Titel:
Nachbarklage gegen Baugenehmigung, Bindungswirkung eines Vorbescheids, Gebot der Rücksichtnahme (Verletzung verneint), Abweichung von den Abstandsflächen
Normenketten:
BauGB § 34
BayBO Art. 6
BayBO Art. 63
BayBO Art. 71
Schlagworte:
Nachbarklage gegen Baugenehmigung, Bindungswirkung eines Vorbescheids, Gebot der Rücksichtnahme (Verletzung verneint), Abweichung von den Abstandsflächen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 38437
Tenor
I. Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist für die Beklagte ohne, für den Beigeladenen gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt die Aufhebung einer dem Beigeladen erteilten Baugenehmigung zum Neubau eines Mehrparteienhauses mit Ladengeschäft im Erdgeschoss.
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Der Kläger ist Eigentümer des Anwesens …str. 27, Fl.Nr. …, Gem. … (im Folgenden: Nachbargrundstück). Das Nachbargrundstück ist mit einem viergeschossigen Wohngebäude bebaut, welches an den seitlichen Grundstücksgrenzen (Nord- und Südgrenze) ohne Grenzabstand errichtet ist (im Folgenden: Nachbargebäude). Der östliche Teil des Nachbargrundstücks (Innenhof) wird als Abstellfläche und gärtnerisch genutzt. Das Baugrundstück …str. 25, Fl.Nr. …, Gem. …, schließt im Norden an das Nachbargrundstück an. Der dort mit Baugenehmigung von 1889 genehmigte Altbestand (viergeschossiges Wohngebäude, Wandhöhe ca. 14,55 m, Firsthöhe ca. 17 m, Grundfläche im Wesentlichen ca. 14,10 m x ca. 14 m) wurde zwischenzeitlich zur Umsetzung der streitgegenständlichen Baugenehmigung beseitigt. Die hofseitigen Außenwände des Anwesens …straße 29 (im Süden des Nachbargrundstücks) und des Nachbargebäudes verlaufen profilgleich, die hofseitige Außenwand des beseitigten Altbestands verlief zunächst auf ca. 2,50 m ebenfalls profilgleich, versprang jedoch danach um ca. 2 m Richtung Innenhof (Osten). Altbestand und Nachbargebäude hatten über eine gemeinsame Kommunwand verfügt.
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Bau- und Nachbargrundstück liegen im Geviert …straße, …straße, …straße und …straße im Geltungsbereich eines einfachen, übergeleiteten Bauliniengefüges. Vgl. zur Lage der Grundstücke und ihrer Bebauung anliegenden Lageplan im Maßstab 1 : 1000, der eine Darstellung des Vorhabens enthält (nach dem Einscannen möglicherweise nicht mehr maßstabsgerecht):
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Am 19. Februar 2021 erteilte die Beklagte dem Beigeladenen einen Vorbescheid nach PlanNr. …, welcher einen Baukörper (E+IV+DG) mit einer Wandhöhe von +14,84 m, einer Firsthöhe von +18,58 m und einer Grundfläche von im Wesentlichen 14,50 m x 14,20 m vorsieht. Die südliche Außenwand des abgefragten Baukörpers verläuft an der gemeinsamen Grundstücksgrenze zunächst profilgleich mit dem Bestandsgebäude auf dem klägerischen Grundstück, rückt jedoch im Anschluss um 3,15 m Richtung Norden von der gemeinsamen Grenze ab, sodass die hofseitige (östliche) Außenwand des abgefragten Baukörpers um ca. 2,10 m (abgegriffen) weiter östlich verläuft als die hofseitige Außenwand des Nachbargebäudes. Die Frage nach der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit des Baukörpers (Fragen 1) wurde von der Beklagten bejaht, lediglich die geplante Balkonanlage auf der Südseite wurde als nicht zulässig erachtet. Die Frage zur Abweichung von Abstandsflächen (Frage 5) wurde hingegen verneint. Der Vorbescheid wurde dem Kläger am 23. Februar 2021 zugestellt.
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Mit Baugenehmigung vom 2. Mai 2022 (PlanNr. …) genehmigte die Beklagte die Errichtung eines unterkellerten Mehrparteienwohnhauses (fünf Vollgeschosse plus Dachgeschoss, geförderter Wohnungsbau) mit Ladengeschäft im Erdgeschoss im vereinfachten Genehmigungsverfahren. Der genehmigte Baukörper verfügt über eine Wandhöhe von +14,80 m, eine Firsthöhe von +18,425 m und eine Grundfläche von im Wesentlichen 14,50 m x 14,20 m. Die hofseitige Außenwand verläuft zunächst 3,14 m profilgleich mit der des Nachbargebäudes und verspringt dann um 2,10 m Richtung Innenhof (Osten). Weiterhin sind zwei Balkonanlagen Richtung Innenhof vorgesehen. Mit der Genehmigung wurde u.a. eine Abweichung wegen Überschreitung der Abstandsflächen zum Nachbargrundstück erteilt. Bereits der Bestand halte die Abstandsflächen nicht ein. Durch die Neuerrichtung erhöhten sich die Abstandsflächen nicht. Eine Verschlechterung der Belichtung gegenüber der Bestandssituation sei nicht gegeben.
