Titel:
Kostenerstattung, Inobhutnahme aus einer Pflegefamilie bei Vormundschaft des Jugendamtes, Hilfeplanverfahren
Normenketten:
SGB VIII § 36
SGB VIII § 42
SGB VIII § 89b
SGB VIII § 89c
SGB VIII § 89f
Schlagworte:
Kostenerstattung, Inobhutnahme aus einer Pflegefamilie bei Vormundschaft des Jugendamtes, Hilfeplanverfahren
Fundstelle:
BeckRS 2023, 38415
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger, ein Jugendhilfeträger, begehrt von der Beklagten, ebenfalls ein Jugendhilfeträger, Kostenerstattung in Höhe von 43.567,41 EUR, die im Rahmen einer Inobhutnahme in der Zeit vom 15. März 2017 bis 8. September 2017 für F. angefallen sind.
2
F., geb. ... 2000, war seit 14. Dezember 2001 in der Pflegefamilie W. untergebracht, die damals im Zuständigkeitsbereich der Beklagten wohnte. Auch beide Elternteile lebten damals im Zuständigkeitsbereich der Beklagten. Aufgrund des Umzugs der Pflegefamilie in den Zuständigkeitsbereich des Klägers übernahm dieser am 1. November 2004 den Fall. Entstandene Kosten wurden von der Beklagten erstattet. Spätestens im Jahr 2006 wurde der zunächst allein sorgeberechtigten Kindsmutter das Sorgerecht entzogen und auf einen Vormund übertragen. 2007 nahm die Pflegefamilie das weitere Pflegekind A. (geboren 2003) auf. 2012 verstarb der Pflegevater.
3
Ab Juni 2015 zeigten sich Auffälligkeiten in F.s Verhalten. So wurde im Rahmen der Hilfeplanfortschreibung vom 11. Juni 2015 zur aktuellen Situation festgehalten, dass F. Verhaltensweisen und Haltungen an den Tag lege, die Anlass zur Sorge gäben. F. habe schwere Gewaltphantasien und einen Hang zur Ausreizung von Grenzen. Die Situation zwischen F. und seinem Pflegebruder sei laut Frau W. seit Langem angespannt. Es komme täglich zu Konflikten. F. habe den Verlust des Pflegevaters nicht verarbeitet, sei auch mit der Trauer von Frau W. überfordert und habe kein konstantes Männervorbild mehr. Auf Ängste reagiere er augenscheinlich mit forscher Aggression, mit seiner Anstrengungsverweigerung gefährde er einen Schulabschluss. Zwar bestehe eine enge und vertrauensvolle Bindung zu Frau W., es mache jedoch den Eindruck, dass Frau W. überfordert sei. Als Veränderung der Leistung ist in der Hilfeplanfortschreibung eine intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (ISE) angegeben. Es wurde die zusätzliche Vereinbarung getroffen, dass die Kinder- und Jugendpsychiaterin Dr. K. beauftragt werde, ein Gutachten zu erstellen.
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Im Teamprotokoll des Klägers vom 2. Juli 2015 finden sich ähnliche Ausführungen wie in der o.g. Hilfeplanfortschreibung. Dr. K., die F. seit mehreren Jahren kenne, habe Erziehungsbeistandschaft vorgeschlagen. Für eine ISE sei die Beklagte zuständig. Um eine schnelle Hilfe zu gewähren, wurde zuerst eine Erziehungsbeistandschaft im Hilfeplangespräch am 13. Juli 2015 vereinbart und mit Bescheid vom 6. Oktober 2015 ab 13. Juli 2015 bewilligt.
5
Im März 2016 wurde das Jugendamt des Klägers zum Vormund bestellt.
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Ab Juli 2016 gab es Anzeichen für eine weitere negative Entwicklung von F. Laut sozialpädagogischer Stellungnahme des Jugendamtes des Klägers vom 26. Juli 2016 seien in F.s Entwicklung seine mangelnde Impulskontrolle mit Aggressionsausbrüchen, geringe Frustrationstoleranz und Autoritätsprobleme auffällig. Frau W. habe mitgeteilt, dass sich F. laut Aussagen eines Freundes in rechtsradikalen Kreisen bewege, Drogengeschäfte vermittle und in hohem Maß Gewaltspiele spiele. F. verfüge laut Frau W. außerdem über erhebliche Geldmengen, die ihr unerklärlich seien. F. habe die Sachverhalte eingeräumt, jedoch bagatellisiert. Aus ärztlicher Sicht sei eine ISE geboten. Frau W. halte eine Veränderung für notwendig. Die fachliche Einschätzung lautete: Hohe Entwicklungsgefährdung, Vollzeitpflege nicht die geeignete Maßnahme, Unterbringung in Wohngruppe nicht ausreichend, langfristige ISE-Maßnahme im Ausland dringend angezeigt, Risikojugendlicher.
7
Mit E-Mail vom 26. Juli 2016 teilte das Jugendamt des Klägers dem Jugendamt der Beklagten mit, das Pflegeverhältnis könne aufgrund der hohen Auffälligkeiten des Jugendlichen nicht aufrechterhalten werden. Es bedürfe einer dringenden Perspektivenklärung. Ein Gespräch mit der behandelnden Kinder- und Jugendpsychiaterin und mit dem Erziehungsbeistand habe ergeben, dass eine ISE Maßnahme dringend angezeigt sei.
8
In einem Aktenvermerk des Jugendamtes des Klägers wurde am 27. Juli 2016 festgehalten, F. sei schwer gefährdet. Er verfüge über ungeahntes Geld, bewege sich in Drogen- und rechtradikalen Kreisen. Es bestehe Amokgefahr. F. habe Zugang zu Waffen. Er habe den Quali geschafft. Frau W. komme aber nicht mehr mit ihm zurecht und F. wisse dies auch. Wegen ADHS komme er zu regelmäßigen Gesprächen zu Dr. K., habe aber keine regelmäßige Therapie.
9
Mit Schreiben vom 28. Juli 2016 übersandte das Jugendamt des Klägers dem Jugendamt der Beklagten die Sozialpädagogische Stellungnahme vom 26. Juli 2016 und teilte mit, eine frühzeitige Zusammenarbeit bis zur tatsächlichen Fallübernahme durch die Beklagte werde für dringend geboten gehalten.
