Inhalt

VG München, Gerichtsbescheid v. 31.10.2023 – M 19 K 23.3792
Titel:

Voraussetzungen für die Fortsetzung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens trotz wirksamer Klagerücknahme

Normenketten:
VwGO § 84, §§ 88, 86 Abs. 3, § 92 Abs. 3, § 153
ZPO § 578, § 579, § 580
Leitsätze:
1. Die gerichtliche Einstellung eines Verfahrens nach Klagerücknahme stellt keine Entscheidung iSd § 153 VwGO dar, sodass eine Wiederaufnahmeklage unstatthaft ist. Der einzig statthafte Rechtsbehelf ist der Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens wegen behaupteter Unwirksamkeit der Klagerücknahme. (Rn. 14) (red. LS Mendim Ukaj)
2. Die Fortsetzung des Verfahrens kann nur erfolgen, wenn zuvor die Unwirksamkeit der Klagerücknahme rechtsverbindlich festgestellt worden ist. Andernfalls ist eine Sachentscheidung zur ursprünglichen Klage ausgeschlossen. (Rn. 16) (red. LS Mendim Ukaj)
3. Eine ordnungsgemäß erteilte, umfassende Prozessvollmacht umfasst regelmäßig auch die Befugnis zur Klagerücknahme. Der Kläger muss sich eine auf dieser Grundlage abgegebene Erklärung zurechnen lassen. (Rn. 22) (red. LS Mendim Ukaj)
4. Die Klagerücknahme ist eine einseitige, nicht annahmebedürftige Prozesserklärung, die mit Zugang bei Gericht kraft Gesetzes wirksam wird. Ein Widerruf ist nur ausnahmsweise bei Vorliegen eines gesetzlichen Nichtigkeits- oder Restitutionsgrundes (§§ 579, 580 ZPO) oder wenn das Festhalten an der Erklärung gegen Treu und Glauben verstößt zulässig. (Rn. 17 und 19 – 21) (red. LS Mendim Ukaj)
Schlagworte:
Antrag auf Fortsetzung des Klageverfahrens, Einstellung des ursprünglichen Verfahrens nach Klagerücknahme, Mangelnde Anhaltspunkte für Unwirksamkeit einer anwaltlich erklärten Klagerücknahme, Klagerücknahme, Fortsetzung des Verfahrens, Wirksamkeit der Klagerücknahme, Bevollmächtigung des Rechtsanwalts, Prozessvollmacht, Treu und Glauben, Fahrgastbeförderungserlaubnis, Anfechtbarkeit von Prozesserklärungen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 38421

