Inhalt

VG München, Beschluss v. 17.08.2023 – M 28 E 23.31592
Titel:

Zum asylrechtlichen Flughafenverfahren (Türkei)

Normenketten:
VwGO § 123
AsylG § 18a, § 30
AufenthG § 3 Abs. 1
Leitsätze:
1. Die Flughafenregelung nach § 18a Abs. 1 AsylG bleibt anwendbar, wenn sich der Ausländer bei seinem Schutzersuchen nicht mit gültigen Papieren ausweist, diese aber später bei ihm aufgefunden werden. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2. Maßgeblich für die Frage des Ausweisens mittel gültiger Papiere nach § 18a Abs. 1 S. 2 AsylG ist der Zeitpunkt, zu dem der Ausländer sein Asylgesuch äußert. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
3. Zur Behandlung eines türkischen Personalausweises ("Kimli-Karti") als Passersatzpapier. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asyl (Herkunftsland, Türkei), Flughafenverfahren (Stattgabe), Behandlung eines türkischen Personalausweises („Kimli-Karti“, ID-Karte) als Passersatzpapier im Sinne des § 18a Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. § 3 Abs. 1 AufenthG, Maßgeblicher Zeitpunkt des Vorliegens des Passes bzw. Passersatzpapiers nach § 18a Abs. 1 Satz 2 AsylG, Asyl (Herkunftsland Türkei), Passersatzpapier, Kimli-Karti, Offensichtlichkeit
Fundstelle:
BeckRS 2023, 38428

Tenor

I. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland zur weiteren Durchführung seines Asylverfahrens zu gestatten.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller, nach eigenen Angaben und ausweislich der vorliegenden ID-Karte („Kimlik-Karti“, Personalausweis) türkischer Staatsangehöriger, begehrt die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland zur Durchführung seines Asylverfahrens.
2
Er wollte am … Juli 2023 auf dem Luftweg von Antalya/Türkei kommend in die Bundesrepublik einreisen. Bei der grenzpolizeilichen Kontrolle am Flughafen M. wies er sich mit einem deutschen Reisepass ausgestellt auf den Namen „…“ vor. Nachdem aufgefallen war, dass das angezeigten Bild nicht mit der kontrollierten Person übereinstimmte, ergaben weitere Überprüfungen, dass es sich bei dem Reisepass um eine Fälschung handelte.
3
Der Antragsteller wurde zur Polizeiwache verbracht und u.a. wegen des Verdachts der Urkundenfälschung vernommen. Bei dieser Gelegenheit äußerte er sein Asylbegehren. Ausweislich der vorliegenden Akten lag der Antragsgegnerin eine türkische ID-Karte („Kimli Karti“, Personalausweis), ausgestellt auf den Namen des Antragstellers, gültig bis zum …2031 (…) vor. Zu welchem Zeitpunkt genau diese genau gefunden oder vom Antragsteller überreicht wurde (die Parteien tragen hierzu unterschiedlich vor) kann ausweislich der vorliegenden Unterlagen nicht abschließend beurteilt werden.
4
Der förmliche Asylantrag des Antragstellers wurde am 2. August 2023 von der Außenstelle München-Flughafen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) aufgenommen. Sein Asylbegehren begründete der Antragsteller im Kern damit, dass er in der Türkei seine Position als Lehrer aus politischen Gründen verloren habe. In einem Gerichtsverfahren gegen ihn wegen des Verdachts der Unterstützung der PKK sei er jedoch freigesprochen worden. Gegen die Entlassung als Lehrer sei er bei der sogenannten OHAL-Kommission vorgegangen, habe im Dezember 2022 aber die Ablehnung erhalten, ihm würden noch immer Verbindungen zur PKK unterstellt. In einem strafrechtlichen Verfahren sei er zwar freigesprochen worden, seine Freunde seien jedoch verurteilt worden, die Staatsanwaltschaft wolle das Verfahren gegen ihn jedoch neu aufrollen. Ein Freund von ihm sei im Februar 2023 zu 14 Jahren Haft verurteilt worden, in dem entsprechenden Urteil werde ausgeführt, dass das Verfahren gegen den Antragsteller erneut geprüft werden solle (das Urteil wurde vorgelegt). Weiter loggte sich der Antragsteller auf seinem UYAP-Account ein, das Bundesamt überprüfte die aufrufbaren Dokumente und fertigte Screenshots von der Verfahrensübersicht.