10
Im Entwicklungsbericht des Erziehungsbeistands über den Zeitraum 3. Mai 2016 bis 29. Juli 2016 wurde eine ISE-Maßnahme empfohlen und mitgeteilt, ein ambulantes Setting reiche nicht mehr aus.
11
Mit E-Mail vom 2. August 2016 wandte sich das Jugendamt des Klägers nochmals an das Jugendamt der Beklagten mit der dringenden Bitte um Perspektivenklärung, da die Hilfe nach § 33 SGB VIII zum Ende August 2016 beendet werden solle und dann die Zuständigkeit der Beklagten einsetze.
12
Eine kinder- und jugendpsychiatrische Stellungnahme vom 9. August 2016 sprach sich für die Einleitung einer ISE-Maßnahme aus.
13
Mit Schreiben vom 9. August 2016 teilte der Kläger nochmals mit, das Pflegeverhältnis müsse zum 31. August 2016 beendet werden. Es sei dringend eine Perspektivenklärung notwendig. Es werde um sofortige Fallübernahme gebeten.
14
Mit E-Mail vom 9. August 2016 teilte das Jugendamt der Beklagten mit, eine sofortige und dringende Fallübernahme sei wenig sinnvoll, wenn der Fall inhaltlich kaum bekannt sei. Es sei mit dem Jugendamt des Klägers bereits ein Fachteam für den 23. August 2016 anberaumt worden. Gemäß § 86c SGB VIII sei der Kläger so lange verantwortlich, bis einer geordnete Fallabgabe gelungen sei.
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F. lehnte eine ISE-Maßnahme ab und verblieb weiter bei Familie W.
16
Ab 13. September 2016 befand sich F. – wohl in Absprache mit der Beklagten – in der ambulanten Jugendhilfemaßnahme „W.& B.“, welche eine tagesstrukturierende Hilfe für verhaltensauffällige und ggf. bereits straffällig gewordene Jugendliche anbietet.
17
Zum Hilfeplangespräch vom 15. September 2016, an dem F. nicht teilnahm, wurde festgehalten, dass Frau W. Bedenken habe, ob die Maßnahme „W.& B.“ zeitlich und örtlich ausreichend sei. Sie könne keine vollständige Überwachung von F.s Freizeitgestaltung leisten. Sie halte eine stationäre Maßnahme mit Herausnahme aus dem Umfeld für notwendig. Die Erziehungsbeiständin schließe sich dieser Haltung an. F. akzeptiere die Maßnahme „W.& B.“ als „geringeres Übel“ und der dortige Betreuer gehe sicher davon aus, F. erreichen zu können. Daher sei diese ambulante Maßnahme derzeit das pädagogische Mittel der Wahl. Als Verhaltensregeln sei formuliert worden, dass F. nach Ende des Arbeitstages bei „W.& B.“ nach Hause zu kommen habe, seine Freizeitunternehmungen mit Frau W. abzusprechen und diese Absprachen zuverlässig einzuhalten habe, bis zum nächsten Hilfeplangespräch ca. Ende Oktober nicht aushäusig übernachten dürfe, keine Drogen konsumiere und in keine Drogengeschäfte verwickelt sein dürfe, keine Kontakte zu rechtsradikalen Gruppen unterhalte, keine Einflussnahme auf den Pflegebruder ausübe und ein angemessenes Sozialverhalten zeige sowie einen respektvollen Umgang pflege. Mit Frau W. sei besprochen worden, dass sie nicht verantwortlich sei für F.s Tun, jedoch für die Kontrolle der Absprachen und die Einschätzung ihrer eigenen Kräfte. Bei Nichteinhalten der Vorgaben bzw. eigener Erschöpfung der Erziehungskräfte habe Frau W. das Jugendamt unmittelbar zu informieren. Dann würde die Pflege beendet. Die Erziehungsbeistandschaft ende zum 30. September 2016. Eine Beschulung im M-Zweig werde noch geklärt.
18
In der Hilfeplanfortschreibung vom 9. November 2016 wurde festgehalten, die Maßnahme „W.& B.“ laufe gut. Frau W. habe ebenfalls den Eindruck, dass eine Änderung des Verhaltens und der Einstellungen begonnen habe. Sie habe ein gutes Gefühl und erlebe derzeit einen „normal pubertierenden“ F. Es sei vereinbart worden, dass F. nach Absprache mit Frau W. bei Freunden übernachten dürfe, soweit es sich nicht um Angehörige der rechten oder der Drogenszene handle. F. habe den Wunsch nach einer Beschulung in der Regelschule geäußert. Dies sei diskutiert worden. Im Ergebnis wurde festgestellt, dass die Entwicklung zwar sehr erfreulich, aber noch keinesfalls als stabil angesehen werden könne.
19
Am 15. Januar 2017 verstarb F.s Vater. Die Mutter war zu diesem Zeitpunkt im Zuständigkeitsbereich der Beklagten gemeldet, ab 1. März 2017 allerdings unbekannt verzogen.
20
Im Hilfeplangespräch am 6. März 2017 wurde laut Protokoll des Klägers deutlich, dass F.s Grundbefindlichkeiten in allen Bereichen großen Schwankungen ausgesetzt seien. Diskutiert worden sei insbesondere F.s Ziel des Erreichens der Mittleren Reife. Von den Mitarbeitern von „W.& B.“ seien diffuse Befürchtungen eingebracht worden, F. könnte ein Drogenproblem haben. Ein Soforttest habe das Ergebnis Dauerkonsum von THC, Konsum von Amphetamin, Konsum von Crystal Meth aufgewiesen. In der Runde sei festgestellt worden, dass die Vollzeitpflege nicht mehr die geeignete Maßnahme sei.
21
Nach Angaben des Klägers teilte Frau W. dem Kläger am 8. März 2017 mit, dass sie sich nicht mehr in der Lage sehe, F. weiter bei sich zu behalten. Sie fürchte mehr denn je um seine Entwicklung und sehe, dass sie seit Langem von ihm hintergangen worden sei. Aus ihrer Sicht sei eine vollstationäre Unterbringung in einer Drogeneinrichtung notwendig, eine Wohngruppe reiche ihrer Ansicht nach nicht aus. Die ambulante Maßnahme „W.& B.“ sei nicht geeignet.