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass das Verfahren mit dem Akten- zeichen M 19 K 22.3616 durch Klagerücknahme beendet wurde. 
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger macht die Unwirksamkeit seiner Klagerücknahme im Ausgangsverfahren M 19 K 22.3616 geltend, mit dem er sich gegen die Versagung seines Antrags auf Erteilung einer Erlaubnis zur Fahrgastbeförderung durch den Beklagten gewandt hat und begehrt die Fortsetzung dieses Klageverfahrens.
2
Der vom Kläger gestellte Antrag auf Erteilung einer erneuten Erlaubnis zur Fahrgastbeförderung für Taxen u.a. wurde sowohl im Ausgangsverfahren mit Bescheid vom 28. Oktober 2021 als auch im nachfolgenden Widerspruchsverfahren mit Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 2022 abgelehnt. Die Versagung beruhte auf einem nicht beigebrachten medizinisch-psychologischen Gutachten (§ 11 Abs. 8 Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) i.V.m. § 48 Abs. 8 Satz 1 FeV). Dieses wurde vom Beklagten auf Grundlage des § 11 Abs. 3 Nr. 6 Alt. 2 und Nr. 7 FeV angeordnet. Die Gutachtensanordnung basierte im Wesentlichen auf einem seit 7. Juli 2020 rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts München, wonach der Kläger wegen einer vorsätzlichen Körperverletzung verurteilt worden ist, der ein im Zuge eines Streits am Taxistand erfolgter tätlicher Angriff des Klägers auf einen anderen Taxifahrer zugrunde lag.
3
Der Kläger hat am 20. Juli 2022 durch seinen Prozessbevollmächtigten Klage gegen die Versagung seines Antrags auf Erteilung einer Erlaubnis zur Fahrgastbeförderung erhoben. Das Verfahren wurde unter dem Aktenzeichen M 19 K 22.3616 eingetragen.
4
Nach gewährter Akteneinsicht nahm der Klägerbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 19. Oktober 2022 die Klage zurück. Das Verwaltungsgericht stellte daraufhin mit Beschluss vom gleichen Tag das Verfahren M 19 K 22.3616 ein.
5
Dem Gericht liegt eine vom Kläger unterzeichnete Vollmacht vom 13. Oktober 2021 vor, mit der dieser seinem Bevollmächtigten eine umfassende Vollmacht zur Prozessführung erteilt hatte.
6
Der Kläger hat mit am 12. Juli 2023 bei Gericht eingegangenen Schreiben geltend gemacht, er habe einer Klagerücknahme nicht zugestimmt und wolle die Klage wiederaufnehmen und ohne anwaltliche Vertretung weiterführen. Er beantragte die Klage wiederaufzunehmen.
7
Das Gericht machte ihn mit Schreiben vom 8. August 2023 darauf aufmerksam, dass sein Antrag zwar bei entsprechender Auslegung als Fortsetzungsverfahren zulässig sei. Aufgrund der im Oktober 2022 erklärten Klagerücknahme und mangels Anhaltspunkten für deren Unwirksamkeit, werde der Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens jedoch aller Voraussicht nach erfolglos bleiben.
8
Der Beklagte nahm mit Schriftsatz vom 10. August 2023 zur ursprünglich eingereichten Klage Stellung und beantragte die Klage abzuweisen.
9
Der Kläger äußerte sich mit Schreiben vom 2. September 2023 zur Klageerwiderung des Beklagten. Auf die vom Gericht mit richterlichem Hinweis vom 8. August 2023 geäußerten Bedenken nahm er nicht Stellung.
10
Auf die Anhörung zum Gerichtsbescheid vom 14. September 2023 erfolgte seitens des Klägers keine Reaktion. Der Beklagte stimmte mit Schreiben vom 18. September 2023 einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung oder durch Gerichtsbescheid zu.
11
Mit Beschluss vom 12. Oktober 2023 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen. Wegen weiterer Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Behördenakte und die Gerichtsakten, auch des hinzugezogenen Verfahrens M 19 K 22. 9616 verwiesen.