5
Mit Bescheid vom 4. August 2023, dem Antragsteller am 7. August 2023 persönlich ausgehändigt, lehnte das Bundesamt die Anträge auf Asylanerkennung und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als offensichtlich unbegründet ab (Bescheidsnrn. 1 u. 2). Der Antrag auf subsidiären Schutz wurde ebenfalls als offensichtlich unbegründet abgelehnt (Nr. 3). Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Antragsteller wurde aufgefordert, die Bundesrepublik innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, ansonsten er in die Türkei oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat abgeschoben werde; die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und der Lauf der Ausreisefrist wurden bis zum Ablauf der einwöchigen Klagefrist und im Falle einer fristgerechten Stellung eines Antrags auf vorläufigen Rechtsschutzes bis zur Bekanntgabe der gerichtlichen Ablehnung des Eilantrages ausgesetzt (Nr. 5). Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
6
Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion München vom 7. August 2023, dessen Empfang vom Antragsteller am selben Tag bestätigt wurde, wurde dem Antragsteller wegen der Ablehnung seines Asylantrags als offensichtlich unbegründet die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland gemäß § 18a Abs. 3 Satz 1 AsylG verweigert.
7
Am … August 2023 erhob der Antragsteller gegen die Bescheide des Bundesamts und der Bundespolizeidirektion München Klage zum Verwaltungsgericht München (M 28 K 23.31590) und beantragt im vorliegenden Eilverfahren,
8
die Bundespolizeidirektion im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, dem Antragsteller die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland zur weiteren Durchführung des Asylverfahrens zu gestatten.
9
Zur Begründung trägt der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers unter anderem vor, das Flughafenverfahren hätte nicht durchgeführt werden dürfen, der Antragsteller habe zwar zunächst einen gefälschten deutschen Reisepass vorgelegt, dann aber unaufgefordert seien echten türkischen Personalausweis. Die Voraussetzungen des Vorliegens des Art. 31 Abs. 8 der Asylverfahrensrichtlinie (AsylVerfRL) seien vom Bundesamt nicht geprüft worden. Der Bescheid des Bundesamts sei auch rechtswidrig, weil nicht näher begründet worden sei, warum der Asylantrag nicht nur als unbegründet sondern als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden sei. Zwar sei der Antragsteller in einem ersten Strafverfahren freigesprochen worden, es könne jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass dies in einem weiteren Verfahren ebenfalls der Fall sei. Er befürchte, dass ein Überläufer, der gegen seinen Freund G... … Y... … ausgesagt habe, woraufhin dieser zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt worden sei, auch gegen ihn aussagen werde.
10
Die Antragsgegnerin beantragt,
11
den Antrag abzulehnen.
12
Sie hat die Akten vorgelegt und sich zunächst zur Sache weiter nicht geäußert.
13
Mit Schreiben vom 11. August 2023 teilte das Gericht mit, dass angesichts der Tatsache, dass ausweislich der vorliegenden Behördenakten und telefonischer Auskunft der Bundespolizeidirektion eine türkische ID-Karte beim Antragsteller gefunden worden sei, Zweifel bestünden, ob das Flughafenverfahren (vgl. § 18a Abs. 1 Satz 2 AsylG und Art. 31 (8) c) AsylVerfRL) vorliegend hätte durchgeführt werden dürfen. Die Antragsgegnerin wurde zur Stellungnahme aufgefordert, insbesondere auch zur Frage, zu welchem Zeitpunkt die ID-Karte aufgefunden worden sei (vor oder nach Stellung des Asylgesuchs).
