Inhalt

VG München, Urteil v. 11.12.2023 – M 22 K 22.30821
Titel:

Erfolglose Klage gegen Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Straftaten

Normenketten:
EMRK Art. 3
AsylG § 3 Abs. 4, § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, § 73 Abs. 1 S. 1, Abs. 4
AufenthG § 60 Abs. 8
GK Art. 33 Abs. 2
Leitsatz:
Von einer Wiederholungsgefahr ist auszugehen, wenn neue vergleichbare Straftaten des Ausländers ernsthaft drohen, wobei die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen sind, so insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung und das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, aber auch die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und die Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Herkunftsland: Arabische, Republik Syrien, Widerruf der Flüchtlingseigenschaft, keine Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, unerlaubter Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen, Gefahr für die Allgemeinheit, Asylverfahren, Syrien, Widerruf, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutzstatus, Straftaten, Drogendelikt, BtMG, Gefahr für Allgemeinheit, Wiederholungsgefahr
Fundstelle:
BeckRS 2023, 38426

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.  

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt die Aufhebung des Bescheids der Beklagten, mit dem die ihm zuerkannte Flüchtlingseigenschaft widerrufen und der subsidiäre Schutzstatus nicht anerkannt wurde.
2
Der am ... 1990 in ... (Syrien) geborene Kläger – syrischer Staatsangehöriger arabischer Zugehörigkeit und muslimischen Glaubens – wurde mit bestandskräftigem Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom ... 2013 als Flüchtling anerkannt.
3
Mit Urteil des Amtsgerichts … vom ... 2018 (Az. ...) wurde der Kläger wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu je 25,- Euro verurteilt.
4
Mit Urteil des Landgerichts … vom ... 2021 (Az. ...) wurde der Kläger wegen unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Jahren und 3 Monaten verurteilt (4 Jahre und 4 Jahre 3 Monate Freiheitsstrafen als Einzelstrafen). Die Unterbringung in einer Einziehungsanstalt wurde angeordnet.
5
Aufgrund der Straffälligkeit des Klägers leitete das Bundesamt mit Verfügung vom ... 2021 ein Widerrufsverfahren ein. Mit Schreiben des Bundesamts vom ... 2021 wurde der Kläger zum beabsichtigten Widerruf dessen Flüchtlingsstatus angehört.
6
Der Bevollmächtigte des Klägers machte unter anderem die Feststellung subsidiären Schutzes geltend. Denn dem Kläger drohe bei Rückkehr ins Heimatland grausame und unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK, somit seien die Voraussetzungen des Art. 4 AsylG erfüllt.
7
Mit angefochtenem Bescheid vom ... 2022 widerrief das Bundesamt die Flüchtlingsanerkennung (Nr. 1) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 2). Weiter stellte es fest, dass das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) hinsichtlich Syrien vorliege (Nr. 3).
8
In den Bescheidsgründen wurde im Wesentlichen ausgeführt: Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sei gem. § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG zu widerrufen gewesen. Durch die strafrechtliche Verurteilung seien Umstände eingetreten, die die Anwendung des Ausschlusstatbestands nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG rechtfertigten. Ferner habe der Kläger keinen Anspruch auf den subsidiären Schutzstatus, da er eine schwere Straftat gem. § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG begangen habe. Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liege vor dem Hintergrund der derzeitigen Sicherheitslage in Syrien vor.
9
Am ... 2022 ließ der Kläger hiergegen Klage zum Verwaltungsgericht … erheben. Er beantragt,
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom ... 2022 wird in den Ziffern 1 und 2 aufgehoben.
10
Zur Begründung trug der Bevollmächtigte im Wesentlichen vor, der Kläger müsse mit Verurteilung und Inhaftierung wegen Wehrdienstverweigerung in Syrien rechnen.
11
Mit Beschluss der ... Kammer des Verwaltungsgerichts … vom ... 2022 wurde die Streitsache an das Verwaltungsgericht München verwiesen.
12
Die Beklagte legte am ... 2022 die Akte des Verfahrens vor. Sie beantragt,
die Klage abzuweisen.
13
Mit Beschluss vom ... 2023 wurde der Rechtsstreit auf die Einzelrichterin übertragen.
14
In der mündlichen Verhandlung vom ... 2022 wurde der Kläger informatorisch gehört.
15
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die vorgelegte Behördenakte sowie auf die Sitzungsniederschrift vom ... 2022 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