Entscheidungsgründe

12
Über die Klage konnte nach Anhörung der Beteiligten von der zuständigen Einzelrichterin durch Gerichtsbescheid ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Voraussetzungen des § 84 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) hierfür vorliegen; das Verfahren weist keine besonderen Schwierigkeiten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht auf; zudem ist der Sachverhalt geklärt.
13
Die Klage auf Fortsetzung des Verfahrens bietet keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Sie ist zwar zulässig, aber unbegründet.
14
1. Die vom nicht vertretenen Kläger erhobene „Klage auf Wiederaufnahme“ ist im Wege der Auslegung (§§ 88, 86 Abs. 3 VwGO) als Antrag auf Fortsetzung des ursprünglichen Klageverfahrens statthaft und damit zulässig. Die Einstellung eines Verfahrens nach Klagerücknahme mit der das Gericht die aufgrund der Rücknahmeerklärung bereits unmittelbar kraft Gesetzes eingetretene Verfahrensbeendigung deklaratorisch feststellt, zählt nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung nicht zu den Gründen einer der Wiederaufnahme nach § 153 VwGO zugänglichen Entscheidung. In einem solchen Fall kommt für einen Kläger, der sich mit der Beendigung des Verfahrens nicht abfinden will, als geeigneter Rechtsbehelf nur der auf die Unwirksamkeit der Klagerücknahme gestützte Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens in Betracht (vgl. OVG NRW, B.v. 29.8.2016 – 4 A 1250/16 – juris Rn. 16 f.; BVerwG, B.v. 23.10.1998 – 7 B 234/98 – juris Rn. 5).
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2. Diese Klage auf Fortsetzung des Verfahrens ist jedoch unbegründet, denn die Klagerücknahme war wirksam und hat das Verfahren M 19 K 22.3616 rechtskräftig beendet.
16
Das streitgegenständliche Verfahren beschränkt sich zunächst auf die Frage der wirksamen Klagerücknahme (VG Hamburg, U.v. 8.11.2022 – 5 K 2081/22 – juris Rn. 62; BayVGH, U.v. 3.3.2005 – 13 A 04.2868 – juris Rn. 17). Erst wenn geklärt ist, dass die Klagerücknahme unwirksam erfolgt ist, ist in einem zweiten Schritt eine Entscheidung über den Erfolg der ursprünglichen Klage (hier auf Erteilung einer Erlaubnis zur Fahrgastbeförderung) zu treffen.
17
2.1. Mit der vom damaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers erklärten Klagerücknahme fand das Verfahren M 19 K 22.3616 kraft Gesetzes seinen Abschluss. Ihre Rechtswirkung als einseitige Prozesserklärung trat ohne weiteres mit Eingang bei Gericht ein (Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 92 Rn. 3).
18
2.2. Gründe für eine Unwirksamkeit der Klagerücknahme liegen nicht vor.
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Prozesserklärungen, zu denen auch die Rücknahmeerklärung zählt, sind grundsätzlich weder anfechtbar noch widerrufbar. In der Rechtsprechung ist jedoch geklärt, dass sich die Prozessbeteiligten nicht ausnahmslos an ihren Erklärungen festhalten lassen müssen und unter bestimmten Umständen ein Widerruf statthaft ist, wenn ein Wiederaufnahmegrund i.S.d. §§ 579, 580 ZPO vorliegt oder das Festhalten an der Prozesserklärung gegen Treu und Glauben verstößt (Clausing in: Schoch/Schneider, 44. EL März 2023, VwGO § 92 Rn. 23 m.w.N.; BVerwG, B.v. 7.8.1998 – 4 B 75/98 – juris Rn. 3 m.w.N.; U.v. 6.12.1996 – 8 C 33/95 – juris Rn. 14).
20
Es gibt keine Anhaltspunkte, dass einer der entsprechend heranzuziehenden gesetzlich bestimmten Umstände (Restitutionsgründe i.S.d. § 580 ZPO oder Nichtigkeitsgründe i.S.d. § 579 ZPO) vorliegt. Eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung, Drohung, sittenwidrige Täuschung, unzulässigen Druck oder ähnliches oder durch unzutreffende Empfehlung oder Belehrung durch das Gericht kommt nicht in Betracht (vgl. VG Schwerin, U.v. 17.8.2000 – 7 A 2764/96 – juris Rn. 27 ff.). Die Klagerücknahme erfolgte aus freien Stücken von Seiten der Klägerseite ohne jegliche Beeinflussung von Seiten des Gerichts.
21
Auch unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben ist vorliegend nicht erkennbar, weshalb nicht an der erklärten Klagerücknahme festzuhalten wäre. Es fehlt jeglicher Anhaltspunkt, weshalb die explizit erklärte Klagerücknahme vom 19. Oktober 2022 („erkläre ich die Klagerücknahme“) unwirksam sein könnte. Jedenfalls wäre eine solche im Zeitpunkt des Eingangs der Rücknahmeerklärung beim Gericht weder für das Gericht noch für die Beklagte erkennbar gewesen.
22
Es lag eine ordnungsgemäße Bevollmächtigung des Klägerbevollmächtigten (vgl. Vollmacht vom 13.10.2021) durch den Kläger vor, die unter Nr. 3 u.a. auch die „Einlegung und Rücknahme von Rechtsmitteln sowie Verzicht auf solche“ umfasst. Der Kläger muss sich die erklärte Rücknahme des von ihm bevollmächtigten Rechtsanwalt damit zurechnen lassen. Er trägt auch keine Gründe vor, die darauf hindeuten könnten, dass er im Zeitpunkt der erklärten Klagerücknahme die Bevollmächtigung seines Rechtsanwalts beschränkt oder beendet hätte. Sein Vortrag, der Klagerücknahme nicht zugestimmt und von dieser erst Mitte des Jahres 2023 erfahren zu haben, vermag dies nicht zu substantiieren.
23
Schließlich liegen auch keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass der Prozessvertreter des Klägers oder der Beklagte – in Anlehnung an den Wiederaufnahmegrund in § 580 Nr. 4 ZPO – die Rücknahmeerklärung durch eine in Beziehung auf den Rechtsstreit verübte Straftat erwirkt hat.
24
2.3. Aufgrund der wirksamen Klagerücknahme ist über die Erfolgsaussichten der ursprünglichen Klage auf Erteilung einer Erlaubnis zur Fahrgastbeförderung nicht zu befinden. Dem Kläger steht es aber unbenommen, erneut einen Antrag auf Erteilung der Erlaubnis der Fahrgastbeförderung bei der Fahrerlaubnisbehörde zu stellen und somit seinem eigentlichen Begehren nachzugehen.
25
Die Klage war mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
26
Dieser Gerichtsbescheid wirkt als Urteil (§ 84 Abs. 3 VwGO).