung seitens des Klägers lässt sich den Akten nicht entnehmen, sie wird auch nicht vorgetragen. Eine eindeutige Fälligkeit ist ebenfalls nicht gegeben. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger im Zeitpunkt der Klageerhebung davon ausgehen musste, er werde ohne Klage nicht zu seinem Recht kommen, liegen hier nicht vor. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Beklagte zuletzt mit Email vom ... 2022 an den Prozessbevollmächtigten des Klägers auf einen Mangel der Vollmacht hingewiesen und um Behebung gebeten hat, und unter Berücksichtigung des Umstands, dass es sich beim Kläger um einen Reservisten handelt, der nicht dem akuten Risiko ausgesetzt war, den Kriegsdienst mit der Waffe zu leisten, und dessen Antrag somit keine erhöhte Priorität genoss, hätte ein vernünftiger Kläger nicht bereits drei Wochen nach der Bitte der Beklagten um Vorlage der Vollmacht Klage erhoben.
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Damit entspricht es vorliegend billigem Ermessen, die Kosten dem Kläger aufzuerlegen, obwohl die Beklagte sich durch Erlass der begehrten Entscheidung ohne Änderung der Sach- und Rechtslage in die Rolle des Unterlegenen begeben und der Kläger in der Sache obsiegt hat.
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2.2. Die Kostenentscheidung richtet sich vorliegend nicht vorrangig nach der speziellen Regelung des § 161 Abs. 3 VwGO. Nach § 161 Abs. 3 VwGO fallen in den Fällen des § 75 VwGO die Kosten stets dem Beklagten zur Last fallen, wenn der Kläger mit seiner Bescheidung vor Klageerhebung rechnen durfte. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.
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2.2.1. Die kostenrechtliche Sonderregelung für erledigte Untätigkeitsklage ist vorliegend zwar anwendbar, weil es sich bei der erledigten Untätigkeitsklage um einen Fall des § 75 VwGO handelt. Die Untätigkeitsklage wurde zulässig nach Ablauf der Sperrfrist des § 75 Satz 2 VwGO als Verpflichtungsklage erhoben; die Beklagte hatte im Zeitpunkt der Klageerhebung am ... 2022 noch nicht über den Antrag des Klägers vom ... 2022 entschieden. Die Dreimonatsfrist des § 75 Satz 2 VwGO war somit abgelaufen und die Klage unabhängig davon zulässig, ob ein zureichender Grund für die Nichtbescheidung vorlag (vgl. Eyermann/Wöckel, 16. Aufl. 2022, VwGO § 75 Rn. 8). Es ist auch unschädlich, dass das Gericht der Behörde (noch) keine Frist zur Entscheidung gemäß § 75 Satz 3 VwGO gesetzt hat. Denn die Vorschrift erfasst alle Fälle des § 75 VwGO, nicht nur diejenigen des § 75 Satz 4 VwGO, in denen eine behördliche Entscheidung innerhalb einer vom Gericht gesetzten Frist ergeht (Schoch/Schneider/Clausing, August 2022, VwGO § 161 Rn. 39).
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2.2.2. Der Kläger durfte aber mit seiner Bescheidung nicht vor Klageerhebung rechnen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darf ein Kläger vor Klageerhebung dann nicht mit seiner Bescheidung rechnen, wenn ein zureichender Grund für die Nichtbescheidung vorlag und dem Kläger dieser bekannt war oder bekannt sein musste (BVerwG, U.v. 23.7.1991 – 3 C 56.90 – juris Rn. 9). Die Beklagte hatte einen zureichenden Grund für die Nichtbescheidung, und dieser musste dem Kläger zumindest bekannt sein.
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Die Beklagte hatte aufgrund der vorübergehenden Antragsflut einen zureichenden Grund für die Nichtbescheidung. Zureichende Gründe können bei einer vorübergehenden Antragsflut vorliegen, die zu einer kurzzeitigen Überlastung der Behörde führt, nicht hingegen bei einem strukturellen Organisationsdefizit (BVerfG, B.v. 16.1.2017 – 1 BvR 2406/16, 1 BvR 2409/16, 1 BvR 2408/16, 1 BvR 2407/16 – NVwZ-RR 2017, 393). Nach Angaben der Beklagten haben sich die Eingangszahlen der Anträge auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer im Jahr 2022 infolge des Kriegs in der Ukraine nahezu versechsfacht und zu einer unerwarteten und vorübergehenden Überlastung des zuständigen Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben geführt; auch der Kläger hat als Reservist seinen Antrag nach Ausbruch des Kriegs Ende Februar 2022 am ... 2022 gestellt. Anhaltspunkte für ein strukturelles Organisationsdefizit sind nicht ersichtlich; vielmehr hat die Beklagte detailliert und schlüssig dargelegt, mit welchen Maßnahmen sie auf die unerwartete Überlastung organisatorisch reagiert hat. Des Weiteren war die Verzögerung vorliegend auch darauf zurückzuführen, dass der für die Prüfung des Antrags erforderliche Musterungsbescheid erst am ... 2022 übermittelt wurde und der Prozessbevollmächtigte des Klägers eine unvollständige Vollmacht des Klägers vorgelegt hatte. Ein zureichender Grund für die Nichtbescheidung innerhalb der Sperrfrist des § 75 VwGO lag somit vor.
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Dieser Grund war dem Kläger auch bekannt bzw. musste ihm bekannt sein. Das Wissen seines Prozessbevollmächtigten muss sich der Kläger nach dem allgemeinen Rechtsgedanken des § 166 Abs. 1 BGB zurechnen lassen (vgl. BGH, U.v. 25.10.2018 – IX ZR 168/17 – juris). Abgesehen davon, dass in öffentlich zugänglichen Medien über die aufgrund des Ukrainekriegs gestiegene Anzahl von Kriegsdienstverweigerungsanträgen schon vor Klageerhebung berichtet wurde (vgl. „ZEIT ONLINE“ v. 26.10.2022, Zahl der Anträge auf Kriegsdienstverweigerung gestiegen, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-10/bundeswehr-kriegsdienstverweigerer-krieg-ukraine-kritik-linke, abgerufen am 2.3.2023), handelt es sich bei der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten des Klägers um eine in Kriegsdienstverweigerungsverfahren erfahrene Kanzlei. Beim erkennenden Gericht werden zahlreiche Kläger, die ihre Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer begehren, durch die in Kiel ansässige Kanzlei des Prozessbevollmächtigten vertreten; diese wirbt auch auf ihrer Website mit der Vertretung im Wehrrecht, insbesondere auch bundesweit.
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Somit verbleibt es bei der Anwendung des § 161 Abs. 2 VwGO (vgl. auch VG Stuttgart, B.v. 22.5.2003 – 2 K 412/03 – juris Rn. 7 f.).
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3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 10 Abs. 2 Satz 1 KDVG).