16
Die Klage ist zulässig, bleibt aber in der Sache ohne Erfolg.
17
Der angefochtene Bescheid vom ... 2022 ist im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).
18
Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist das Gericht zunächst vollumfänglich auf die Begründung des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG), der das Gericht folgt.
19
Lediglich ergänzend ist noch Folgendes auszuführen:
20
Vorab wird festgestellt, dass der angefochtene Bescheid vom ... 2022 den formellen Widerrufsvoraussetzungen des § 73 Abs. 4 Satz 1 AsylG genügt. Insbesondere wurde dem Kläger im Widerrufsverfahren mit Schreiben vom ... 2021 Gelegenheit zur Äußerung gegeben.
21
Ferner ist der angefochtene Bescheid auch in materieller Hinsicht nicht zu beanstanden. Das Bundesamt hat zu Recht in Nr. 1 die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft widerrufen (dazu unter 1.) und in Nr. 2 den subsidiären Schutzstatus nicht zuerkannt (dazu unter 2.).
22
1. Der Widerruf der Flüchtlingsanerkennung ist rechtmäßig.
23
Die tatbestandlichen Voraussetzungen für den auf § 73 Abs. 1 Satz 1 und § 3 Abs. 4 AsylG sowie § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG gestützten zwingenden Widerruf (gebundene Entscheidung) des Schutzstatus liegen vor.
24
Gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen (gebundene Entscheidung), wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist gemäß § 3 Abs. 4 AsylG unter anderem dann der Fall, wenn das Bundesamt nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG absieht, weil von dem Ausländer nachträglich eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht (vgl. BVerwG, U.v. 1.11.2005 – 1 C 21/04 – juris Rn. 31 f.; zur Vereinbarkeit der Regelung mit dem Unionsrecht vgl. OVG RhPf, B.v. 28.4.2020 – 6 A 10318/20 – juris Rn. 10). Die Voraussetzungen für den Versagungsgrund des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG sind im vorliegenden Fall erfüllt.
25
a) Eine entsprechende Anlasstat liegt im Falles des Klägers vor.
26
Dieser wurde durch Urteil des Landgerichts … vom ... 2021 (Az. ...) wegen unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Jahren und 3 Monaten (Einzelfreiheitsstrafen von 4 Jahren bzw. 4 Jahren und 3 Monaten) verurteilt. Damit ist das erforderliche Mindestmaß von drei Jahren vorliegend überschritten.
27
b) Der Kläger stellt zum nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nach Überzeugung des Gerichts weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit dar (wovon auch die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid zu Recht ausgegangen ist).
28
aa) Zwar führen nicht bereits die Verurteilung einerseits und das Überschreiten des Mindeststrafmaßes von drei Jahren andererseits dazu, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abzusehen hat (bzw. vorliegend die Flüchtlingseigenschaft des Klägers zu widerrufen hat). Vielmehr bedarf es – nicht zuletzt im Hinblick auf Art. 33 Abs. 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) – in jedem Fall einer individuellen Prognose der Wiederholungsgefahr (vgl. BVerwG, U.v. 16.11.2000 – 9 C 6.00 – juris). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist von einer Wiederholungsgefahr auszugehen, wenn neue vergleichbare Straftaten des Ausländers ernsthaft drohen. Bei dieser Prognose sind die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, so insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung und das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, aber auch die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und die Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BVerwG, B.v. 12.10.2009 – 10 B 17.09 – juris Rn. 4; VGH BW, U.v. 29.1.2015 – A 9 S 314/12 – juris Rn. 46). Dabei können im Rahmen der auf Gefahrenabwehr gerichteten verwaltungsrechtlichen Prognoseentscheidung nicht nur rechtskräftige Verurteilungen, sondern auch Ermittlungsergebnisse eingestellter Strafverfahren, Ermittlungsverfahren und noch nicht rechtskräftige strafrechtliche Entscheidungen in der Prognoseentscheidung mitberücksichtigt werden (vgl. BVerwG, B.v. 21.5.1986 – 1 B 74/86; VG Trier, U.v. 6.10.2020 – 1 K 25/20.TR).