22
Mit Schreiben vom selben Tag teilte der Kläger der Beklagten die aktuellen Entwicklungen mit und bat zur Abstimmung der weiteren Vorgehensweise um ein zeitnahes Gespräch, da die Vollzeitpflege zum 31. März 2017 beendet werden solle.
23
Laut Aktenvermerk der Beklagten sei ihr vom Kläger eingeräumt worden, bis 31. März 2017 einen Platz in der Jugendhilfe zu finden. Dies sei auch F. so mitgeteilt worden. Mit sämtlichen Helfern sei ein Gespräch zur Fallübergabe und zum weiteren Vorgehen am 21. März 2017 vereinbart worden.
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Laut Aktenvermerk des Jugendamtes des Klägers vom 16. März 2017 habe sich Frau W. am 13. März 2017 dort telefonisch gemeldet und mitgeteilt, eine Mitarbeiterin von „W.& B.“ habe versucht, sie zu überzeugen, F. weiter bei sich zu behalten. Sie habe ihr abverlangt, das Gespräch nicht an das Jugendamt des Klägers weiterzugeben. Außerdem habe F. Frau W. erzählt, dass bei „W.& B.“ regelmäßig gekifft werde. Häufig sei er dort auch mehrere Stunden unbeschäftigt und auch einmal verfrüht heimgeschickt worden, ohne dass Frau W. darüber benachrichtigt worden sei. Weiter ist im Aktenvermerk festgehalten, am 14. März 2017 sei die aktuelle Entwicklung in einer Supervision ausführlich erörtert worden und im Ergebnis festgestellt worden, dass das Wohl von F. dauerhaft und akut erheblich gefährdet sei und Frau W. keine Möglichkeiten habe, einen geeigneten erzieherischen Einfluss auf ihn zu nehmen. Zudem müsse davon ausgegangen werden, dass von Seiten „W.& B.“ Manipulationsversuche liefen, Frau W. dazu zu bewegen, die Situation weiter auszuhalten. Eine Inobhutnahme sei dringend angezeigt. Die Situation sei am 14. März 2017 mit dem Vormund besprochen worden.
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Am 14. März 2017 teilte der Kläger Frau W. mit, sie solle F. mitteilen, dass er am nächsten Tag mit gepackter Tasche im Jugendamt des Klägers sein solle, um dann in eine Inobhutnahmestelle gebracht zu werden.
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Am 15. März 2017 wurde F. durch das Jugendamt des Klägers in Obhut genommen und in die Schutzstelle J. im örtlichen Zuständigkeitsbereich der Beklagten verbracht.
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Mit Bescheid des Klägers vom 20. März 2017 wurde die Hilfe zur Erziehung durch Unterbringung in einer Pflegestelle ab 15. März 2017 eingestellt. Der ursprüngliche hilfegewährende Bescheid vom 24. September 2004 wurde gemäß § 48 Abs. 1 SGB X aufgehoben. Das Pflegeverhältnis habe am 15. März 2017 durch Inobhutnahme geendet.
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Nach den Angaben der Beklagten soll Frau W. der Beklagten am 21. März 2017 berichtet haben, dass sie von der Mitteilung des Klägers am 14. März 2017 über die bevorstehende Inobhutnahme überrascht gewesen sei, da dies so nicht abgemacht gewesen sei.
29
Mit Schreiben vom 30. März 2017 beantragte der Kläger bei der Beklagten aufgrund des Wechsels der örtlichen Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII die Fallübernahme und Anerkennung der Kostenerstattungspflicht gemäß § 98b SGB VIII für die Zeit ab 15. März 2017 bis zur Fallübernahme.
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Die Empfehlung eines Fachteams bei der Beklagten vom 30. März 2017 lautete vollstationäre Unterbringung nach § 34 oder § 35 SGB VIII. Bezüglich § 35a SGB VIII solle eine weitere Stellungnahme vorgelegt werden. Sollte die vollstationäre Unterbringung scheitern, könne auch eine Rückführung zur Pflegemutter nach § 33 SGB VIII unter der Bedingung, dass familientherapeutische Sitzungen durgeführt würden, erfolgen.
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In einem Gespräch zwischen dem Jugendamt der Beklagten, F. und Frau W. am 4. April 2017 wurde thematisiert, dass F. wieder zu Besuch bei Frau W. gewesen sei. Alles liefe gut. Frau W. schließe nicht aus, F. wieder aufzunehmen.
32
Mit Schreiben vom 3. Mai 2017 beantragte Frau W. bei der Beklagten die Vormundschaft für F.
33
Am 3. Mai 2017 teilte die Beklagte dem Kläger mit, es bestünden Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme. F. habe weder um eine Inobhutnahme gebeten noch habe es eine dringende Gefahr für F. oder andere gegeben. Dass F. Drogen konsumiert habe, sei spätestens seit dem 6. März 2017 bekannt gewesen. Zwischen dem einzigen Drogenschnelltest und der Inobhutnahme am 15. März 2017 habe es keine weiteren Vorfälle gegeben, vielmehr sei F. täglich bei „W.& B.“ gewesen. Abends und an den Wochenenden habe er sich in seiner Pflegefamilie befunden. Es wurde um Stellungnahme dazu gebeten, welche Gründe ausschlaggebend für die Inobhutnahme gewesen seien und worin konkret die Gefährdung gelegen habe.
34
Der Kläger erwiderte hierauf mit Schreiben vom 10. Mai 2017.
35
Im Mai 2017 wurde die Maßnahme „W.& B.“ beendet.
36
Auf weitere Nachfragen des Klägers teilte die Beklagte mit E-Mail vom 13. Juni 2017 mit, die Fallübernahme könne ab der Hilfe zur Erziehung erfolgen. Das Finden eines adäquaten Platzes gestalte sich aber schwierig. Die Zuständigkeit für die Inobhutnahme liege weiterhin gemäß § 87 SGB VIII beim Kläger.
37
Am 14. Juni 2017 wurde F. in eine neue Schutzstelle W. verlegt.