14
Die Antragsgegnerin führte in Folge hierzu unter anderem aus, bei der beim Antragsteller gefundenen türkischen ID-Karte handele es sich nicht um einen Pass oder ein Passersatzpapier im Sinne des § 18a Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. § 3 Abs. 1 AufenthG. Schon deshalb sei das Flughafenverfahren zu Recht durchgeführt worden. Überdies liege eine rechtserhebliche Täuschung im Sinne von Art. 31 Abs. 8 AsylVerfRL vor, da der Antragsteller seine ID-Karte versteckt habe und eine zuvorige Nachfrage negativ beantwortet worden sei. Die Karte sei erst nach Durchsuchung der Taschen des Antragstellers aufgefunden worden. Zur Frage des genauen Zeitpunkts des Auffindens der ID-Karte verwies das Bundesamt auf die vorgelegten Akten. Die Bundespolizeiinspektion legte dar, der Antragsteller sei auf der Wache nach weiteren Ausweisdokumenten gefragt worden, welche seine wahre Identität bestätigen könnten. Er habe daraufhin angegeben, keine weiteren Ausweispapiere mit sich zu führen. Im Anschluss sei er durchsucht worden und in seinem Socken eine türkische ID-Karte gefunden worden. Er habe später angegeben, türkischer Staatsangehöriger zu sein und auf der Wache ... am Flughafen M. ein Asylgesuch gestellt.
15
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten des Eil- und Klageverfahrens sowie die seitens des Bundesamts und der Bundespolizeidirektion München vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
16
Der nach § 18a Abs. 4 und Abs. 5 Satz 1 AsylG statthafte und auch sonst zulässige Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat in der Sache Erfolg.
17
1. Das gerichtliche Verfahren bestimmt sich vorliegend nach den Regelungen in § 18a Abs. 4 und Abs. 5 AsylG, weil die Antragsgegnerin das Flughafenverfahren gewählt und die Bescheide des Bundesamts vom 4. August 2023 sowie der Bundespolizeidirektion vom 7. August 2023 danach gefasst sind.
18
2. Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz richtet sich gemäß § 18a Abs. 5 Satz 1 AsylG auf die Gewährung der Einreise, ist mithin wie vorliegend mit einem Antrag nach § 123 VwGO zu verfolgen.
19
Unabhängig davon verweist § 18a Abs. 4 Satz 4 AsylG auf § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG: Nach dieser Vorschrift darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bestehen.
20
Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung im Flughafenverfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 18a Abs. 4 Satz 6 AsylG, § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG ist mithin die Frage, ob im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung gemäß § 77 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. „Angegriffener Verwaltungsakt“ nach § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG ist vorliegenden Flughafenverfahren die Einreiseverweigerung durch die Bundespolizei, wie sich aus § § 18a Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 AsylG („Gewährung der Einreise“) sowie aus § 18 a Abs. 1 Satz 1 AsylG („Entscheidung über die Einreise“) ergibt.
21
Für den Prüfungsmaßstab des Gerichts bedeutet dies, dass zunächst zu prüfen ist, ob das Verfahren zu Recht nach den Vorgaben des § 18a AsylG durchgeführt wurde und ob die qualifizierte Ablehnung des Asylantrags durch das Bundesamt als offensichtlich unbegründet zu Recht oder zu Unrecht erfolgt ist – dies hat gemäß § 18a Abs. 4 Satz 4 i.V.m. § 36 Abs. 4 AsylG am Maßstab der ernstlichen Zweifel zu erfolgen.
22
3. Hiervon ausgehend ist der Antrag begründet, weil bereit ernstliche Zweifel bestehen, ob die Voraussetzungen für die Durchführung des Flughafenverfahrens gemäß § 18a Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylG vorlagen und die Antragsgegnerin eine Entscheidung über die Einreiseverweigerung treffen durfte.
23
a) Nach § 18a Abs. 1 Satz 1, Satz 2 AsylG ist bei Ausländern, die über einen Flughafen einreisen wollen, bei der Grenzbehörde um Asyl nachsuchen und sich dabei nicht mit einem gültigen Pass oder Passersatz ausweisen, das Asylverfahren vor der Entscheidung über die Einreise durchzuführen, soweit die Unterbringung auf dem Flughafengelände während des Verfahrens möglich oder lediglich wegen einer erforderlichen stationären Krankenhausbehandlung nicht möglich ist.
24
aa) § 18a Abs. 1 AsylG ist jedoch nicht anwendbar bei Ausländern, die einen gültigen Pass- oder Passersatz bei sich führen, aber Passlosigkeit vortäuschen, z.B. um ihren Reiseweg zu verschleiern. Bei Feststellung dieses Sachverhalts sind sie, sofern nicht § 18 Abs. 2 eingreift, vielmehr gemäß § 18 Abs. 1 an die Aufnahmeeinrichtung zur Meldung weiterzuleiten (Hadamitzky/Senge in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, April 2023, § 18a AsylG Rn. 5 – kursive Hervorhebungen nicht im Original).
