Titel:
Asyl (Somalia), nachgeborenes Kind, Teilerfolg der Klage wegen fehlender Berücksichtigung des Kindeswohls bei Erlass der Rückkehrentscheidung (EuGH, B.v. 15.2.2023, C-484/22), Abschiebungsverbot im Einzelfall verneint
Normenketten:
GG Art. 16a
AsylG § 3
AsylG § 4
AufenthG § 60 Abs. 5 und 7
Schlagworte:
Asyl (Somalia), nachgeborenes Kind, Teilerfolg der Klage wegen fehlender Berücksichtigung des Kindeswohls bei Erlass der Rückkehrentscheidung (EuGH, B.v. 15.2.2023, C-484/22), Abschiebungsverbot im Einzelfall verneint
Fundstelle:
BeckRS 2023, 38412
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 29. April 2022 wird in den Nrn. 5 und 6 aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger, ein im ... 2021 im Bundesgebiet geborenes Kind somalischer Eltern, begehrt in der Bundesrepublik Asyl.
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Vater und Mutter des Klägers haben im Bundesgebiet bereits jeweils erfolglos Asylverfahren durchlaufen, die Verfahren sind jeweils rechtskräftig abgeschlossen (Vater: Bescheid vom 20. Februar 2017; VG München, U.v. 6.9.2017, Az. M 11 K 17.36886 sowie BayVGH, U.v. 23.3.2018, Az. 20 B 17.31582; Mutter: Bescheid vom 21. November 2018, VG München U.v. 29.7.2022, Az. M 11 K 18.34553). Für zwei (Zwillings-) Geschwister des Klägers ist ein Asylverfahren nach ablehnender behördlicher Entscheidung (Bescheid vom 5. Januar 2021 noch nicht rechtskräftig abgeschlossen (anhängiges Klageverfahren am VG München: M 11 K 21.30171).
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Mit Schriftsatz des Klagebevollmächtigten vom 4. April 2022 beantragte der Kläger im Bundesgebiet Asyl. Zur Begründung wurde auf die Asylgründe der Eltern Bezug genommen. Hierzu wurden dem Bundesamt eine von der somalischen Botschaft in B. ausgestellte Heiratsurkunde der Eltern vom 3. September 2021, Urkunden zur Vaterschaftsanerkennung und eine Erklärung der gemeinsamen elterlichen Sorge, jeweils datierend vom 7. September 2021, vorgelegt.
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Mit Bescheid vom 29. April 2022 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Anträge des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziff. 1), auf Asylanerkennung (Ziff. 2) sowie auf subsidiären Schutz (Ziff. 3) ab und verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG (Ziff. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen, anderenfalls wurde ihm die Abschiebung zuvorderst nach Somalia angedroht (Ziff. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziff. 6). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen. Der Bescheid wurde am 4. Mai 2022 zur Post gegeben.
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Der Kläger hat durch seinen Bevollmächtigten am 11. Mai 2022 Klage erhoben und beantragt,
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1. den Bescheid des Bundesamts vom 29. April 2022 aufzuheben,
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2. die Beklagte zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen,
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3. die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
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4. die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen,
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4. die Beklagte zu verpflichten, hinsichtlich Somalias das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