38
Im Aufnahmebericht der neuen Schutzstelle W. vom 26. Juni 2017 wurde festgehalten, dass das Drogenscreening, das positiv auf Methamphetamin, Amphetamin und THC reagiert habe, zeige, dass F. bezüglich Drogenkonsums besonders gefährdet sei und somit einen klaren Bedarf an drogenpräventiven Maßnahmen sowie an einer Abklärung im Rahmen stationärer Jugendhilfe habe. Ohne eine Abklärung im stationären Jugendhilfesetting sei davon auszugehen, dass F. weiterhin Drogen konsumiere. Das adäquate Verarbeiten seiner Vorgeschichte sei ohne eine psychologische/therapeutische Anbindung (innerhalb stationärer Jugendhilfe) schwer zu leisten. Es sei nicht eindeutig nachvollziehbar, aus welchem Grund F. aus der Pflegefamilie W. herausgenommen worden sei. Eine Beendigung der Pflegschaft durch Frau W. aufgrund von Drogenkonsum und eine darauffolgende Unterbringung in einer Schutzstelle sei nach Auffassung der Einrichtung kontraindiziert. Es werde empfohlen, in einem dreimonatigen Clearing zusammen mit F. zu erarbeiten, was er für seinen Verselbständigungsprozess sowie für eine adäquate psychosoziale (Weiter-)Entwicklung benötige.
39
Am 8. September 2017 zog F. in das Jugendhaus T. Die Inobhutnahme wurde beendet. Laut Bescheid des Klägers vom 11. September 2017, geändert mit Bescheid vom 15. September 2017, wurde F. vom 14. Juni 2017 bis 8. September 2017 in Obhut genommen.
40
Mit Schreiben vom 12. September 2017 lehnte die Beklagte die Kostenerstattung ab, da die Inobhutnahme nicht rechtmäßig gewesen sei. Eine akute Gefährdungslage habe am 15. März 2017 nicht vorgelegen.
41
Hierzu nahm der Kläger mit Schreiben vom 7. November 2017 Stellung und führte aus, dass eine Übernahme durch die Beklagte erst für den 21. März 2017 in Aussicht gewesen sei. Die dringende Gefahr habe am 15. März 2017 darin bestanden, dass eine Fortführung des Pflegeverhältnisses seitens der Pflegemutter unverzüglich nicht mehr habe verantwortet werden können. Zudem habe sich F.s Situation insgesamt als in hohem Maße gefährdet dargestellt. Ein Dauerpflegecharakter sei ab dem 8. März 2017 nicht mehr gegeben gewesen. Mit weiteren Schreiben wurden die Kosten beziffert und erfolgten Zahlungserinnerungen.
42
Am 8. November 2017 wurde Frau W. zu F.s Vormündin bestellt. Am 1. Januar 2018 zog F. zurück zu Familie W.
43
Am 5. September 2018 erhob der Kläger Klage und beantragte,
44
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die in der Jugendhilfeangelegenheit F. im Zeitraum vom 15.3.2017 bis 8.9.2017 entstandenen Kosten in Höhe von 43.567,41 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten.
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Zur Begründung wurde vorgetragen, dem Kläger stehe der Anspruch auf Kostenerstattung gemäß § 89b Abs. 1 SGB VIII zu. Der Kläger sei örtlich zuständiger Träger für die Inobhutnahme gemäß § 87 SGB VIII i.V.m. § 42 SGB VIII, da sich F. zum Zeitpunkt der Inobhutnahme im Gebiet des Klägers aufgehalten habe. Die Notwendigkeit einer jugendhilferechtlichen Maßnahme habe zu diesem Zeitpunkt bestanden, da eine Gefährdung des Wohls des Jugendlichen vorgelegen habe. Er habe von seiner Pflegemutter erzieherisch nicht mehr erreicht werden können. Sein Drogenkonsum sei durch den Drogenschnelltest belegt worden. Zusätzliche Gefährdungspunkte seien eine langjährige, hohe Affinität zu Waffen, eine belegte Tierquälerei/-tötung, die von dem Jugendlichen selbst geäußerte, über einen längeren Zeitraum anhaltende Gefühlslosigkeit, die von ihm selbst eingeräumte Vermittlungstätigkeit bei Drogengeschäften, die Zugehörigkeit zu einer rechtsradikalen Gruppe, das vom Umfeld an die Pflegemutter gemeldete Spielen von einschlägigen Gewaltspielen, seine persönliche Perspektivlosigkeit nach der Aufdeckung der akuten Problematik, Verlustängste und fehlende Einsichtsfähigkeit des Jugendlichen und geäußerte Drohungen gegenüber Fachkräften. Die Beklagte sei als örtlich zuständiger Träger nach § 86 Abs. 1 SGB VIII erstattungspflichtig. Die Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII ende mit dem Ende des Aufenthalts bei der Pflegefamilie, § 86 Abs. 6 Satz 3 SGB VIII. Danach sei der Anknüpfungspunkt für die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII entfallen. Die örtliche Zuständigkeit ergebe sich dann wieder aus § 86 Abs. 1 SGB VIII. Der Kindsvater sei verstorben, die Kindsmutter habe zum maßgeblichen Zeitpunkt ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Beklagten gehabt, sodass die Beklagte örtlich zuständiger Träger sei.
46
Mit Schriftsatz vom 17.12.2018 beantragte die Beklagte:
47
Die Klage wird abgewiesen.