25
Weist der Ausländer sich bei seinem Schutzersuchen nicht mit gültigen Papieren aus, werden diese aber später bei ihm aufgefunden, bleibt die Flughafenregelung anwendbar. Angesichts der gesetzlichen Formulierung, dass Ausländer „bei der Grenzbehörde auf einem Flughafen um Asyl nachsuchen und sich dabei nicht (…) ausweisen“, kommt es nicht darauf an, ob ein Pass zu einem späteren Zeitpunkt vorgelegt oder entdeckt wird (Haderlein in BeckOK, Ausländerrecht, 1.4.23, § 18a AsylG Rn. 10 – kursive Hervorhebungen nicht im Original).
26
Nur wer sich positiv mit einem gültigen Pass oder Passersatz ausweist, fällt nicht unter Abs. 1. Das Dokument kann vom dem Ausländer vorgelegt oder bei ihm gefunden sein; es genügt aber nicht, dass er es vorlegen könnte (Kolber in Bergmann/Dienelt Ausländerrecht, 2022 § 18a AsylG Rn. 11 – kursive Hervorhebungen nicht im Original).
27
Zusammenfassend ist festzustellen, dass für die Frage des Ausweisens mittel gültiger Papiere der Zeitpunkt ist, zu dem der Ausländer sein Asylgesuch äußert. Solange noch kein Asylgesuch geäußert ist, besteht – zumindest aus asylrechtlicher Sicht – schon nicht die Notwendigkeit einer Identitätsklärung; etwaige Täuschungen gegenüber dem Grenzbeamten oder sonstigen Behörden müssen demnach für die Frage, ob das Flughafenverfahren anwendbar ist, außer Betracht bleiben. Sinn und Zweck eines besonderen Asylverfahrens für solche Personen, die sich nicht mit einem gültigen Pass ausweisen, ist es, diese nach einer Ablehnung ihres Asylgesuchs – möglichst unverzögert – unter Ausnutzung der Rücktransportverpflichtungen der Fluggesellschaften und völkerrechtlichen Rücknahmeverpflichtungen der Abflug- oder Herkunftsstaaten – in den Staat des Abflughafens zurückzuführen (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris). Entscheidend für die Zurückweisungsmöglichkeit vor Einreise ist im Hinblick auf den Zweck der einfacheren Abschiebungsmöglichkeiten somit allein, ob die Identität des Betroffenen einschließlich seiner Staatsangehörigkeit im Zeitpunkt der Äußerung seines Asylgesuchs klar ist (VG München, B.v. 4.1.23 – M 28 E 22.32434 – n.v.).
28
bb) Gemessen an diesen Maßstäben bestehen ernstliche Zweifel daran, ob das Flughafenverfahren vorliegend angewandt werden durfte:
29
(1) Denn es spricht einiges dafür, dass der Bundespolizei im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Äußerung des Asylgesuchs des Antragstellers bereits dessen gültige türkische ID-Karte vorlag. Die Tatsache, dass diese bei der Grenzkontrolle nicht vorgezeigt wurde, spielt angesichts der obigen Ausführungen keine Rolle.
30
Fest steht, dass der Antragsteller zunächst versuchte, sich mit einem gefälschten deutschen Reisepass auszuweisen. Im Anschluss wurde nach Auskunft der Antragsgegnerin bei ihm die türkisch ID-Karte gefunden (bzw. hat er diese laut Auskunft des Prozessbevollmächtigten selber überreicht – hierauf kommt es letztlich jedoch nicht an).