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Zur Begründung der Klage wurden mit Schriftsatz vom 6. September 2022 im Wesentlichen die von den Eltern des Klägers vorgetragenen Fluchtgründe wiederholt. Die Eltern würden für ihren Sohn ihre eigenen Asylgründe geltend machen. Der Kläger habe begründete Furcht vor Verfolgung in Somalia. Zum einen drohe ihm die Rache der Familie des verstorbenen Ehemanns seiner Mutter. Die Familie werde aus Rache auch gegen den 2. Sohn der Mutter vorgehen. Gerade in Somaliland würden Mischehen als Tabu gelten und gesellschaftliche Übergriffe seien die Folge. Die Eltern des Klägers hätten zudem eine drohende Verfolgung durch A. S. geltend gemacht. Ein Verfolgungsgrund ergebe sich ferner aus der Minderheitenzugehörigkeit des Klägers (G.), die ihn zu einer besonderen Zielperson der A. S. mache. Eine inländische Fluchtalternative bestehe nicht, auch Mogadischu sei nicht sicher. Die Eltern des Klägers könnten an keinem Ort Somalias ein eigenes Existenzminimum für sich und ihren Sohn sichern. Aufgrund langjährigen Bürgerkriegs sowie der häufigen Dürre- und Flutkatastrophen könne sich ein erheblicher Teil der Bevölkerung nicht ausreichend mit Lebensmitteln und Trinkwasser versorgen; auch medizinische Grunddienste stünden nicht ausreichend zur Verfügung. Seit Jahrzehnten sei Somalia auf Nothilfemaßnahmen aus dem Ausland angewiesen. Die Familie des Vaters des Klägers sei aus Somalia geflohen. Der Vater des Klägers sei bei einem Versuch, dort wieder Fuß zu fassen, gescheitert, da er aufgrund seiner äthiopischen Dokumente diskriminiert worden sei. Die Mutter des Klägers werde von der Familie ihres verstorbenen Ehemanns verfolgt. Auf die Familienstruktur komme es jedoch gerade in Somalia stark an. Angehörige der Minderheitenclans seien außerdem in verstärktem Maße bei der Arbeitssuche benachteiligt. Angesichts der persönlichen Situation der Eltern des Klägers und der katastrophalen wirtschaftlichen Lage in Somalia könne es der Familie nicht zugemutet werden, dass sie sich völlig auf sich selbst gestellt außerhalb ihrer Heimatorte niederlasse. Zumindest habe der Kläger Anspruch auf subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 AsylG. Jedenfalls in Süd- und Zentralsomalia herrsche weiterhin ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt; auch Somaliland gelte weiterhin als Ort interner Konflikte. Es bestehe ein derart hoher Gefahrengrad, dass jede dort anwesende Zivilperson einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt sei. Eine individuelle Gefahrenverdichtung ergebe sich zudem aus der Zugehörigkeit des Klägers zu einem Minderheitenclan. Jedenfalls bestehe ein Anspruch auf Abschiebungsschutz, da die Familie in keinem Teil Somalias ein zumutbares Existenzminimum aufbauen könne.
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Die Beklagte hat beantragt,
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Zur Begründung wurde mit Schriftsatz vom 25. Mai 2022 auf die Ausführungen des Bescheids verwiesen
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten im Verfahren des Klägers und der weiteren Mitglieder des Familienverbands (M 11 K 17.36886, M 11 K 18.34553 und M 11 K 21.30171) verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht konnte den Rechtsstreit trotz Ausbleibens der Beklagtenseite verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
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Die Klage ist zulässig, aber nur in geringem Umfang begründet.
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Der streitgegenständliche Bescheid ist – mit Ausnahme der Nrn. 5 und 6 – rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, weil er zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf die begehrte Entscheidung hat (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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1. Die Klage hat insoweit Erfolg, als die Abschiebungsandrohung (Ziff. 5 des streitgegenständlichen Bescheids) rechtswidrig und aufzuheben ist. Dies gilt in der Folge auch für Ziff. 6 des Bescheids, da für das verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 75 Nr. 12 i.V.m. § 11 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 Alt. 2, Satz 3 und 4, Abs. 3 AufenthG eine Abschiebungsandrohung vorausgesetzt ist.