48
Es wurde mitgeteilt, Frau W. habe am 23. Mai 2017 gegenüber der Beklagten verneint, dass sie gegenüber dem Kläger am 13. März 2017 telefonisch ausgesagt habe, sie habe keinen erzieherischen Einfluss mehr auf F. Sie habe immer geäußert, dass sie F. halten wolle. Aufgrund der Tatsache, dass ein weiteres Pflegekind bei ihr lebe, für das die Zuständigkeit bei der gleichen Sachbearbeiterin beim Kläger liege, habe sie sich nicht getraut, der Inobhutnahme von F. zu widersprechen. Sie habe sich vom Jugendamt des Klägers extrem unter Druck gesetzt gefühlt. Frau W. habe außerdem der Äußerung, dass sie in die Entscheidung über eine Inobhutnahme miteinbezogen worden sei, widersprochen. Sie sei nur über den Termin der bereits beschlossenen Inobhutnahme in Kenntnis gesetzt worden. Auch die Vormündin sei überrascht gewesen. Außerdem wurde mitgeteilt, bei einem Besuch der Sachbearbeiterin der Beklagten bei F. in der Maßnahme „W.& B.“ am 17. März 2017 (nach der Inobhutnahme) sei F. in einem schlechten Zustand gewesen. Er habe erklärt, dass er nicht verstehe, warum er nicht mehr bei seiner „Mutter“ wohnen könne, dass er wieder dorthin zurück wolle und auf eine „normale“ Schule wolle, um seinen mittleren Schulabschluss zu erreichen. Die Pädagogen der Maßnahme hätten erklärt, dass F. sich mit der Inobhutnahme verändert habe. Er sei in sich gekehrt und sei nicht mehr pünktlich erschienen. Weiterhin wurde ausgeführt, die pädagogische Arbeit bzw. die Platzsuche für eine stationäre Unterbringung habe die Beklagte in Rücksprache mit dem Kläger übernommen, u.a. weil die Sachbearbeiterin des Klägers darum gebeten habe, da ihre Zuständigkeit nicht im Bereich stationäre Einrichtungen gelegen habe. Weiterhin habe das Jugendamt des Klägers der Übertragung der Vormundschaft auf Frau W. zugestimmt, während Frau W. zuvor als nicht fähig, F. erzieherisch zu begegnen, angesehen worden sei. Zur Rechtslage wurde ausgeführt, nach § 89f Abs. 1 SGB VIII seien die aufgewendeten Kosten zu erstatten, soweit die Erfüllung der Aufgaben den Vorschriften des SGB VIII entspreche. Die Voraussetzungen des § 42 SGB VIII seien nicht erfüllt gewesen. Es hätten keine akuten oder konkreten Gefährdungsmerkmale vorgelegen, die eine sofortige Herausnahme aus der Pflegefamilie gerechtfertigt hätten. Die Maßnahme habe sich auf die „Drogenproblematik“ gestützt. Diese sei aber spätestens zum 6. März 2017 bekannt gewesen, sodass konsequenterweise an diesem Tag eine Inobhutnahme hätte erfolgen müssen. Ein (dauernder) Drogenkonsum sei allein durch einen einmaligen Schnelltest nicht nachgewiesen. Bis zur Inobhutnahme neun Tage später habe es keine weiteren Vorkommnisse gegeben.
49
Mit Schreiben vom 22. März 2023 verzichtete die Beklagte und mit Schreiben vom 31. März 2023 der Kläger auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
50
Zum Sachverhalt im Übrigen wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegten Behördenakten der Beteiligten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
51
Die Klage hat keinen Erfolg. Der verfolgte Kostenerstattungsanspruch auf Ersatz der während der Inobhutnahme entstandenen Kosten steht dem Kläger nicht zu.
52
Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch aus § 89b SGB VIII nicht zu, da die Inobhutnahme nicht rechtmäßig war.
53
Nach § 89b Abs. 1 SGB VIII sind Kosten, die ein örtlicher Träger der Jugendhilfe im Rahmen der Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen aufgewendet hat, von demjenigen örtlichen Träger zu erstatten, dessen Zuständigkeit durch den gewöhnlichen Aufenthalt nach § 86 SGB VIII begründet wird. Zum Umfang der Kostenerstattung ist in § 89f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII festgelegt, dass die aufgewendeten Kosten zu erstatten sind, soweit die Erfüllung der Aufgaben den Vorschriften des SGB VIII entspricht. Demnach kann keine Erstattung von solchen Jugendhilfeleistungen verlangt werden, bei deren Erbringung gegen Normen des SGB VIII verstoßen wurde. Dieser Grundsatz soll verhindern, dass ein handelnder Träger der öffentlichen Jugendhilfe in Erwartung einer Erstattungsleistung zu Lasten des erstattungspflichtigen Trägers die durch das Gesetz gezogenen Grenzen überschreitet (Loos, in Wiesner/Waper, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 89f Rn. 3). Ob die Maßnahmen, die zu den streitbefangenen Kosten geführt haben, rechtmäßig waren, unterliegt auch im Erstattungsstreit grundsätzlich der uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle (a.a.O., Rn. 8a).
54
Die Inobhutnahme am 15. März 2017 war rechtswidrig. Die Voraussetzungen einer Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII lagen nicht vor. Anders als nach den Erwägungen der Beteiligten ist es vorliegend aber nicht entscheidend, welche Äußerungen Frau W. getätigt oder nicht getätigt hat. Denn der Kläger hätte als F.s Vormund handeln und F. in einer geeigneten Einrichtung unterbringen können, anstatt eine Inobhutnahme anzustrengen.
55
Nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und a) die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder b) eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann.
56
Die von § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII in beiden Alternativen geforderte dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen, welche die Inobhutnahme erforderlich macht, bestand zum Zeitpunkt der Herausnahme von F. am 15. März 2017 nicht. Das Jugendamt des Klägers war gemäß § 1773 BGB als F.s Vormund bestellt. Nach § 1789 Abs. 1 Satz 1 BGB hat der Vormund die Pflicht und das Recht, für die Person und das Vermögen des Mündels zu sorgen. Zur Durchführung der Sorge steht dem Vormund u.a. die Befugnis der Aufenthaltsbestimmung gemäß § 1795 Abs. 1 BGB zu (vgl. Schneider, in Münchener Kommentar zum BGB, 9. Aufl. 2024, § 1789 Rn. 2) zu. Ist dem Jugendamt das Aufenthaltsbestimmungsrecht übertragen, kann von der Erforderlichkeit einer Inobhutnahme nicht mehr ausgegangen werden. In einem solchen Fall ist das Jugendamt bereits aufgrund des ihm zustehenden Aufenthaltsbestimmungsrechts berechtigt, das Kind anderweitig unterzubringen (Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., Stand: 11.8.2020, § 42 Rn. 100; vgl. für den Fall der Ergänzungspflegschaft BayVGH, B.v. 20.1.2014 – 12 ZB 12.2766 – juris Rn. 15; OVG NW, B.v. 7.11.2007 – 12 A 635/06 – juris Rn. 8). Allenfalls in dem Fall, dass sich das Kind bei einem Dritten (z.B. Pflegeeltern) befindet, der sich weigert, das Kind an das Jugendamt herauszugeben, kann eine Inobhutnahme u.U. in Betracht kommen (BayVGH, B.v. 20.1.2014 – 12 ZB 12.2766; vgl. auch VG Ansbach, U.v. 20.9.2012 – AN 14 K 11.02416 – juris Rn. 34; VG Augsburg, U.v. 7.7.2020 – Au 3 K 19.148 – juris Rn. 26). Vorliegend weigerte sich Frau W. nicht, F. herauszugeben. Ob sie letztendlich mit der Vorgehensweise des Klägers einverstanden war oder nicht bzw. – wie die Beklagte vorträgt – davon überrascht war, kann offenbleiben. Sie hat F. widerstandslos herausgegeben. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII lagen demnach nicht vor. Der Kläger konnte und musste in Ausübung seines Aufenthaltsbestimmungsrechts die Wegnahme und Unterbringung von F. in einer geeigneten Einrichtung veranlassen. Die Durchführung einer Inobhutnahme war hingegen rechtswidrig.