31
Wann dies genau der Fall war, ob vor oder nach Äußerung seines Asylgesuchs, kann das Gericht aus den vorgelegten Akten nicht abschließend erkennen. Auch eine entsprechende gerichtliche Nachfrage nach dem genauen Zeitpunkt des Auffindens des Reisepasses ergab keine weitere Klärung: die Antragsgegnerin hat hierzu auf die bereits vorgelegten Akten und insbesondere den polizeilichen Bericht verwiesen. Das Gericht schließt aus den vorliegenden Behördenakten (u.a. aus dem polizeilichen Bericht über die Befragung des Antragstellers am 31. Juli 2023), dass der Antragsteller nachdem klargeworden war, dass es sich bei dem deutschen Reisepass um eine Fälschung handelt, durchsucht wurde, hierbei die ID-Karte gefunden wurde, der Antragsteller danach als Beschuldigter wegen Urkundenfälschung vernommen wurde und er in diesem Zusammenhang erstmals sein Asylgesuch geäußert hat. Hierfür sprechen auch die Ausführungen der Bundespolizeidirektion München im Schriftsatz vom 14. August 2023: „Nach Feststellung von Ungereimtheiten wurde die Person zur weiteren Überprüfung auf die Wache ... des Flughafens München verbracht. Die Person wurde auf der Wache nach weiteren Ausweisdokumenten gefragt, welche seine wahre Identität bestätigen können. Die Person gab darauf an, keine weiteren Ausweispapiere mit sich zu führen. Im Anschluss wurde die Person durchsucht und in seinen getragenen Socken eine türkische ID-Karte gefunden. Die Person gab später an, türkischer Staatsangehöriger zu sein und stellte auf der Wache ... ein Asylgesuch.“ (kursive Hervorhebung nicht im Original).
32
Nachdem das Gericht versucht hat, den Sachverhalt weiter aufzuklären (vgl. gerichtliches Anschreiben vom 11. August 2023), die Antragsgegnerin jedoch eine eindeutige Antwort zur Frage des Zeitpunkts des Auffindens der ID-Karte schuldig geblieben ist, gehen eventuell bestehende Zweifel vorliegend zu ihren Lasten (vgl. auch VG München, B.v. 8.11.2019 – M 1 E 19.33862 – n.v.).
33
Das Gericht geht somit davon aus, dass der Bundespolizei die gültige ID-Karte des Antragstellers bereits bei Äußerung des Asylgesuchs vorlag und damit die Voraussetzungen des § 18a Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylG nicht vorlagen.
34
(2) Soweit die Antragsgegnerin vorträgt, dass es sich bei der ID-Karte nicht um einen Pass oder ein Passersatzpapier im Sinne des § 18a Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. § 3 Abs. 1 AufenthG handelt, weist das Gericht auf folgendes hin:
35
Der Antragsgegnerin ist hier zuzugeben, dass die ID-Karte nicht in der Allgemeinverfügung des Bundesministeriums des Innern vom 6. April 2016 über die Anerkennung eines ausländischen Passes oder Passersatzes (BAnz AT 25.04.2016 B1) aufgeführt ist. Das Gericht geht aber davon aus, dass eine Rückführung des Antragstellers mit dem hier vorliegenden Personaldokument möglich sein wird:
36
Nach Art. 3 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Republik Türkei über die Rückübernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt vom 16. Dezember 2013 (ABl. EU 2014 Nr. L 134 S. 3) setzt die Rückführung türkischer Staatsangehöriger, die in Deutschland nicht oder nicht mehr zum Aufenthalt befugt sind, ein Rücknahmeersuchen und den Nachweis der türkischen Staatsangehörigkeit der zurückzunehmenden Person voraus. Nach Art. 9 Abs. 1, Anhang 1 des Abkommens kann aber der Nachweis durch jedweden Personalausweis, nach Anhang 2 des Abkommens sogar mit einem abgelaufenen Personalausweis geführt werden. Die Kimli-Karti ist nach Erkenntnissen der erkennenden Einzelrichterin ein Personalausweis und ersetzt die früher ausgestellten sogenannten Nüfüs.
37
Dies entspricht auch einer Auskunft des Bayerischen Landesamts für Asyl und Rückführungen an die erkennende Einzelrichterin sowie gerichtsbekannter Praxis, wonach eine Abschiebung in die Türkei auch möglich ist, sofern kein Pass oder Passersatzpapier (nach der o.g. Allgemeinverfügung), sondern lediglich eine türkische ID-Karte vorliegt. Die Türkei akzeptiere diese als Identitäts- und Staatsangehörigkeitsnachweis im Rahmen von Rückführungen. Vorrangiger Sinn und Zweck des Flughafenverfahrens ist es jedoch, die Rückführungsmöglichkeiten eines Ausländers ohne gültige Papiere zu sichern (BVerfG a.a.O., VG München a.a.O.), eine solche ist vorliegend aber angesichts des vorliegenden Personaldokuments gerade möglich.