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Der Kläger lebt im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung mit seinen Eltern und Geschwistern im Bundesgebiet in einer gemäß Art. 8 EMRK schützenswerten familiären Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zusammen. Während die Asylverfahren der Eltern des Klägers bereits rechtkräftig abgeschlossen sind, verfügen seine Geschwister im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt über einen rechtmäßigen, gestatteten Aufenthalt im Bundesgebiet, da ihr Asylverfahren aufgrund der anhängigen Klage noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist. Eine Trennung des Klägers von seinen Geschwistern und der mit diesen im Bundesgebiet zusammenlebenden Eltern stellt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) einen Verstoß gegen § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK dar. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH (B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – juris) und der dadurch gebotenen unionsrechtskonformen Anwendung des § 34 AsylG (vgl. zu den Einzelheiten: BayVGH, B.v. 5.6.2023 – 11 ZB 23.30200 – juris Rn. 6; VG München, U.v. 3.4.2023 – M 27 K 22.30441 – juris Rn. 25 ff.), wonach das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen (bereits) im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen sind, erweist sich die im angefochtenen Bescheid ausgesprochene Abschiebungsandrohung im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt als rechtswidrig. Die Beklagte ging im streitgegenständlichen Bescheid noch davon aus, die familiären Bezüge des Klägers im Bundesgebiet nicht berücksichtigen zu dürfen; eine weitere Äußerung oder Ergänzung der Beklagten im gerichtlichen Verfahren erfolgte nicht. Der im Bescheid (Seite 14) enthaltene Hinweis, dass minderjährige Kinder nicht getrennt von ihren Eltern abgeschoben würden und die Ausländerbehörde über die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung zur Ermöglichung einer gemeinsamen Ausreise zusammen mit den Eltern entscheide, genügt den Anforderungen der o.g. Rechtsprechung nicht.
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2. Im Übrigen ist Klage unbegründet.
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2.1 Der Kläger hat zunächst keinen Anspruch auf Asyl. Dem in Deutschland geborenen Kläger kann zwar nicht die Drittstaatenregelung (Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 GG) entgegengehalten werden. Ihm droht jedoch keine politische Verfolgung im Sinne von Art. 16 a Abs. 1 GG. Während für den Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bestimmt ist, dass Verfolgungsmaßnahmen auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen können (§ 3c Nr. 3 AsylG), gilt im Rahmen von Art. 16 a Abs. 1 GG, dass grundsätzlich nur staatliche oder dem Staat zurechenbare Handlungen eine politische Verfolgung im Sinne von Art. 16 a Abs. 1 GG begründen können (BVerfG, B.v. 10.7.1989 – 2 BvR 502/86 – juris). Handlungen Dritter sind dem Staat jedenfalls dann nicht zuzurechnen, wenn die Schutzgewährung „die Kräfte eines konkreten Staates übersteigt; jenseits der ihm an sich zur Verfügung stehenden Mittel endet seine asylrechtliche Verantwortlichkeit“ (BVerfG a. a. O., Rn. 47). Daran gemessen ist eine politische Verfolgung des Klägers im Falle einer Rückkehr nach Somalia weder vorgetragen noch ersichtlich; ergänzend wird auf die nachfolgenden Ausführungen verwiesen.
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2.2 Der Kläger hat zudem keinen Anspruch auf Gewährung von Flüchtlingsschutz oder subsidiären Schutz. Er hat insoweit keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht, sondern auf die von seinen Eltern jeweils vorgetragene Fluchtgeschichte verwiesen. Der Vortrag der Eltern kann indes weder die Gewährung von Flüchtlingsschutz noch des subsidiären Schutzes begründen. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit vollumfänglich auf die Ausführungen in den Gründen des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 20. März 2018 (Az. 20 B 17.31582 – betreffend den Vater des Klägers) bzw. des Urteils der Kammer vom 29. Juli 2022 (Az. M 11 K 18.34553 – betreffend die Mutter des Klägers verwiesen). Lediglich ergänzend weist das Gericht auf Folgendes hin:
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2.2.1 Soweit eine Minderheitenzugehörigkeit des Klägers behauptet wurde, dürfte dies – ungeachtet der Frage, inwieweit dem Vortrag der Mutter des Klägers zu deren Minderheitenzugehörigkeit überhaupt Glauben geschenkt werden kann (dazu nachfolgend) – schon deshalb nicht zutreffen, weil der Vater des Klägers nach eigenen Angaben dem Clan der Darod angehört und sich die Clanzugehörigkeit des Klägers nach der seines Vaters richtet (vgl. hierzu SEM, Focus Somalia – Clans und Minderheiten, Stand 31. Mai 2017, S. 19).