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Am 23. September 2022 erteilte die Beklagte der Beigeladenen eine Tekturgenehmigung nach PlanNr. … unter Abänderung der Baugenehmigung vom 2. Mai 2022 bei gleichzeitiger Fortgeltung der dort verfügten Auflagen, Bedingungen, Befreiungen, Abweichungen und Ausnahmen im vereinfachten Genehmigungsverfahren. Die Tekturgenehmigung hat im Wesentlichen eine Änderung der Statik in Bezug auf die Kommunwand zum Gegenstand.
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Mit Schriftsatz vom 30. Mai 2022, bei Gericht (als „pdf-Datei“) per besonderem Anwaltspostfach eingegangen am 1. Juni 2022, erhob der Kläger Klage gegen die ihm am 4. Mai 2022 zugestellte Genehmigung vom 2. Mai 2022. Mit weiterem Schriftsatz vom 14. Oktober 2022, bei Gericht per besonderem Anwaltspostfach zunächst am selben Tag als „rtf-Datei“ und am 12. November 2023 als „pdf-Datei“ eingegangen, bezog er die Tekturgenehmigung vom 23. September 2022, welche ihm am 27. September 2022 zugestellt worden war, in die Klage ein. Er beantragt,
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Die Baugenehmigung der Beklagten vom 2. Mai 2022 in der Fassung der Tekturgenehmigung vom 23. September 2022 wird aufgehoben.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die beiden Gebäude im Jahr 1889 als einheitliches Gebäude mit einer gemeinsamen Kommunwand und Dachgeometrie errichtet worden waren. Es erfolge kein profilgleicher Anbau, zudem überschreite der Neubau eine faktische Baugrenze. Dies verstoße gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Zudem liege ein Abstandsflächenverstoß vor, da kein Wohngebäude höchstens gleicher Abmessungen und Gestalt errichtet werden solle. Mit einer bloßen Atypik von innerstädtischen Lagen könne nicht jeglicher Verstoß gegen Abstandsvorschriften gerechtfertigt werden. Die Balkone auf der Ostseite seien zudem nicht untergeordnet. Ein Konzept zur Standsicherheit fehle, der Anspruch des Klägers nach Art. 10 Bayerische Bauordnung sei nicht abgesichert. Eine Unterfangung der Kommunwand auf seiner Seite greife in seine Rechte ein.
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Die Beklagte beantragt,
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Es sei bereits fraglich, ob die Klage gegen die Genehmigung vom 23. September 2022 form- und fristgerecht erhoben worden sei. In der Sache stelle sich das Bauvorhaben gegenüber dem Nachbargebäude nicht als rücksichtslos dar. Die Abweichungen von den Anforderungen des Abstandsflächenrechts seien rechtmäßig erteilt worden. Überdies werde die Baugenehmigung unbeschadet der privaten Rechte Dritter erteilt und Fragen der Standsicherheit seien nicht im Prüfumfang der Baugenehmigung.
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Die Beigeladene beantragt ebenfalls,
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die Kommunwand ausschließlich durch Vorrichtungen auf dem Grundstück der Beigeladenen unterfangen werde, denn die Beigeladene werde das Bauvorhaben nur nach der Änderungsgenehmigung vom 23. September 2022 ausführen. Überdies werde die Baugenehmigung unbeschadet privater Rechte Dritter erteilt. Ein profilgleicher Anbau sei nicht erforderlich, das Gebot der Rücksichtnahme sei nicht verletzt. Die Abweichung sei gerechtfertigt, es bestehe insbesondere ein Interesse an der Schaffung von Wohnraum.
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Mit Schreiben vom 7. November 2023 hat das Gericht den Kläger darauf hingewiesen, dass mehrere Schriftsätze zwar mittels eines sicheren Übermittlungswegs, nicht jedoch in dem dafür vorgesehenen Format („pdf“) übermittelt worden waren. Mit Schriftsatz vom 12. November 2023 reichte der Kläger die beanstandeten Dateien im Format „pdf“ ein und versicherte eidesstattlich und anwaltschaftlich, dass diese mit den zuvor übermittelten Schriftsätzen inhaltlich übereinstimmten.
17
Das Gericht hat am 27. November 2023 Beweis durch Augenscheinseinnahme erhoben. Auf das Protokoll dieses Augenscheins wird ebenso Bezug genommen wie auf das Protokoll der am selben Tag durchgeführten mündlichen Verhandlung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des schriftsätzlichen Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten sowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die Baugenehmigung vom 2. Mai 2022 in Gestalt der Tekturgenehmigung vom 23. September 2022 verletzt keine nachbarschützenden Vorschriften, die im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren zu prüfen sind und auf die sich der Kläger berufen kann, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO, Art. 59 BayBO.
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1. Die Klage ist zulässig, insbesondere wurde die Tekturgenehmigung vom 23. September 2022 wirksam ins Klageverfahren einbezogen.
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1.1. Klagegenstand ist vorliegend die Baugenehmigung vom 2. Mai 2022 in Gestalt der Tekturgenehmigung vom 23. September 2022.
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Da für ein Grundstück mehrere Baugenehmigungen für verschiedenartige Bauvorhaben gleichzeitig oder nacheinander erteilt werden können, hat grundsätzlich der Bauherr die Wahl, ob er nach der Grund-, Tektur- oder Änderungsgenehmigung bauen will (Decker in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: Oktober 2023, Art. 68 Rn. 83). Nach dem hier erkennbaren, maßgeblichen Willen der Bauherrin (diese hat versichert, dass sie das Bauvorhaben nur nach der Änderungsgenehmigung vom 23. September 2022 ausführen wolle) und dem eindeutigen Wortlaut der Genehmigungsbescheide („in Abänderung der Baugenehmigung“) stehen hier Baugenehmigung und Tektur nicht nebeneinander, vielmehr wurde die Baugenehmigung durch die Tekturgenehmigung modifiziert.