29
bb) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist unter Berücksichtigung der vom Kläger vorgebrachten und dem Gericht bekannten Umstände von einer weiterhin bestehenden Wiederholungsgefahr auszugehen.
30
Es ist zunächst festzuhalten, dass das Gericht bei der Erstellung der Prognose berücksichtigt, dass der Kläger erfolgreich eine Drogentherapie abgeschlossen hat. Ferner wird zu seinen Gunsten eingestellt, dass er nun eine Beschäftigung als Lagerist hat und wieder mit der Frau (samt Kindern) zusammen lebt, die er nach islamischem Recht geheiratet hat. Allerdings muss das Gericht die der gesetzlichen Regelung zu Grunde liegende Wertung beachten, dass Straftaten, die so schwerwiegend sind, dass sie zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren geführt haben, typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verknüpft sind. Die schwere, drittschädigende Straftat hat der Kläger innerhalb kürzer Zeit in drei Fällen begangen und damit einen erheblichen Gewinn erzielt. Obwohl er die Suchtgefahr von Betäubungsmitteln selber kannte, hat er auch Dritte dieser Gefahr ausgesetzt, um einen Vorteil für sich zu erlangen. Davon konnte ihn weder die vorangegangene Geldstrafe noch sein soziales Umfeld (Frau mit Kindern) abhalten. Bei der Prognose berücksichtigt das Gericht auch das Gewicht der bei einem Rückfall bedrohten Rechtsgüter (Leib und Leben anderer Menschen) und nimmt ausdrücklich Bezug auf die Begründung des angefochtenen Bescheids.
31
Vor diesem Hintergrund kann trotz der Wiederherstellung des sozialen Umfelds und des Abschlusses einer Therapie im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht mit der erforderlichen Gewissheit angenommen werden, dass der Kläger nicht in seine alten Verhaltensmuster zurückfällt.
32
2. Der Kläger kann auch nicht beanspruchen, als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 4 AsylG anerkannt zu werden, weil er den Ausschlusstatbestand des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG verwirklicht hat.
33
2.1. Nach § 73 Abs. 3 AsylG ist bei einem Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch zu entscheiden, ob die Voraussetzungen für den subsidiären Schutz vorliegen.
34
Nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG ist ein Ausländer von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG dann ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat (Nr. 1), eine schwere Straftat begangen hat (Nr. 2), sich Handlungen zuschulden kommen lassen hat, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen (BGBl. 1973 II S. 430, 431) verankert sind, zuwiderlaufen (Nr. 3) oder eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt (Nr. 4). Dabei ist zu beachten, dass die Abschiebung eines ernsthaft Bedrohten nur die ultima ratio darstellen kann; die Ausschlussgründe in § 4 Abs. 2 AsylG sind eng auszulegen.
35
2.2. Nach Überzeugung des Gerichts rechtfertigen im Falle des Klägers schwerwiegende Gründe jedenfalls die Annahme, dass der Kläger (weiterhin) eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt (§ 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AsylG). Von einer solchen Gefahr ist bei einer Rechtsgutsgefährdung auszugehen, die nicht nur eine Einzelperson betrifft und für das gesellschaftliche Zusammenleben in Sicherheit und Freiheit eine Gefährdung darstellt (vgl. BeckOK, Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 26. Edition, § 4 AsylG Rn. 38). Dies ist hier mit Blick auf die fortgesetzte Begehung von Drogenhandel-Delikten mit hoher krimineller Energie der Fall. Insoweit kann auf die Ausführungen zu § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG verwiesen werden.
36
3. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
37
4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).