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2.2.2 Die Fluchtgeschichte der Mutter des Klägers wurde im rechtskräftigen Urteil vom 29. Juli 2022 (M 11 K 18.34553) als vollständig unglaubhaft bewertet. Ausweislich der Urteilsgründe (Seite 7) schenkte das Gericht den gesamten Vorfluchtgründen und auch der von der Mutter des Klägers behaupteten Herkunft aus einem kleinen Dorf in Somaliland keinen Glauben. Ferner war das Gericht weder von der behaupteten Minderheitenclanzugehörigkeit noch den vorgetragenen ärmlichen Verhältnissen überzeugt. Ausweislich der Urteilsgründe hielt es das Gericht vielmehr für möglich, dass die Mutter des Klägers einem dominanten Clan angehört und aus einem städtischen, wohlhabenden Umfeld stammt. Aus dem Vortrag der Mutter lässt sich zugunsten des Klägers damit weder eine asylrelevante Verfolgung noch die Gefahr eines ernsthaften Schadens ableiten.
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2.2.3 Zur Fluchtgeschichte des Vaters des Klägers bleibt anzumerken, dass dieser unter Zugrundelegung seines Vortrags ganz offenbar aus wohlhabenden Verhältnissen stammt und über eine überdurchschnittliche Ausbildung verfügt. Der Vater des Klägers hat in Äthiopien ein Medizinstudium abgeschlossen und ein Jahr als Krankenpfleger gearbeitet. Im Anschluss begab er sich zu seinen in M. lebenden Angehörigen, welche dort in einem eigenen Haus leben und einen Gemischtwarenladen betreiben. Dies genügte dem Vater des Klägers jedoch nicht, da er lieber „auf eigenen Beinen“ stehen und als Krankenpfleger arbeiten wollte. Nachdem er in M. keine Anstellung als Krankenpfleger fand (für andere Tätigkeiten hat sich der Vater des Klägers nach seinen Angaben von vornherein nie beworben), weil seine äthiopischen Papiere offenbar nicht anerkannt wurden, entschloss er sich zur Ausreise nach Europa. Eine sonstige irgendwie geartete Diskriminierung in Somalia fand nach den Angaben des Vaters des Klägers bei seiner Anhörung am 18. Januar 2017 ausdrücklich nicht statt. Eine asylrelevante Verfolgung oder Bedrohung im Falle einer Rückkehr nach Somalia ist vor diesem Hintergrund nicht erkennbar. Auf Nachfrage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung am 5. Oktober 2023 gab der Vater des Klägers zwar an, zur Zeit keinen Kontakt mit seinen in M. lebenden Angehörigen zu haben, zumal das Verhältnis schon damals nicht gut gewesen sei. Es ist indes weder vorgetragen noch ersichtlich, dass sich die familiären und wirtschaftlichen Verhältnisse des Vaters des Klägers derart geändert hätten, dass dies zu einer günstigen Entscheidung für den Kläger führen könnte (s.a. nachfolgend Ziff. 2.3). Insbesondere ist davon auszugehen, dass eine Kontaktaufnahme mit den weiterhin in M. lebenden Angehörigen ohne weiteres möglich wäre.
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2.2.4 Soweit der Vater des Klägers schließlich erstmals in der mündlichen Verhandlung die Vermutung äußerte, dass es bei einer Rückkehr nach Somalia sein könne, dass A. S. versuche, den Kläger zu rekrutieren, besteht – ungeachtet des jungen Alters des Klägers – nach der aktuellen Erkenntnislage weder in Somaliland noch in M. für Minderjährige ein relevantes Risiko, von der A. S. zwangsrekrutiert zu werden (vgl. bereits: BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 20 B 15.30110 – juris Rn. 29; VGH Hessen, U.v. 1.8.2019 – 4 A 2334/18.A – juris Rn. 31).