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1.2. Die Klage gilt auch hinsichtlich der Tektur als form- und fristgerecht erhoben, § 55a Abs. 6 Satz 2 VwGO.
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Gemäß dem am 1. Januar 2022 in Kraft getretenen § 55d Satz 1 VwGO sind vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen, die durch einen Rechtsanwalt eingereicht werden, als elektronisches Dokument zu übermitteln. Nach § 55a Abs. 2 Satz 1 VwGO muss das elektronische Dokument zur Bearbeitung durch das Gericht geeignet sein. Die Bundesregierung bestimmt gemäß § 55a Abs. 2 Satz 2 VwGO durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates technische Rahmenbedingungen für die Übermittlung und die Eignung zur Bearbeitung durch das Gericht. Gemäß § 2 Abs. 1 ERVV i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 1 ERVV ist das elektronische Dokument im Dateiformat „pdf“ zu übermitteln (vgl. BVerwG, B.v. 4.10.2022 – 20 F 15.22 – NVwZ 2023, 1823-1824).
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Der vom Kläger am 14. Oktober 2022 als „rtfDatei“ übermittelte Schriftsatz genügte diesen Anforderungen zunächst nicht, da er zwar über einen sicheren Übermittlungsweg, nämlich das besondere Anwaltspostfach, an das Gericht übermittelt wurde, jedoch den Anforderungen an das Dateiformat nicht entsprach. Nach § 55a Abs. 6 Satz 2 VwGO gilt ein Dokument, das für das Gericht zur Bearbeitung nicht geeignet ist, jedoch als zum Zeitpunkt der früheren Einreichung eingegangen, sofern der Absender es unverzüglich in einer für das Gericht zur Bearbeitung geeigneten Form nachreicht und glaubhaft macht, dass es mit dem zuerst eingereichten Dokument inhaltlich übereinstimmt.
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Gemäß § 55a Abs. 6 Satz 1 VwGO ist dem Absender unter Hinweis auf die Unwirksamkeit des Eingangs unverzüglich mitzuteilen, falls ein elektronisches Dokument für das Gericht zur Bearbeitung nicht geeignet ist. Dies gilt auch dann, wenn die Fehler bei der Kommunikation dem Absender anzulasten sind, weil er die technischen Rahmenbedingungen nach § 55a Abs. 2 S. 2 VwGO nicht beachtet hat. Der Absender soll das Dokument ohne Zeitverzögerung auf ein zugelassenes Dateiformat umstellen können (Schmitz in: BeckOK, VwGO, Posser/Wolff/Decker, 67. Edition, Stand: 1.10.2023, § 55a Rn. 24). Der Kläger hat das Dokument nach einem entsprechenden Hinweis des Gerichts gemäß § 55a Abs. 6 Satz 1 VwGO (aufgrund eines Büroversehens war das fehlerhafte Dateiformat erst Anfang November 2023 erkannt worden) vom 7. November 2023 am 12. November 2023 im zulässigen Dateiformat übermittelt und durch Vorlage einer eidesstattlichen und anwaltschaftlichen Versicherung zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft gemacht, dass dieses mit dem zuerst eingereichten Dokument inhaltlich übereinstimmt. Das Gericht konnte sich hiervon zudem auch durch Vergleich zwischen dem zur Papierakte genommenen Schriftsatz im „rtf-Format“, dessen Inhalt einwandfrei feststellbar ist, und dem im „pdf-Format“ nachgereichten Schriftsatz überzeugen. Die Nachreichung erfolgte ferner unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern (vgl. hierzu: Holtbrügge in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 5. Auflage 2021, § 55a VwGO Rn. 18).
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1.3. Der Vorbescheid vom 19. Februar 2021 steht der Zulässigkeit der Klage ebenso nicht entgegen.
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Wird ein erteilter Vorbescheid – wie hier – bestandskräftig (der Vorbescheid wurde dem Kläger am 23. Februar 2021 zugestellt, eine Anfechtung erfolgte nicht), so besteht bezüglich der im Vorbescheid entschiedenen Einzelfragen zwar grundsätzlich eine auf drei Jahre (Art. 71 Abs. 1 Satz 2 BayBO) befristete Bindungswirkung für den Nachbarn (vgl. Decker in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: 151. EL August 2023, Art. 71 Rn. 98). Die von einem Dritten gegen die nachfolgende Baugenehmigung erhobene Klage ist gleichwohl nicht unzulässig (BVerwG, U.v. 17.3.1989 – 4 C 14/85 – juris Rn. 15). § 42 Abs. 2 VwGO lässt es nicht zu, die Klage nach unterschiedlichen Klagegründen aufzuspalten mit der Folge, einzelne Klagegründe im Wege einer Art Vorprüfung endgültig auszuschalten und die sachliche Nachprüfung des klägerischen Vorbringens auf die verbleibenden Klagegründe zu beschränken (BVerwG, U.v. 17.12.2013 – 4 A 1/13, juris Rn. 21 m.w.N.).
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2. Die Klage ist jedoch nicht begründet.