57
Auch eine Einschränkung der Kontrolle gemäß § 89f SGB VIII unter dem Aspekt, dass die zur Erstattung angemeldeten Kosten nicht im untrennbaren Zusammenhang mit der Rechtswidrigkeit der gewählten Verfahrensweise stehen, weil rechtmäßiges Handeln ohne weiteres ebenfalls zu den angefallenen Kosten geführt hätte (vgl. OVG Münster, U.v. 12.9.2002 – 12 A 4352/01 – juris Rn. 10 mit Verweis auf OVG NRW, U.v. 29.5.2001 – 16 A 455/01 – juris Rn. 46; Loos, in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 89f Rn. 8a), ist vorliegend nicht angezeigt. Denn es erscheint nicht ausreichend gesichert, dass ein rechtmäßiges Handeln des Klägers zu einem Kostenerstattungsanspruch in gleicher Höhe geführt hätte.
58
Zwar ist nicht davon auszugehen, dass dem Kläger als Vormund kraft seines Aufenthaltsbestimmungsrechts (§ 1795 Abs. 1 Satz 1 BGB) eine anderweitige Unterbringung als in einer Jugendhilfeeinrichtung, z.B. bei Verwandten, zur Verfügung gestanden hätte, so dass ein Anspruch des Klägers auf Kostenerstattung bereits mangels zu erstattender Kosten scheitern würde. Vielmehr hätte der Vormund als Alternative zur Vollzeitpflege durch W. für eine adäquate Unterbringung wohl nur eine stationäre Unterbringung von F. wählen können.
59
Aber auch wenn man die Unterbringung in den Schutzstellen als Gewährung einer Hilfe gemäß §§ 27, 34 SGB VIII verstehen würde, liegt darin eine rechtswidrige Maßnahme. Dementsprechend besteht auch kein Anspruch auf Kostenerstattung nach der dann in Frage kommenden Anspruchsgrundlage § 89c SGB VIII.
60
§ 89c Abs. 1 SGB VIII betrifft die Kostenerstattung bei einer fortdauernden oder vorläufigen Leistungsverpflichtung und bestimmt, dass Kosten, die ein örtliche Träger im Rahmen einer Verpflichtung nach § 86c SGB VIII (fortdauernde Leistungsverpflichtung beim Zuständigkeitswechsel) oder nach § 86d SGB VIII (Verpflichtung zum vorläufigen Tätigwerden) aufgewendet hat, von demjenigen örtlichen Träger zu erstatten sind, dessen Zuständigkeit durch den gewöhnlichen Aufenthalt nach den §§ 86, 86a und 86b SGB VIII begründet wird. Legt man die Maßnahme des Klägers als Gewährung einer Hilfe gemäß §§ 27, 34 SGB VIII aus, wäre der Kläger hierzu gemäß § 86c SGB VIII zuständig gewesen. Die Zuständigkeit des Klägers nach § 86 Abs. 6 Satz 1 wechselte mit dem Ende des Aufenthalts bei Frau W, vgl. § 86 Abs. 6 Satz 3 SGB VIII, § 86 Abs. 1 Satz 3 SG VIII wieder zur Beklagten. Bis zur Fortsetzung der Leistung durch die Beklagte blieb der Kläger daher zuständig gemäß § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII.
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Auch für diese Kostenerstattungsgrundlage gilt § 89f SGB VIII (Winkler, in Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 70. Edition Stand: 1.9.2023, § 89c Rn. 5), nach dem die aufgewendeten Kosten nur zu erstatten sind, soweit die Erfüllung der Aufgaben den Vorschriften des SGB VIII entspricht. Für rechtswidrige Maßnahmen sind demnach keine Kosten zu erstatten.
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Das Vorgehen des Klägers entsprach jedoch auch hinsichtlich einer Hilfebewilligung nicht den rechtlichen Vorgaben und stellt sich daher ebenfalls als rechtswidrig dar. Dabei kann offen bleiben, ob ein entsprechender Bedarf gegeben war oder die Maßnahme an sich geeignet war. Die Voraussetzungen einer rechtmäßigen Hilfegewährung sind schon deshalb nicht erfüllt, weil das Hilfeplanverfahren nicht ordnungsgemäß durchlaufen wurde. Der Kläger hat es vollständig versäumt, vor seiner Entscheidung über die anderweitige Unterbringung von F. ein ordnungsgemäßes Hilfeplanverfahren durchzuführen; insbesondere hat er es evident fehlerhaft unterlassen, F. als Leistungsadressaten sachgerecht zu beteiligen. Daneben erscheint auch die Beteiligung von Frau W. unzulänglich.
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Gemäß § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII (in der für den maßgeblichen Zeitraum geltenden Fassung) sind die Personensorgeberechtigten und das Kind oder der Jugendliche vor der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe und vor einer notwendigen Änderung von Art und Umfang der Hilfe zu beraten und auf die möglichen Folgen für die Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen hinzuweisen. § 36 Abs. 2 SGB VIII regelt, dass die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart, wenn Hilfe voraussichtlich für längere Zeit zu leisten ist, im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte getroffen werden soll. Als Grundlage für die Ausgestaltung der Hilfe sollen die Fachkräfte zusammen mit dem Personensorgeberechtigten und dem Kind oder dem Jugendlichen bzw. dem jungen Erwachsenen einen Hilfeplan aufstellen, der Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen enthält; sie sollen regelmäßig prüfen, ob die gewählte Hilfeart weiterhin geeignet und notwendig ist.