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2.2.5 In Bezug auf Somaliland als vermeintlichen Herkunftsort der Mutter fehlt es bereits am Vorliegen eines innerstaatlichen Konflikts, sodass die Gewährung von subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG insoweit von vornherein ausscheidet (vgl. bereits Urteil vom 29. Juli 2022 – M 11 K 18.34553 – Rn. 34). In Bezug auf Mogadischu herrscht zwar weiterhin eine ausgesprochen fragile Sicherheitslage, wobei die Gefährdungssituation der Stadtteile differiert. Insbesondere der Umstand, dass A. S. Angriffe nicht primär gegen die Zivilbevölkerung richtet, unterscheidet die Methoden der Miliz aber von jenen anderer Terrorgruppen und stellt nach Auffassung des Gerichts im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung einen maßgeblichen Aspekt dar. Auch unter Berücksichtigung aktueller Erkenntnismittel bewertet das Gericht das Niveau willkürlicher Gewalt in M. nicht als so hoch, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ausgesetzt wäre (vgl. zur Sicherheits- und Versorgungslage in M. ausführlich bereits: VG München, U.v. 24.8.2023 – M 11 K 19.32943 – n.v.; VG Cottbus, U.v. 23.3.2023 – 5 K 2961/17.A –, juris; SächsOVG, U.v. 12.10.2022 – 5 A 78/19.A – juris). Bei dem Kläger liegen keine individuell gefahrerhöhenden Umstände vor, die dazu führen würden, dass er bei einer Rückkehr nach Somalia im Vergleich zur dort lebenden Zivilbevölkerung einem erhöhten Risiko ausgesetzt wäre, Opfer willkürlicher Gewalt im Rahmen des bewaffneten Konflikts zu werden. Die vorgetragene Zugehörigkeit zu einem Minderheitenclan dürfte bereits nicht zutreffend sein (s.o.).
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2.3. Schließlich liegen die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vor.
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Das Gericht ging im Urteil vom 29. Juli 2022 (M 11 K 18.34553) selbst für die Prognose einer gemeinsamen Rückkehr der Mutter mit den drei in Deutschland geborenen Kindern und unter Berücksichtigung eines mutmaßlich weiteren in Somalia lebenden Kindes davon aus, dass die Mutter des Klägers in Somalia über einen familiären Rückhalt verfügt, durch den eine dem Art. 3 EMRK widersprechenden Notlage vermieden werde. Trotz der besonders schwierigen Versorgungslage in Somalia war das Gericht angesichts der unglaubhaften Angaben der Mutter des Klägers nicht davon überzeugt, dass dieser und den Kindern eine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung drohe. Erst recht gilt dies, wenn im Rahmen der Rückkehrprognose auf eine gemeinsame Rückkehr der Familie zusammen mit dem Familienvater abgestellt wird, der aus wohlhabenden Verhältnissen stammt, über eine überdurchschnittliche Ausbildung und ein tragfähiges familiäres Netzwerk in M. verfügt.
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Die allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage ist ferner auch unter Berücksichtigung aktueller Erkenntnismittel zumindest in M. weiterhin nicht derart, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG anzunehmen wäre (vgl. ausführlich VG München, U.v. 24.8.2023 – M 11 K 19.32943 – n.v.; VG Würzburg, U.v. 23.3. 2023 – W 4 K 22.30192; SächsOVG, U.v. 12.10.2022 – 5 A 78/19.A; VGH BaWü, U.v. 17.7.2019 – A 9 S 1566/18; U.v. 16.12.2021 – A 13 S 3196/19; BayVGH, U.v. 12.7.2018 – 20 B 17.31292 – jew. juris).
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Somalia gehört weiterhin zu den ärmsten Ländern der Erde. Seit Jahren befindet sich das Land in einer anhaltenden humanitären Krise. Die Grundversorgung in Somalia ist in weiten Landesteilen nicht gewährleistet, wobei das Land in den vergangenen Jahren einer dreifachen Bedrohung („Triple Threat“) aus Wüstenheuschrecken, Naturkatastrophen und den Folgen der Covid-19-Pandemie ausgesetzt war (vgl. im Einzelnen: AA-Lagebericht, S. 23; BFA-Länderinformation, S. 242 ff. bzw. 268 f). Wasser- und Stromversorgung sowie Bildung und Gesundheitsdienste sind für viele Menschen nur schwer oder gar nicht zugänglich. Seit Ende 2020 kam es aufeinanderfolgend zu unterdurchschnittlichen Niederschlagsperioden. Nachdem fünf aufeinanderfolgende Regenzeiten schlecht ausgefallen waren, ist die Dürre schlimmer als in den Jahren 2010/2011. Dies hat in größeren Landesteilen zu Ernteausfällen, Tod von Nutztieren und verringerten Einkommen in der Landwirtschaft geführt. Die Dürre und zuletzt die Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine haben Nahrungsmittel knapp und teuer werden lassen, was die Ernährungsunsicherheit vor allem für Binnenvertriebene weiter verschärft hat.