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2.1. Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von im Baugenehmigungsverfahren zu prüfenden Normen beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (vgl. BayVGH, B.v. 21.7.2020 – 2 ZB 17.1309 – juris Rn. 4; B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20, 22). Für den Erfolg eines Nachbarrechtsbehelfs genügt es daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt sind. Dementsprechend findet im gerichtlichen Verfahren auch keine umfassende Rechtskontrolle statt, vielmehr hat sich die gerichtliche Prüfung darauf zu beschränken, ob durch die angefochtene Baugenehmigung drittschützende Vorschriften, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch vermitteln, verletzt werden. Die Baugenehmigung muss dabei gegen eine im Baugenehmigungsverfahren – hier das vereinfachte Genehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO – zu prüfende Vorschrift verstoßen. Auf Bauordnungsrecht beruhende Nachbarrechte können durch eine Baugenehmigung nur dann verletzt werden, wenn diese bauordnungsrechtlichen Vorschriften im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen sind.
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Eine Verletzung drittschützender Vorschriften scheidet überdies aus, soweit für das verfahrensgegenständliche Vorhaben ein gegenüber dem Nachbarn bestandskräftiger, positiver Vorbescheid erteilt worden ist. Eine gegen die Baugenehmigung gerichtete Klage ist dann zwar nicht unzulässig (s.o.), wohl aber sachlich unbegründet, soweit sie sich auf Feststellungen stützt, die gegenüber dem Nachbarn durch den Vorbescheid schon bestandskräftig geworden sind (vgl. BVerwG, U.v. 17.3.1989 – 4 C 14/85 – juris Rn. 15).
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2.2. Das Vorhaben verstößt – soweit es aufgrund der Bestandskraft des Vorbescheids noch Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung ist – nicht gegen drittschützende Normen des Bauplanungsrechts, welche im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren zu prüfen sind, Art. 59 Satz 1 Nr. 1b) BayBO.
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2.2.1. Nachbarlichen Abwehrrechten in Bezug auf die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Hauptbaukörpers steht schon die Bestandskraft des insoweit positiven Vorbescheids vom 19. Februar 2021 entgegen (vgl. hierzu: BayVGH, B.v. 13.5.1997 – 20 B 96.3446 – BeckRS 1997, 24692; Decker in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: August 2023, Rn. 115 ff.). Dort wurde dessen bauplanungsrechtliche Zulässigkeit bejaht (Frage 1).
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Der Umfang der Bindungswirkung des Vorbescheids richtet sich nach den gestellten Fragen und den zugrundeliegenden Plänen. Die Bindungswirkung erstreckt sich dabei nur auf ein Vorhaben, das inhaltlich dem Vorbescheid vollständig entspricht oder von diesem ohne Veränderung der Grundkonzeption allenfalls geringfügig abweicht (BayVGH, B.v. 29.4.2019 – 9 ZB 15.2606 – BeckRS 2019, 8706 Rn. 6).
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Gegenstand des Vorbescheids war ein Hauptbaukörper (E+IV+DG) mit einer Wandhöhe von +14,84 m, einer Firsthöhe von +18,58 m und einer Grundfläche von im Wesentlichen 14,50 m x 14,20 m (Versprung an der gemeinsamen Grundstücksgrenze 3,15 m x 2,10 m). Dies entspricht im Wesentlichen dem streitgegenständlichen Vorhaben, welches einen Hauptbaukörper (E+IV+DG) mit einer Grundfläche von 14,50 m x 14,20 m (Versprung an der gemeinsamen Grundstücksgrenze 3,14 m x 2,10 m) mit einer Wandhöhe von +14,80 m und einer Firsthöhe von +18,425 vorsieht. Das Bauvorhaben entspricht dem Vorbescheid zwar nicht vollständig, allerdings sind die Abweichungen hier nur geringfügig. Maßgeblich für die Annahme der Geringfügigkeit einer Abweichung ist, dass die Genehmigungsfrage durch das nachfolgende Bauvorhaben in bodenrechtlicher und/oder bauordnungsrechtlicher Hinsicht nicht erneut aufgeworfen wird (BayVGH, B.v. 29.4.2019 – 9 ZB 15.2606 – BeckRS 2019, 8706 Rn. 6). Dies ist hier der Fall. Durch die geringfügigen Änderungen der Abmessungen werden bauordnungsrechtlichen Fragen nicht neu aufgeworfen, denn die Identität des Bauvorhabens wird hierdurch nicht berührt; die Grundkonzeption des Vorhabens wird nicht verändert.
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Daher kommt es auf die vom Kläger aufgeworfene Fragen, ob das Bauvorhaben eine faktische rückwärtige Baugrenze einzuhalten habe, sich nach § 34 BauGB nicht einfüge und ein profilgleicher Anbau erfolgen müsse, nicht an. Überdies ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger keinen Anspruch darauf hat, dass in seiner Nachbarschaft nur bodenrechtlich objektiv zulässige Vorhaben entstehen. Er ist auf den Schutz eigener Rechte (hinsichtlich des „Einfügens“ im Rahmen des § 34 BauGB also auf das Gebot der Rücksichtnahme) beschränkt und kann sich nicht zum Sachwalter der Allgemeinheit machen.
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2.2.2. Die durch den Bauantrag gegenüber dem Vorbescheid geänderten Teile des Bauvorhabens, insbesondere die Balkonanlagen, verletzen keine Rechte des Klägers. Ein Verstoß gegen das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot liegt nicht vor.