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Aus dieser Regelung folgen ein subjektiv-rechtlicher Anspruch des Leistungsberechtigten auf qualifizierte Beteiligung im Hilfeplanverfahren und dem korrespondierend eine Pflicht zur Beteiligung auf Seiten des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe. Ein zentrales Leitbild der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII ist es, junge Menschen und ihre Eltern nicht als Objekte fürsorgender Maßnahmen oder intervenierender Eingriffe zu betrachten, sondern sie stets als Expertinnen und Experten in eigener Sache auf Augenhöhe aktiv und mitgestaltend in die Hilfe- und Schutzprozesse einzubeziehen. Dem Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe ist daher in sämtlichen Aufgabenfeldern immanent, Kinder, Jugendliche, junge Volljährige und Eltern in der Wahrnehmung ihrer Subjektstellung zu unterstützen bzw. hierzu zu befähigen (vgl. Gesetzesbegründung zum KJSG, BT-Drs. 19/26107, S. 1). Jugendhilfemaßnahmen sind keine Instrumente staatlichen Eingriffs bzw. keine einseitige Entscheidung des Jugendamtes, sondern Leistungen bzw. Angebote an die Betroffenen, bei deren Art, konkreter Ausgestaltung und Inanspruchnahme der Personensorgeberechtigte bzw. im vorliegenden Fall der Jugendliche mitgestalten und darüber mitentscheiden soll. Die Einbeziehung ist ein entscheidendes Element der Leistungsgewährung im Kinder- und Jugendhilferecht. Beteiligung meint nicht nur die Mitwirkung bei der Feststellung bzw. Ermittlung von etwaigen Tatbestandsvoraussetzungen, sondern setzt eine aktive Mitwirkung, eine Partizipation der Betroffenen im Rahmen eines interaktiv gestalteten Prozesses voraus. Ganz zentral sind hierbei der Angebotscharakter sowie die vorgeschriebene Mitwirkung bzw. Beteiligung der Betroffenen, die ein wesentlicher Schritt zur Akzeptanz und damit auch zum Erfolg der jeweiligen Leistung ist. Aus § 36 SGB VIII ergibt sich, dass das Kinder- und Jugendhilferechtsverhältnis als kooperativer Prozess der Mitgestaltung und Mitwirkung ausgestaltet ist (von Koppenfels-Spies in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 36 SGB VIII, Stand: 04.04.2019, Rn. 10 ff., 51 m.w.N.; Wiesner/Schmid-Obkirchner, 5. Aufl. 2015, SGB VIII § 36 Rn. 1, 9 ff; LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 36 Rn. 8). Die Diagnostik findet im Rahmen eines interaktiven Prozesses statt, in den die Leistungsadressaten und die Fachkraft ihre Sichtweise zur Lebens- und Erziehungssituation des Kindes oder Jugendlichen einbringen. Gemeinsam stellen sie Überlegungen zur Situationsveränderung an, klären die Bedingungen und verständigen sich auf anzustrebende Ziele und die dazu notwendigen Schritte (Wiesner/Schmid-Obkirchner, 5. Aufl. 2015, SGB VIII § 36 Rn. 10 m.w.N.). Die Hilfeplanung dient der Offenlegung der Gründe für die Auswahl einer Hilfeform (BeckOGK/Bohnert, 1.4.2021, SGB VIII § 36 Rn. 3, 19). Die Information bzw. Beratung muss so umfassend sein, dass die Leistungsberechtigten verstehen und nachvollziehen können, dass, warum und welche Maßnahme gerade in ihrem Bedarfsfall geeignet und notwendig ist (von Koppenfels-Spies in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 36 SGB VIII (Stand: 20.05.2021), Rn. 12).
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Im gesamten Vorgehen des Klägers bzgl. der stationären Unterbringung von F. im streitgegenständlichen Zeitraum ist jedoch kaum ersichtlich, dass F. in die Planung und Entscheidungen einbezogen wurde. Vor allem im Hilfeplangespräch am 6. März 2017, in dessen Verlauf der Drogenschnelltest durchgeführt wurde, wird deutlich, dass nicht gemeinsam mit F. der Sachverhalt ergründet wurde, F. nicht über mögliche Perspektiven beraten wurde und F.s Wünsche und Ziele angesprochen wurden bzw. ist nichts Dementsprechendes dokumentiert. Festgehalten ist lediglich, dass F. versucht habe zu bagatellisieren und abzuwehren. Eine Reaktion auf seine wohl vorgetragenen Erklärungsversuche ist nicht festgehalten. Vielmehr sei „in der Runde“ festgestellt worden, dass die Vollzeitpflege nicht mehr die geeignete Maßnahme sei. Der anwesende Mitarbeiter der ambulanten Maßnahme „W.& B.“ habe mitgeteilt, dass die Problematik für ihn kein Ausschlussgrund sei und an F.s Problem gearbeitet werden könne. Hierauf wurde in der weiteren Diskussion aber wohl auch nicht eingegangen, da im Folgenden dokumentiert ist, dass mit F. besprochen worden sei, dass ein weiterer Verbleib bei Frau W. von Seiten des Jugendamtes und des Vormundes nicht mehr verantwortet werden könne. Zwar sei ihm versichert worden, dass damit die Bindung zu seiner Pflegemutter sich nur zeitlich verändern werde und nicht verloren ginge. F.s Wünsche und Vorstellungen wurden aber nicht abgefragt, festgehalten oder einbezogen und dies wurde auch nicht für einen anderen Zeitpunkt geplant. Eine weitere Beteiligung F.s fand bis zur Inobhutnahme am 15. März 2017 nicht statt, alle weiteren Ermittlungen und Gespräche beschränkten sich auf den Teilnehmerkreis Jugendamt, Frau W. und die Beklagte.
