Inhalt

VG München, Urteil v. 11.12.2023 – M 8 K 22.5143
Titel:

Erfolglose Klage der Nachbarin gegen Umbau eines Wohn- und Geschäftsgebäudes

Normenketten:
BauGB § 34
BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 3
Leitsatz:
Darf eine Bebauung entsprechend Art. 6 Abs. 1 S. 3 BayBO ohne Abstandsfläche an der Grundstücksgrenze errichtet werden, greift insoweit der Vorrang des Planungsrechts. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage, Abstandsflächen, Gebot der Rücksichtnahme (Verletzung verneint), Innenhof, Brandwand, Baugenehmigung, Rückgebäude, Nachbar, Vorrang des Planungsrechts, Gebot der Rücksichtnahme
Fundstelle:
BeckRS 2023, 38442

Tenor

I.    Die Klage wird abgewiesen.
II.    Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
III.    Die Kostenentscheidung ist für die Beklagte ohne, für die Beigeladene gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

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Die Klägerin begehrt die Aufhebung einer der Beigeladenen erteilten Baugenehmigung für das Grundstück …str. 158, Fl.Nr. …, Gem. …  (im Folgenden: Baugrundstück).
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Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstücks …str. 156, Fl.Nr. …, Gem. … (im Folgenden: Nachbargrundstück), welches sich im Osten an das Baugrundstück anschließt.
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Bau- und Nachbargrundstück liegen im Geviert …straße, …straße, …straße und …straße. Für dieses ist u.a. entlang der …straße eine vordere Baulinie durch übergeleiteten Baulinienplan festgesetzt. Das Baugrundstück verfügt gegenwärtig über ein dreigeschossiges Vordergebäude mit ausgebautem Dachgeschoss, im rückwärtigen Hofbereich wurde das streitgegenständliche Vorhaben bereits weitestgehend umgesetzt (Rohbau). Das Nachbargrundstück ist mit einem fünfgeschossigen wohngenutzten Vordergebäude sowie im rückwärtigen Bereich mit zwei eingeschossigen Gebäuden (zum Teil Garagen) an der Grenze zum Baugrundstück (westliche Grenze des Nachbargrundstücks) bebaut.
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Vgl. zur Lage der Grundstücke und ihrer Bebauung anliegenden Lageplan im Maßstab 1 : 1000, der eine Darstellung des Vorhabens enthält (nach dem Einscannen möglicherweise nicht mehr maßstabsgerecht):
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Mit Bescheid vom 22. September 2022 (auf Grundlage des Bauantrags von 24. Juni 2022 nach PlanNr. … und nach PlanNr. …*) erteilte die Beklagte der Beigeladenen die Baugenehmigung zum Umbau, Sanierung und Erweiterung eines denkmalgeschützten Wohn- und Geschäftsgebäudes durch ein hofseitiges Wohnhaus sowie den Anbau eines außenliegenden Aufzugs. Die Baugenehmigung hatte unter anderem den Anbau von hofseitigen Balkonen an das Vordergebäude sowie (z.T. unter Abbruch der vorhandenen rückwärtigen Bebauung) die Errichtung eines fünfgeschossigen, zum Nachbargrundstück hin grenzständigen Rückgebäudes (mit einer Grundfläche von ca. 5,26 m x 7,72 m und einer Wandhöhe – Ostseite – von +16,85 m) sowie eines grenzständigen Aufzugs (positioniert zwischen Vorderund Rückgebäude) mit einer Höhe von +15,22 zum Gegenstand. Das geplante Rückgebäude nimmt die Kubatur des Rückgebäudes auf der sich nördlich anschließenden Fl.Nr. … (…str. 61) auf. Die Baugenehmigung enthielt u.a. eine Abweichung von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO wegen Nichteinhaltung erforderlicher Abstandsflächen zum Nachbargrundstück für die Balkone.
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Mit Schriftsatz vom 18. Oktober 2022, bei Gericht eingegangen am selben Tag, erhob die Klägerin Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München und beantragt,
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Der Bescheid der … … vom 22.09.2022, Az.: …, mit der Beschreibung „…str. 158, Fl.Nr. …, Gemarkung...; Umbau, Sanierung und Erweiterung eines Denkmalgeschützten Wohn- und Geschäftsgebäudes durch ein Hofseitiges Wohnhaus, Anbau eines Außenliegenden Aufzugs; Bauherr/in: … … GmbH, … Str. 12 a, … …“ wird aufgehoben.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass der Innenhof von Bau- und Nachbargrundstück bisher nicht oder nur mit eingeschossigen Nebengebäuden bebaut sei. Der grenzständige „Wohnturm“ und der Aufzug würden eine rechtlich unzulässige Abstandsfläche auf das Nachbargrundstück werfen. Die Maßnahme könne weder auf Art. 6 Abs. 5a Satz 2 BayBO noch auf Art. 6 Abs. 7 BayBO gestützt werden. Auch Art. 6 Abs. 1. Satz 3 BayBO könne keine Anwendung finden, da die beabsichtigte Neubebauung zu einer Einmauerung mit erdrückender Wirkung führe. Die geplante Bebauung übersteige die vorhandene eingeschossige Hinterhofbebauung der Klägerin um mehr als 12 m und sei damit höher als das Nachbargrundstück breit sei. Die Bebauung würde zu einer nachmittäglichen Totalverschattung führen. Aus den gleichen Gründen scheide auch eine Befreiung nach Art. 63 BayBO aus.