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Es kann dabei zunächst dahinstehen, ob sich das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme vorliegend aus dem Begriff des sich Einfügens in § 34 Abs. 1 BauGB (Bau- und Nachbargrundstück liegen im insoweit unbeplanten Innenbereich § 30 Abs. 3 BauGB i.V.m. § 34 BauGB) oder – falls ein faktisches Baugebiet vorliegen sollte – aus § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 BauNVO ableitet, da im Ergebnis dieselbe Prüfung stattzufinden hat (vgl. BVerwG v. 23.5.1986 – 4 C 34/85 – juris). Inhaltlich zielt das Gebot der Rücksichtnahme darauf ab, Spannungen und Störungen, die durch unverträgliche Grundstücksnutzungen entstehen, möglichst zu vermeiden. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab. Für eine sachgerechte Bewertung des Einzelfalles kommt es wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zumutbar ist, an (BVerwG, U.v. 18.11.2004 – 4 C 1.04 – juris, Rn. 22; U.v. 29.11.2012 – 4 C 8.11 – juris Rn. 16; BayVGH, B.v. 12.9.2013 – 2 CS 13.1351 – juris Rn. 4). Eine Rechtsverletzung ist erst dann zu bejahen, wenn von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgeht (BayVGH, B.v. 22.6.2011 – 15 CS 11.1101 – juris Rn. 17). Zur Bestimmung dessen, was dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zumutbar ist, ist insbesondere auch die nähere Umgebung als (städte-)baulicher Rahmen, in den das Vorhaben- und Nachbargrundstück eingebettet sind, sowie die jeweilige besondere bauliche Situation der betroffenen Grundstücke in den Blick zu nehmen (VG München, U.v. 14.6.2021 – M 8 K 19.2266 – juris Rn. 41).
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Dieses berücksichtigend wird der im Rahmen des Rücksichtnahmegebots notwendige Interessenausgleich zwischen hinzutretender und vorhandener Bebauung durch das Vorhaben gewahrt. Stößt eine Wohnnutzung auf eine vorhandene Wohnnutzung, dann kommt unter dem Gesichtspunkt der Nutzungsart ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen in Betracht (BayVGH, B.v. 15.11.2010 – 2 ZB 09.2191 – juris Rn. 7). Solche sind vorliegend nicht erkennbar. Die maßgebliche Umgebung ist unter anderem geprägt durch zum Innenhof hin ausgerichtete Balkone bzw. Balkonanlagen auch in nächster Nähe zum Nachbargrundstück (z.B. …straße 25a, 29). In diesem städtebaulichen Kontext ist ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme nicht erkennbar, zumal gegenseitige Einsichtnahmemöglichkeiten im dicht bebauten innerstädtischen Bereich unvermeidlich (vgl. BayVGH, B.v. 7.10.2010 – 2 B 09.328 – juris Rn. 30) und daher regelmäßig hinzunehmen sind.
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Ebenso führen die Balkonanlagen nicht zu einer erdrückenden oder einmauernden Wirkung hinsichtlich des Nachbargebäudes (vgl. hierzu: BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – juris Rn. 38; U.v. 23.5.1986 – 4 C 34/85 – juris Rn. 15; BayVGH, B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris Rn. 28; B.v. 10.3.2018 – 15 CS 17.2523 – juris Rn. 27), auch bei Berücksichtigung des Versprungs der hofseitigen Fassade des Bauvorhabens, der die Balkone vorgelagert sind. Für die Annahme einer „erdrückenden“ Wirkung eines Nachbargebäudes besteht grundsätzlich schon dann kein Raum, wenn dessen Baukörper – wie hier, die Gebäude sind in etwa gleich hoch (vgl. die Bauzeichnung „Ansichten“) – nicht erheblich höher ist als der des betroffenen Gebäudes (vgl. BayVGH, B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris Rn. 30).
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Bau- und Nachbargrundstück befinden sich zudem in einem äußerst beengt bebauten innerstädtischen Quartier. Eine besondere, im Städtebaurecht fußende Schutzwürdigkeit des Nachbargrundstücks ist nicht auszumachen. Die maßgebliche Umgebung ist durch dichte Bebauung im straßenseitigen und rückwärtigen Bereich und durch (hofseitige) Fassadenversprünge bei aneinander gebauten Gebäuden geprägt (vgl. etwa …straße 23 / …straße 25, …straße 25a / Rückgebäude …straße 29, …straße 31 / 31a). Das Nachbargrundstück ist – auch angesichts der Umgebungsbebauung – keiner ungewöhnlichen bzw. unzumutbaren Belastungswirkung ausgesetzt. Ein bodenrechtlich unzumutbarer Verschattungseffekt geht zudem mit dem Bauvorhaben nicht einher, da dieses im Norden verwirklicht wird und somit auf die Belichtungsverhältnisse ohne maßgeblichen Einfluss ist. Es verbleibt daher bei dem Grundsatz, dass eine Veränderung der Verhältnisse durch ein Vorhaben, das den Rahmen der Umgebungsbebauung wahrt und städtebaulich vorgegeben ist, regelmäßig als zumutbar hinzunehmen ist (BayVGH, B.v. 12.9.2013 – 2 CS 13.1351 – juris Rn. 6).
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3. Das Vorhaben verstößt nicht gegen (zumindest auch) dem Nachbarschutz dienende Vorschriften des Bauordnungsrechts, welche im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren zu prüfen sind, insbesondere nicht gegen die Vorschriften des Abstandsflächenrechts, Art. 59 Satz 1 Nr. 1b) BayBO i.V.m. Art. 6 BayBO.
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3.1. Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO und Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen freizuhalten, die auf dem Grundstück selbst liegen müssen.