38
4. Überdies und unabhängig davon, hat das Gericht ernstliche Zweifel am Offensichtlichkeitsurteil § 18a Abs. 4 Satz 6 AsylG i.V.m. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG des Bundesamts im Bescheid vom 4. August 2023. Dies ergibt sich aus den folgenden Überlegungen:
39
a) In der Verfahrensübersicht im UYAP des Antragstellers findet sich ausweislich des in der Bundesamtsakte befindlichen Screenshots unter „Verwaltungsverfahren“ ein noch offenes Verfahren. Hierbei handelt es sich wohl um das vom Antragsteller angestrebte OHAL-Verfahren gegen seine Entlassung als Lehrer. Der Antragsteller hat hierzu ausgeführt, dass dieses bislang erfolglos gewesen sei. Er habe detaillierte Ablehnung am 14. Dezember 2022 per Post bekommen, das Original befinde sich bei seiner Frau. In der Niederschrift über die Anhörung des Antragstellers ist hierzu unter anderem unter „Vermerk“ ausgeführt: „Der Antragsteller zeigt auf seinem Handy die Ablehnung der OHAL-Kommission (4 Seiten) vor. Der Antrag wird abgelehnt, Urteil soll zugestellt werden, 16 Tage Widerspruchsfrist. Dieses sei nicht auf UYAP einsehbar, da dieses unabhängig ist. Inhalt: Bezug auf 7075 Art. 1 ist der Antrag ablehnbar, wenn Kontakt zur PKK besteht. Es wird argumentiert, dass auf dem UYAP des Antragstellers ein Verfahren aufgrund PKK geführt wurde. Ihm werden weiterhin Verbindungen zur PKK/PCK unterstellt und deswegen liegen Gründe für eine Ablehnung vor.“ Das Gericht versteht diesen Vermerk so, dass der Dolmetscher den Inhalt der Ablehnung der OHAL-Kommission kursorisch übersetzt hat. Sofern diese – trotz eines wohl erfolgten Freispruchs – noch immer von einer Verbindung des Antragstellers zur PKK ausgeht, ist zumindest nicht ausgeschlossen, dass der Antragsteller auch strafrechtlich möglicherweise noch entsprechend belangt werden wird, zumal ausweislich der Verfahrensübersicht noch ein strafrechtliches Verfahren als beim Obersten Gerichtshof anhängig geführt wird. Auch die OHAL-Kommission scheint – anders als das Bundesamt – davon auszugehen, dass im UYAP des Antragstellers noch ein Verfahren gegen ihn offen ist (Stand Entscheidungszeitpunkt Dezember 2022). Dass die vom Antragsteller vorgelegte OHAL-Entscheidung gefälscht ist, hat das Bundesamt zumindest nicht explizit behauptet, zudem befindet sich diese auch nicht in den Bundesamtsakten, sodass eine weitere Nachprüfung durch das Gericht derzeit nicht möglich ist. Nicht verständlich ist, dass auch von den übrigen wohl in UYAP einsehbaren Dokumenten keine Screenshots zur Akte genommen wurden.
40
b) Weiter findet sich in der Verfahrensübersicht des UYAP des Antragstellers ausweislich des in der Akte befindlichen Screenshots ein noch offenes Verfahren (Az. 2014/ ...), ursprünglich wohl bei der 1. Großen Strafkammer (Ort ist für das Gericht nicht ersichtlich) anhängig, nunmehr beim Obersten Gerichtshof (siehe hierzu auch die deutschen handschriftlichen Anmerkungen wohl des Dolmetschers auf dem entsprechenden Screenshot). Es wird geführt unter „Strafakte“. Das Bundesamt führt hierzu im Bescheid aus (S. 5): Im weiteren Verlauf der Anhörung habe sich herausgestellt, dass in diesem Verfahren verschiedene Akten aus verfahrensökonomischen Gründen zusammengelegt worden seien und somit verschiedene Angeklagte mit gleichem Anklagevorwurf in einer gesammelten Akte komprimiert worden seien. Dies sei im türkischen Strafverfahren, welches auch durch Sammelklagen geprägt sei, keine Außergewöhnlichkeit. Der Antragsteller habe weder physisch noch auf seinem UYAP vermocht, ein Dokument vorzulegen, dass gegen ihn ein neues Verfahren eröffnet worden sei. Die zuletzt hinzugefügten Dokumente seien nicht auf den Namen des Antragstellers, sondern auf eine dritte Person ausgestellt.