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Die Beklagte beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Eine Abweichung von Abstandsflächen nach Art. 63 BayBO sei in Fällen des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO nicht nötig. Vorliegend dürfe nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden. Im Geviert sei weit überwiegend Bebauung in geschlossener Bauweise umgesetzt. Das Geviert sei auch von mehrgeschossiger grenzständiger Bebauung im rückwärtigen Bereich geprägt. Eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme komme nicht in Betracht. Die Grundstücke lägen in einem äußerst dicht bebauten innerstädtischen Bereich. Ein Verschattungseffekt als typische Folge der Bebauung sei hier nicht rücksichtslos. Eine besondere Belastungswirkung im konkreten Fall sei nicht ersichtlich, ebenso keine erdrückende oder einmauernde Wirkung.
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Die Beigeladene beantragt ebenfalls,
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den Antrag abzulehnen.
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Das Vorhaben füge sich hinsichtlich der Art und des Maßes der baulichen Nutzung, der Bauweise und der überbaubaren Grundstücksfläche in die nähere Umgebung ein. Als Bezugsfälle seien hier die …str. 61 (Fl.Nr. …*) und die …str. 160 (Fl.Nr. …*) heranzuziehen. Das Rücksichtnahmegebot sei nicht verletzt, weil das Vorhaben die Klägerin nicht einmauere, erdrückend auf ihr Eigentum wirke oder die Belichtung, Belüftung und Besonnung unzumutbar verschlechterte. Der Grenzanbau sei nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ohne Abstandsfläche zulässig, da nach planungsrechtlichen Vorschriften an die gemeinsame Grenze von Baugrundstück und Grundstück der Klägerin gebaut werden dürfe.
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Mit Beschluss vom 27. März 2023 (M 8 SN 23.1010) hat das Bayerische Verwaltungsgericht München einen Eilantrag der Klägerin vom 1. März 2023 abgelehnt. Die Beschwerde hiergegen wurde mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 4. Juli 2023 (2 CS 23.743) zurückgewiesen. Auf die den Beteiligten bekannten Entscheidungen wird Bezug genommen.
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Mit Beschluss vom 9. November 2023 ist der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen worden.
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Das Gericht hat am 11. Dezember 2023 Beweis durch Augenscheinseinnahme erhoben. Auf das Protokoll dieses Augenscheins wird ebenso Bezug genommen wie auf das Protokoll der am selben Tag durchgeführten mündlichen Verhandlung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des schriftsätzlichen Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten (auch im Verfahren M 8 SN 23.1010) sowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist nicht begründet.
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1. Die Baugenehmigung vom 22. September 2022 verletzt keine im einschlägigen Genehmigungsverfahren nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 i.V.m. Art. 59 BayBO zu prüfende, (auch) die Klägerin schützende öffentlich-rechtliche Vorschriften, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
21
Insbesondere verstößt das Rückgebäude nicht gegen die Vorschriften des Abstandsflächenrechts, Art. 59 Satz 1 Nr. 1b) BayBO i.V.m. Art. 6 BayBO. Die Hofbebauung darf entsprechend Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ohne Abstandsfläche an der Grundstücksgrenze errichtet werden. Insoweit greift der Vorrang des Planungsrechts. Das planungsrechtlich zulässige Vorhaben wahrt hier insbesondere die Anforderungen, welche das Gebot der Rücksichtnahme (§ 34 BauGB) an bauliche Anlagen stellt.
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Zur Begründung wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die (den Beteiligten bekannten) Ausführungen des Beschlusses vom 27. März 2023 im Verfahren M 8 SN 23.1010, die sich das Gericht endgültig zu eigen macht, sowie auf die Gründe des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 4. Juli 2023 (2 CS 23.743) Bezug genommen (§ 117 Abs. 5 VwGO analog). Auch nach ausführlicher Prüfung der Sach- und Rechtslage unter Berücksichtigung der beim Augenschein gewonnenen Erkenntnisse und des Vorbringens der Beteiligten im Hauptsacheverfahren ist keine Verletzung drittschützender Normen, auf die sich die Klägerin berufen kann, ersichtlich.
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Im Gegenteil bestätigte sich bei Einnahme des Augenscheins – das Vorhaben ist im rückwärtigen Bereich bereits weitestgehend errichtet (Rohbau) – dass der hierdurch entstandene Innenhof (* …str. 156 und 154, …straße 59 und 57) -gemessen an dem im Quartier bereits Vorhandenen – weder besonders beengt noch besonders verschattet ist. Es handelt sich vielmehr um eine keinesfalls ungewöhnliche „…“ Hinter- bzw. Innenhofsituation. Eine städtebaulich unzumutbare Belastungswirkung zulasten des Nachbargrundstücks ist nicht gegeben, zumal die erforderliche Belichtung der hofseitigen Fassade über den Innenhof bewirkt werden kann. Insbesondere rechtfertigt auch die Feststellung im Augenschein, dass sich in dem eingeschossigen rückwärtigen Gebäudetrakt auf dem Nachbargrundstück z.T. keine Nebennutzung, sondern eine Hauptnutzung befindet, kein anderes Ergebnis, da es sich um eine nicht weiter schutzbedürftige gewerbliche Nutzung (Laden) handelt.
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, dass die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten erstattet erhält, da sie einen Sachantrag gestellt und sich dadurch einem Kostenrisiko ausgesetzt hat, § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.