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Mit der GU-Saison (April/Juni 2023) kam es nach Regenfällen zu teils heftigen Überschwemmungen im Süden und Zentrum Somalias. Dessen ungeachtet scheint sich die landesweite humanitäre Lage in Folge der Regenfälle zuletzt soweit entspannt zu haben, dass eine Hungersnot nunmehr unwahrscheinlich geworden ist (vgl. hierzu im Einzelnen FEWS NET Somalia – Food Security Outlook, June 2023 – January 2024). Speziell für Mogadischu wird für den Zeitraum Juni bis September 2023 demnach zwar immer noch die IPC-Stufe 3 („crisis“), nicht jedoch die Stufe 4 oder 5 („emergency“ oder „famine“) erreicht; für das unmittelbare Umland von Mogadischu werden sogar nur die Stufen „minimal“ bis „stressed“ (IPC 1 und 2) ausgewiesen, wobei sich die Prognose für den Zeitraum Oktober 2023 bis Januar 2024 noch etwas verbessert. Ebenso scheint sich die humanitäre Lage in Somaliland weiter zu entspannen, wo in Prognosen für Oktober 2023 bis Januar 2024 überwiegend nur noch der IPC-Level 2 („stressed“) angenommen wird.
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Die generelle humanitäre Situation in Somalia einschließlich der Hauptstadt Mogadischu stellt sich damit zwar zweifellos weiterhin als prekär und besorgniserregend dar. Zumindest für nicht vulnerable Gruppen kann jedoch weiterhin nicht ohne Weiteres angenommen werden, dass diese bei einer Rückkehr stets einer Art. 3 EMRK widersprechenden Situation ausgesetzt wären. Maßgeblich sind vielmehr – wie bereits bislang – insbesondere die jeweiligen familiären und wirtschaftlichen Verhältnisse in den Blick zu nehmen.
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Dies zugrunde gelegt, ist das Gericht trotz der generell besonders schwierigen Situation für Kleinkinder in Somalia (vgl. im Einzelnen: BFA-Länderinfo, S. 195 ff.) nicht davon überzeugt, dass der Kläger zu einer besonders vulnerablen Personengruppe zählt. Im Gegenteil ist in Bezug auf beide Elternteile des Klägers davon auszugehen, dass diese aus wohlhabenden somalischen Verhältnissen stammen und auch weiterhin tragfähige familiäre und/oder clanbedingte Netzwerke im Herkunftsland und Ausland (z.B. Cousine mütterlicherseits mit Familie in …*) vorhanden sind, auf die die Familie erforderlichenfalls zurückgreifen könnte. Soweit in Bezug auf die Mutter des Klägers aufgrund deren völlig unglaubhafter Angaben letztlich keine Gefahrenprognose möglich ist, geht dies zulasten des Klägers. Schließlich könnte die Familie in der ersten Zeit in M. auch auf Übergangshilfen zurückgreifen (vgl. zur Berücksichtigung von Rückkehrhilfen grundlegend: BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10/21 – juris; ausführlich zur Situation von Rückkehrern nach Somalia: ThürOVG, U.v. 12.10.2022 – 5 A 78/19.A – juris Rn. 54 f.).
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Zur Vermeidung von Wiederholungen wird im Übrigen auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und die obigen Ausführungen zum Vortrag der Eltern des Klägers Bezug genommen.
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Da der Kläger nach alledem mit seiner Klage nur zu einem geringen Teil Erfolg hat, hat er die Kosten des Verfahrens insgesamt zu tragen (§ 154 Abs. 1 Satz 1, § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO). Das Verfahren ist gemäß § 83 b AsylG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.