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3.1.1. Soweit das Vorhaben grenzständig errichtet wird, bedarf es keiner Abstandsflächen, Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO. Nach dieser Vorschrift ist eine Abstandsfläche nicht erforderlich vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf. Dies ist hier der Fall.
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Nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 BayBO bleiben bei der Bemessung der Abstandsflächen bei Gebäuden an der Grundstücksgrenze zudem die Seitenwände von Vorbauten, auch wenn sie nicht an der Grundstücksgrenze errichtet werden, außer Betracht (vgl. auch BayVGH, B.v. 2.8.2022 – 2 ZB 22.1229 – n.V.; VG München, U.v. 28.3.2022 – M 8 K 20.3855 – juris Rn. 48). Hierunter fallen die südlichen Seitenwände der geplanten Balkonanlage. Die abstandsflächenrechtliche Privilegierung tritt nicht nur dann ein, wenn das Gebäude vollständig an der Grundstücksgrenze errichtet wird, sondern auch, wenn – wie hier – ein versetzter Außenwandteil der grenzständigen Außenwand (geringfügig) von der Grenze zurückspringt, da sonst ein Wertungswiderspruch zu den Vorbauten an Gebäuden, die ohne Grenzabstand errichtet sind und den Nachbarn dadurch stärker belasten, entstehen würde. Maßgeblich ist, ob die Vorbauten für sich genommen bauplanungsrechtlich ohne Grenzabstand gebaut werden könnten. Es kommt daher nicht darauf an, ob es sich – wie unter den Beteiligten streitig – bei den Balkonanlagen um untergeordnete Bauteile handelt. Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 BayBO hat im Gegensatz zu Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 BayBO die Unterordnung der Vorbauten nicht zur Voraussetzung (Kraus in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: August 2023, Art. 6 Rn. 432).
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3.1.2. Der gesetzlich eingeräumte Vorrang des Städtebaurechts vor dem Abstandsflächenrecht gilt jedoch nur insoweit, als die betreffende Außenmauer ohne Grenzabstand errichtet wird, hier also für den profilgleichen Anbau an das Nachbargrundstück. Soweit die Südfassade des Vorhabens von der gemeinsamen Grundstücksgrenze Richtung Norden zurückspringt, ist dieser versetzte Außenwandteil dagegen grundsätzlich abstandsflächenpflichtig.
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Zweifelsfrei vermag diese Außenwand bei einer Höhe von 14,82 m (Höhe im Plan angegeben mit +14,80 m) und einem Abstand von 3,14 m zur Grundstücksgrenze die erforderliche Abstandsfläche von 1 H (14,82 m) nicht einzuhalten, Art. 6 Abs. 5a BayBO.
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3.1.3. Allerdings kann (bzw. nach der seit 1. August 2023 geltenden Fassung „soll“) die Bauaufsichtsbehörde nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO aF Abweichungen von bauordnungsrechtlichen Anforderungen zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind. Art. 63 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO ermöglicht also im Einzelfall eine Korrektur von materiell-rechtlichen Anforderungen, die die BayBO an Vorhaben stellt (Dhom/Simon in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: August 2023, Art. 6 Rn. 14). Nach Art. 63 Abs. 1 Satz 2 BayBO aF sollen Abweichungen von den Anforderungen des Art. 6 BayBO insbesondere zugelassen werden, wenn ein rechtmäßig errichtetes Gebäude durch ein Wohngebäude höchstens gleicher Abmessung und Gestalt ersetzt wird.
49
Da bei den Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO dem Schutzzweck der Norm nicht auf andere Weise entsprochen werden kann, muss es im Einzelfall besondere Gründe geben, die es rechtfertigen, dass die Anforderung zwar berücksichtigt, ihrem Zweck aber nur unvollkommen entsprochen wird (vgl. grundsätzlich zu den Voraussetzungen einer Abweichung: BayVGH, B.v. 17.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris Rn. 16 ff; B.v. 4.8.2011 – 2 CS 11.997 – juris Rn. 23; B.v. 5.12.2011 – 2 CS 11.1902 – juris Rn. 3; U.v. 22.12.2011 – 2 B 11.2231 – juris Rn. 16; B.v. 20.11.2014 – 2 CS 14.2199 – juris Rn. 4; B.v. 2.12.2014 – 2 ZB 14.2077 – juris Rn. 3; B.v. 9.2.2015 – 15 ZB 12.1152 – juris Rn. 8 ff). Mit der Verpflichtung zur Würdigung nachbarlicher Interessen verlangt das Gesetz eine Abwägung zwischen den für das Vorhaben sprechenden Gründen und den Belangen des Nachbarn (BayVGH, B.v. 17.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris Rn. 17). Art. 6 BayBO bezweckt im nachbarlichen Verhältnis die Gewährleistung ausreichender Belichtung, Besonnung und Belüftung, nach umstrittener Ansicht auch den sozialen Wohnfrieden (vgl. zum Streitstand: BayVGH, U.v. 31.7.2020 – 15 B 19.832 – juris Rn. 33). Ob eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zugelassen werden kann, beurteilt sich dabei nicht allein danach, wie stark die Interessen des betroffenen Nachbarn beeinträchtigt werden. Es ist stets auch zu prüfen, ob die Schmälerung der nachbarlichen Interessen durch überwiegende Interessen des Bauherrn oder überwiegende öffentliche Belange gerechtfertigt ist (vgl. BayVGH, B.v. 17.7.2007 – 1 CS 07.1340 – juris Rn. 20).