41
Hierzu wird darauf hingewiesen, dass dies durchaus den Tatsachen entsprechen mag, das Gericht konnte diesen Vortrag angesichts der in der Bundesamtsakte befindlichen Dokumente jedoch nicht abschließend nachvollziehen, sodass auch unter diesem Gesichtspunkt die weitere Durchführung des Asylverfahrens unter Anwesenheit des Antragstellers und unter persönlicher Inaugenscheinnahme des UYAP-Accounts in einer mündlichen Verhandlung sinnvoll und notwendig erscheint. Jedenfalls rechtfertigen diese Ausführungen des Bundesamts keine Abweisung des vorliegenden Asylantrags als offensichtlich am Maßstab des § 30 AsylG unbegründet.
42
c) Der Antragsteller hat dem Bundesamt weiter ein Berufungsurteil vom 23. Februar 2023 betreffend seinen Freund G... … Y... … vorgelegt, dieser sei zu 14 Jahren verurteilt worden. In diesem Dokument findet sich auch der Name des Antragstellers. Ausweislich der in der Bundesamtsakte befindlichen Übersetzung der entsprechenden Textpassage ist über die Person des Antragstellers zu erforschen, ob ein Ermittlungsverfahren gegen ihn vorliegt. Falls ein Ermittlungsverfahren gegeben ist, ist zu ermitteln, ob er von den Regelungen über die tätige Reue Gebrauch gemacht hat. Seine Personalien sind festzustellen. Sie sind ordnungsgemäß als Zeugen zu laden und ihre Aussagen sind detailliert entgegenzunehmen.
43
Zwar spricht einiges dafür, dass es nur um eine Befragung des Antragstellers als Zeuge geht. Andererseits wird aus der übersetzten Textpassage nicht klar, in welchem Verfahren (gegen wen) er als Zeuge aussagen soll, nachdem das Berufungsurteil gegen den Freund ja bereits ergangen ist. Die Aussagen zur Frage, ob gegen den Antragsteller ein Ermittlungsverfahren vorliegt und die Aufforderung zu ermitteln, ob er von den Regelungen der tätigen Reue Gebrauch gemacht hat, lassen es zudem nicht ausgeschlossen erscheinen, dass gegen den Antragsteller erneut ein Verfahren eingeleitet werden wird. Auch unter diesem Gesichtspunkt hat das Gericht ernstliche Zweifel am Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamts.
44
d) Die Frage, ob sich aus dem Hinweis im UYAP des Antragstellers, dass „keine Aktivitäten bezüglich des Reisepasses festgestellt werden“ und dem entsprechenden Vortrag des Antragstellers, dass hieraus geschlossen werden könne, dass er eine Ausreisesperre habe, was er auch mit entsprechenden Anfragen an das örtliche Polizeipräsidium und die Stadtverwaltung in seinem Heimatort untermauert (diese wurden allerdings vom Antragsteller nicht vorgelegt), kann folglich dahingestellt bleiben.
45
Dem Gericht ist bewusst, dass gewisse Punkte im Vortrag und in den vorgelegten Beweismitteln gegen eine Verfolgung des Antragstellers in der Türkei sprechen, so insbesondere die Tatsache, dass er laut eigenem Vortrag vom Vorwurf der PKK-Unterstützung freigesprochen wurde. Angesichts seines Vorbringens und den zeitlichen Abläufen ist auch nicht auszuschließen, dass der Antragsteller sein Heimatland aufgrund seines nunmehr (endgültig) erfolglosen Versuchs gegen seine Entlassung als Lehrer zu klagen und somit auch seiner schwierigen wirtschaftlichen Situation verlassen hat.
46
Aufgrund der oben aufgeführten Unwägbarkeiten und der Komplexität des (bislang noch nicht ausermittelten) Sachverhalts kann jedoch nicht von einem offensichtlich unbegründeten Asylantrag ausgegangen werden. Hinzu kommt, dass soweit ersichtlich, nicht alle vom Antragsteller vorgezeigten Dokumente (und beispielsweise in UYAP aufrufbaren Dokumente) in der Akte befindlich sind, sodass das Gericht sich kein abschließendes Bild machen konnte.
47
Dem Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
48
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).