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Bemerkenswert in diesem Zusammenhang sind die Ausführungen der Schutzstelle W. im Aufnahmebericht vom 26. Juni 2017. Dort ist festgehalten, F. fühle sich in der Entscheidung des Jugendamtes, ihn aus seiner gewohnten Situation herauszunehmen übergangen. Er wünsche sich, wieder bei seiner Pflegemutter Frau W. zu leben. Zur Bewertung der Situation aus Sicht der Einrichtung wird mitgeteilt, es zeichne sich schon während der ersten Tage ein therapeutischer Bedarf ab und es sei aus Sicht der Einrichtung nicht eindeutig nachvollziehbar, aus welchem Grund F. aus der Pflegefamilie W. herausgenommen worden sei. Die Beendigung der Pflegschaft durch Frau W. aufgrund von Drogenkonsum und die darauffolgende Unterbringung in Schutzstellen sei nach Auffassung der Einrichtung kontraindiziert.
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Zur unzulänglichen Einbeziehung F.s in das Hilfeplanverfahren ist noch ein weiterer Aspekt zu erwähnen. Im weiteren Verlauf des Hilfeplanverfahrens, das während der Inobhutnahme von der Beklagten federführend übernommen wurde, ist zu einem Telefonat von Frau W. mit dem Jugendamt der Beklagten am 4. April 2017 festgehalten, F. habe zu Frau W. gesagt, dass er durch das Jugendamt der Beklagten das erste Mal in seinem gesamten Hilfeverlauf gefragt worden sei, was er möchte.
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Außerdem ist davon auszugehen, dass die Beteiligung von Frau W. am Hilfeplanverfahren nicht ausreichend war.
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Zwar ist gemäß § 36 Abs. 1 Satz 1 neben dem Kind bzw. Jugendlichen nur der Personensorgeberechtigte als zu Beteiligende genannt. Frau W. war zum streitgegenständlichen Zeitpunkt aber nicht sorgeberechtigt. Gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII sind aber auch andere Personen, die bei der Durchführung der Hilfe tätig werden, an der Aufstellung des Hilfeplans und seiner Überprüfung zu beteiligen. Auch Eltern, die nicht sorgeberechtigt sind, sollen ggf. beteiligt werden, § 36 Abs. 5 SGB VIII. Daneben spricht auch die Amtsermittlungspflicht gemäß § 20 SGB X für eine Beteiligung der Frau W., zumal sie F. schon fast dessen gesamtes Leben lang in Pflege hatte und nach wie vor und trotz aller Gefahren, die im streitgegenständlichen Zeitpunkt in Rede standen, Zugang zu F. und ein positives Verhältnis zu ihm hatte.
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Aus den Akten ist erkennbar, dass die Erfahrungen, Ansichten und Wünsche der Pflegemutter Frau W. im Hilfeplanverfahren zwar stärker ermittelt und beachtet wurden als F.s Wünsche, aber letztlich nicht ausreichend aufgeklärt wurde, was diese genau beinhalteten. Dies wird insbesondere deutlich aus den divergierenden Vorträgen der Beteiligten zu den Äußerungen von Frau W. vor der Inobhutnahme. Der Kläger stellt das Telefonat des Jugendamtes mit Frau W. vom 8. März 2017 so dar, dass Frau W. sich gänzlich nicht mehr in der Lage sehe, F. bei sich zu behalten, da sie von ihm hintergangen werde und sie eine schnelle Veränderung im Sinne einer vollstätionären Unterbringung für erforderlich halte. Die Beklagte berichtet hingegen, Frau W. habe diese Angaben nicht gemacht. Frau W. sei vielmehr von der Inobhutnahme überrascht gewesen, da diese so nicht abgemacht gewesen sei. Der Kläger hat sich zu keinem Zeitpunkt um eine Aufklärung bemüht, welche Wünsche und Ziele Frau W. hatte, bzw. findet sich keine Dokumentation dergleichen. Zum Zeitpunkt der Entscheidung lag bzgl. Frau W.s Einstellung kaum Dokumentation vor. In diesem Zusammenhang irritiert auch die Tatsache, dass Frau W. am 3. Mai 2017 die Vormundschaft für F. beantragte, mit der sie am 8. November 2017 auch betraut wurde. Der Sachverhalt enthält somit einige Unklarheiten zur Haltung von Frau W., die vorliegend zwar mangels Entscheidungserheblichkeit nicht weiter aufzuklären sind, aber ebenfalls belegen, dass die stationäre Unterbringung von F. fehlerhaft war.
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Bei diesen Fehlern handelt es sich im vorliegenden Fall auch nicht um unerhebliche Verfahrensfehler, die die Entscheidung in der Sache offensichtlich nicht beeinflusst haben. Die Beteiligung am Prozess der Hilfeplanung fällt grundsätzlich unter die im Rahmen der Gesetzeskonformität i.S.v. § 89f SGB VIII zu prüfenden Punkte (vgl. Loss, in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 89f Rn. 4). Das Bundesverwaltungsgericht hat nur die Aufstellung eines Hilfeplans insgesamt als keine unverzichtbare Voraussetzung der Gewährung von Jugendhilfe angesehen und für die inzidente Beurteilung der Rechtmäßigkeit im Rahmen eines Kostenerstattungsstreits als entscheidend erachtet, ob die Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe auch ohne schriftliche Fixierung festgestellt werden könne (BVerwG, U.v. 24.6.1999 – 5 C 24/98 – juris Rn. 38 f.). Vorliegend fehlt es aber schon an den notwendigen Beteiligungen, ohne die die Entscheidung über Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe nicht festgestellt werden kann.
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Mangels hinreichender Beteiligung von F. wäre daher auch eine Hilfegewährung in Form der stationären Unterbringung in den Schutzstellen rechtswidrig. Ob sie letztlich in der Sache die erforderliche und geeignete Maßnahme war, kann und muss nicht geklärt werden. Gemäß § 89f SGB VIII kann somit keine Kostenerstattung nach § 89c SGB VIII stattfinden.
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Nachdem folglich die erfolgte Inobhutnahme rechtswidrig war und die gleichen Kosten auch nicht durch eine rechtmäßige Maßnahme gesichert entstanden wären, steht dem Kläger kein Kostenerstattungsanspruch gegen die Beklagte zu. Somit ist die Klage abzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung – ZPO.