50
3.1.4. Es kann offenbleiben, ob die Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 BayBO nach Einfügung von Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO noch eine atypische Situation voraussetzt (Bayer. Landtag Drucksache 17/21474, zu Nr. 5 (Art. 6); vgl. zu den Voraussetzungen einer Atypik auch: BayVGH, B.v. 22.1.2020 – 15 ZB 18.2547 – juris, RdNr. 34 m.w.N.), denn eine solche liegt hier zweifelsohne vor.
51
Die Lage der betroffenen Grundstücke in einem seit langer Zeit dicht bebauten großstädtischen Innenstadtquartier, in dem – wie hier – allenfalls wenige Gebäude die nach heutigen Maßstäben erforderlichen Abstände zu den jeweiligen Grundstückgrenzen einhalten, vermittelt eine besondere Atypik, die eine Abweichung von der Einhaltung der Regelabstandsflächen gegenüber Nachbarn rechtfertigt (BayVGH, B.v. 22.1.2020 – 15 ZB 18.2547 – juris, Rn. 36). Überdies entsteht die Pflicht, eine Abstandsfläche einzuhalten, hier erst durch das für den Nachbarn günstigere Abrücken der Außenwand von der gemeinsamen Grenze. Sofern die übrigen Voraussetzungen vorliegen, kann im dicht bebauten innerstädtischen Bereich auch eine Abweichung zugelassen werden, um das Abrücken von der gemeinsamen Grundstücksgrenze zugunsten des Nachbarn zu ermöglichen (vgl. VG München, U.v. 6.3.2023 – M 8 K 21.811 – juris Rn. 33 m.w.N.).
52
Zudem ersetzt das Vorhaben ein über 100 Jahre altes Bestandsgebäude, welches ebenfalls einen Rücksprung von der gemeinsamen Grenze aufwies. Zwar sollen tatsächlich vorhandene abstandsflächenwidrige Bebauungsverhältnisse nach Möglichkeit bereinigt und nicht verewigt werden (vgl. BayVGH, U.v. 22.11.2006 – 25 B 05.1714 – BayVBl. 2007, 276), weshalb eine Abstandsflächenüberschreitung durch einen Altbestand als solche und für sich allein nach der Rechtsprechung nicht geeignet war, die erforderliche Atypik zu begründen (BayVGH, B.v. 23.5.2005 – 25 ZB 03.881 – juris Rn. 8). Mit dem Regelbeispiel des Art. 63 Abs. 1 Satz 2 BayBO aF (nF: Art. 63 Satz 2 Nr. 2 BayBO) hat der Gesetzgeber nunmehr jedoch erstmals eine atypische Situation konkret festgestellt, mit der eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zugelassen werden soll (BayVGH, U.v. 23.5.2023 – 1 B 21.2139 – NVwZ-RR 2023, 977, Ls 2; vgl. zum Sach- und Streitstand zur Nachprägung von Altbestand im Rahmen des Abstandsflächenrechts: BayVGH, B.v. 30.8.2011 – 15 CS 11.1640 – juris Rn. 17). Zwar ist dem Kläger zuzugeben, dass das Vorhaben dem Altbestand vom Bauvolumen her nicht ganz entspricht, also nicht „höchstens gleicher Abmessung und Gestalt“ ist, da insbesondere das Dach (geringfügig) erhöht wird (vgl. etwa die Bauzeichnungen „Ansichten“, welche die Silhouette des Altbestands enthalten und einen direkten Vergleich zulassen). Dies führt jedoch nicht zum Entfall der atypischen Situation an sich, sondern nur dazu, dass die in Art. 63 Abs. 1 Satz 2 BayBO normierte ermessenslenkende Wirkung auf der Rechtsfolgenseite nicht eintritt. Die Zulässigkeit einer Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO ist jedoch nicht ausgeschlossen, wenn dessen Voraussetzungen vorliegen.
53
In der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist anerkannt, dass um den durch Art. 14 GG geschützten Interessen des Bauherrn an einer sinnvollen Verwertung der vorhandenen Bausubstanz Rechnung zu tragen, grundsätzlich auch eine zeitgemäße, den Wohnungsbedürfnissen entsprechende Sanierung, Instandsetzung, Aufwertung oder Erneuerung einer zum Teil überalterten Bausubstanz ermöglicht werden muss (vgl. BayVGH, B.v. 11.11.2015 – 2 CS 15.1251 – BayVBl 2018, 480). Dies kann insbesondere in einen atypischen Fall der Ersetzung von Altbestand kann nicht außer Acht gelassen werden.
54
Dieses berücksichtigend werden die durch Art. 6 BayBO geschützten Belange des Klägers durch die Erteilung der Abweichung nicht wesentlich berührt. Im Gegenteil ergibt sich durch den Ersatzbau (und das Anbringen der Balkone) hinsichtlich Belichtung, Besonnung und Belüftung keine spürbare Veränderung gegenüber der Bestandssituation. Tatsächlich weicht das Gebäude sogar um ca. 0,7 m (abgegriffen aus der Plandarstellung „Erdgeschoss“) weiter von der gemeinsamen Grenze zurück als der Altbestand, sodass sich die Situation sogar leicht verbessert. Das Vorhaben liegt im Norden und hat – wie bereits ausgeführt – auf die Belichtungssituation keinen nennenswerten Einfluss. Das Interesse des Bauherrn an der Schaffung von zeitgemäßen Wohnraum (vgl. BayVGH, B.v. 5.12.2011 – 2 CS 11.1902 – juris Rn. 5) ist gegenüber den Interessen des Klägers vorrangig.
55
Ermessensfehler sind nicht ersichtlich (§ 114 Satz 1 VwGO). Die Beklagte hat sich im Rahmen der Prüfung der Abweichung mit der Situation auch der betroffenen Nachbarn in sachgerechter Weise unter Berücksichtigung des Zwecks des Abstandsflächenrechts auseinandergesetzt. Die nachbarlichen Belange wurden insbesondere angesichts der Lage der Grundstücke im dicht bebauten innerstädtischen Quartier, welches durch eine dichte Bebauung und damit einhergehende verkürzte Abstandsflächenfrage geprägt ist, zutreffend ermittelt und gewürdigt. Im Ergebnis zutreffend wurde darauf abgestellt, dass durch die Balkonanlage keine Abstandsflächen ausgelöst werden. Die Beklagte hat ferner zutreffend darauf abgestellt, dass sich durch die Neuerrichtung des Gebäudes die Abstandsflächen nicht erhöhen und ihr Ermessen dadurch leiten lassen. Soweit die Beklagte zusätzlich Art. 63 Abs. 1 Satz 2 BayBO aF im Rahmen der Ermessensentscheidung zitiert hat, ist dies ebenso unschädlich, da die Beklagte ihre Entscheidung offensichtlich nicht auf diese Norm gestützt hat, sondern eine eigene Ermessensentscheidung unter Abwägung aller für und gegen die Abweichung sprechenden Belange getroffen hat. Das Zitat dient – als gesetzlich angeführtes, dem Sachverhalt hier vergleichbares Regelbeispiel – lediglich der Untermauerung der gefundenen Ermessensentscheidung.
56
Soweit der Kläger vorgetragen hat, dass nicht ersichtlich sei, warum die Beklagte im Baugenehmigungsverfahren nunmehr eine andere Entscheidung als im Vorbescheidsverfahren getroffen habe (dort war die Abweichung nicht in Aussicht gestellt worden) und daraus folgert, dass die Abweichungsentscheidung deswegen fehlerhaft sei, kann er damit nicht durchdringen. Ein „negativer“ (ablehnender) Vorbescheid entfaltet grundsätzlich keine Bindungswirkung (Decker in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: August 2023, Art. 6 Rn. 101).
57
3.2. Die Verletzung weiterer, im vereinfachten bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfender drittschützender Normen ist nicht ersichtlich.
58
3.2.1. Soweit der Kläger rügt, dass er als Nachbar nicht nach Art. 66 BayBO am Baugenehmigungsverfahren beteiligt worden sei, ist darauf hinzuweisen, dass sich der Nachbar nicht auf eine fehlende oder fehlerhafte Nachbarbeteiligung berufen kann; maßgebend für den Erfolg der Klage ist allein die Verletzung drittschützender materieller Rechte (vgl. BayVGH, B.v. 16.10.2018 – 9 CS 18.1468 – NVwZ-RR 2019, 303).
59
3.2.2. Der Kläger kann die für den Erfolg der Klage erforderliche Verletzung eigener Rechte zudem nur geltend machen, soweit der Regelungsgehalt der Baugenehmigung reicht.
60
Zwar ist dem Kläger zuzugeben, dass Art. 10 Satz 3 BayBO, wonach die Standsicherheit anderer baulicher Anlagen und die Tragfähigkeit des Baugrunds des Nachbargrundstücks nicht gefährdet werden dürfen, dem Nachbarn ein subjektiv öffentlich-rechtliches Recht vermittelt (vgl. BayVGH, U.v. 21.8.1973 – 140 I 72 – VGHE BY 26, 186).
61
Allerdings sind Fragen der Standsicherheit – Art. 10 BayBO – nicht Teil des vereinfachten Genehmigungsverfahrens nach Art. 59 BayBO. Eine Erweiterung des Prüfprogramms erfolgt auch nicht durch Art. 59 Satz 2 BayBO, wonach die Art. 62- 62b) BayBO (bautechnische Nachweise) unberührt bleiben (vgl. BayVGH, B.v. 5.12.2011 – 2 CS 11.1902 – juris Rn. 7 m.w.N.). Im vereinfachten Genehmigungsverfahren prüft die Bauaufsichtsbehörde die Standsicherheit baulicher Anlagen – auch solcher auf Nachbargrundstücken – nicht. Ein Nachbar kann eine im vereinfachten Genehmigungsverfahren erteilte Baugenehmigung daher nicht mit der Begründung angreifen, das genehmigte Vorhaben gefährde die Standsicherheit seiner baulichen Anlage (BayVGH, B.v. 27.10.1999 – 2 CS 99.2387 – BayVBl 2000, 377-378, Ls. 1 und 3).
62
Zur Wahrung seiner subjektiven öffentlich-rechtlichen Rechte in Bezug auf die Standsicherheit ist der Nachbar darauf zu verweisen, bei der Bauaufsichtsbehörde einen Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten zu stellen (Shirvani in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: August 2023, Art. 62 Rn. 22).
63
4. Private Rechte sind vor den Zivilgerichten geltend zu machen. Die Baugenehmigung wird unbeschadet der privaten Rechte Dritter erteilt, Art. 68 Abs. 5 BayBO.
64
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, dass der Beigeladene seine außergerichtlichen Kosten erstattet erhält, da er einen Sachantrag gestellt und sich dadurch einem Kostenrisiko ausgesetzt hat, § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO.
65
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.