Titel:
Dublin-Verfahren (Zielstaat, Italien), Abschiebungsanordnung, Gegenwärtige „Weigerung“ Italiens zur Rückübernahme von Dublin-Rückkehrern, Prognose der Durchführbarkeit der Überstellung innerhalb der sechsmonatigen Überstellungsfrist
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a
AsylG § 34a Abs. 1 S. 1
VwGO § 80 Abs. 5
Schlagworte:
Dublin-Verfahren (Zielstaat, Italien), Abschiebungsanordnung, Gegenwärtige „Weigerung“ Italiens zur Rückübernahme von Dublin-Rückkehrern, Prognose der Durchführbarkeit der Überstellung innerhalb der sechsmonatigen Überstellungsfrist
Fundstelle:
BeckRS 2023, 38404
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
1
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die angeordnete Überstellung nach Italien im Rahmen des sog. „Dublin-Verfahrens“.
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Der Antragsteller, ein nigerianischer Staatsangehöriger, reiste am 26. April 2023 in das Bundesgebiet ein und äußerte ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt durch behördliche Mitteilung vom gleichen Tag schriftlich Kenntnis erlangt hat. Der förmliche Asylantrag datiert vom 22. Mai 2023.
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Ausweislich der EURODAC-Ergebnismitteilung vom 26. April 2023, die eine Treffermeldung der Kategorie 1 hinsichtlich Italien aufweist („IT1[…]“ vom 21.4.2017), ergaben sich für die Antragsgegnerin Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats nach der VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO). Am 2. Juni 2023 richtete die Antragsgegnerin ein Wiederaufnahmegesuch an Italien, das unbeantwortet blieb.
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In seinem Anhörungsgespräch vom 3. Juli 2023 hat der Antragsteller unter anderem angegeben, dass sein Asylantrag in Italien abgelehnt worden sei. Sein erster Rechtsanwalt habe ihn nicht für die Asylfragen vorbereitet. In Italien sei er im Camp gewesen und habe Taschengeld bekommen.
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Mit Bescheid vom 23. August 2023, zugestellt am 1. September 2023, lehnte die Antragsgegnerin den Asylantrag als unzulässig ab, verneinte das Vorliegen zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote hinsichtlich Italien gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG und ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nummern 1 bis 3 des Bescheids). Das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Auf die Gründe des Bescheids wird Bezug genommen.
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Der Antragsteller hat am 5. September 2023 Klage gegen den Bescheid vom 23. August 2023 erhoben und beantragt zugleich,
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die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der Abschiebungsanordnung nach Italien anzuordnen.
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Zur Begründung wird auf die Angaben gegenüber dem Bundesamt Bezug genommen.
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Mit Schriftsatz vom 15. September 2023 hat sich die Bevollmächtigte des Antragstellers bestellt und führt aus, dass dem Bescheid ein erheblicher Verfahrensmangel zugrunde liege. Die Antragsgegnerin lasse offen, welche Verfahrensvorschriften vorliegend zur Anwendung kämen. Die Durchführung eines sog. Dublin-Verfahrens und das Vorliegen eines Zweitantrags würden sich gegenseitig ausschließen.
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Die Antragsgegnerin beantragt mit Schriftsatz vom 7. September 2023,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung bezieht sie sich auf den angefochtenen Bescheid.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, auch im Verfahren M 10 K 23.50928, sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
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Der zulässige Antrag nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO hat in der Sache keinen Erfolg.
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1. Entfaltet ein Rechtsbehelf – wie hier (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG) – von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es abzuwägen hat zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfes. Dabei sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Eilverfahren gebotene summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück.
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2. Gemessen an diesen Maßstäben geht die Interessenabwägung im vorliegenden Fall zu Lasten des Antragstellers aus. Nach summarischer Prüfung sind die Erfolgsaussichten seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung im streitgegenständlichen Bescheid als gering anzusehen. Die Abschiebungsanordnung erweist sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als rechtmäßig, da der Asylantrag zutreffend nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG als unzulässig abgelehnt worden ist.
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a) Entgegen der Rechtsansicht des Antragstellers ist der streitbefangene Bescheid nicht wegen eines Verfahrensfehlers formell rechtswidrig. Der vorgetragene Einwand, der Bescheid verstoße gegen das Bestimmtheitserfordernis des § 37 Abs. 1 VwVfG, wird nicht geteilt. Die Antragsgegnerin hat nicht offengelassen, ob sich die Unzulässigkeit der Asylanträge der Antragsteller aus § 29 Abs. 1 Nr. 1 oder § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ergäbe. Nach dem klaren Wortlaut der Begründung des Bescheids wird die Ablehnung des Asylantrags auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gestützt und mit der Zuständigkeit Italiens auf Grund des dort bereits gestellten Asylantrags und der daraus folgenden Rückübernahmeverpflichtung Italiens aus Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO begründet. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG wird rein ergänzend als rechtlicher Hinweis auf eine weitere Regelung benannt, aus der sich in einer anderen Konstellation ebenfalls eine Unzulässigkeit der gestellten Asylanträge ergeben kann. Dass es sich dabei nicht um eine inhaltlich tragende Begründung von Nummer 1 des Bescheids handelt, wird durch die Formulierung „kann auch […]“ unmissverständlich deutlich.
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b) Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG i.V.m. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO ist Italien für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers zuständig und gem. Art. 18 Abs. 1 Buchst. b oder Buchst. d Dublin III-VO zur Rückübernahme des Antragstellers verpflichtet.
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c) Die Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylverfahrens ist auch nicht gem. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen.
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aa) Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für den Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011, a.a.O.). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18 ff.; BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 9; VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris Rn. 41; grundlegend EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, „Abdullahi“ – NVwZ 2012, 417, Rn. 80 ff.). Dabei ist nach der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu berücksichtigen, dass der Begriff der systemischen Schwachstellen nicht notwendigerweise gesamtbezogen auf das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im Überstellungsstaat insgesamt zu verstehen ist, sondern auch Teilbereiche hiervon erfasst sein können, die mit individuellen Umständen des Asylbewerbers verknüpft sind (EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 70 ff. = NVwZ 2017, 691 ff., im Hinblick auf das Gesundheitssystem in Kroatien). Demnach ist mittlerweile geklärt, dass auch die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK eine Überstellung i.S.v. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO unmöglich machen kann, selbst wenn diese Rechtsverletzung nicht die Konsequenz aus der Existenz systemischer Schwachstellen im zuständigen Mitgliedstaat ist (EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 91). Erforderlich, aber auch ausreichend ist daher, wenn auf Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben dem Gericht Anhaltspunkte für Schwachstellen vorliegen, welche eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen und den Antragsteller betreffen. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist (auch) erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass sich eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Bedürfnissen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C 297/17 „Ibrahim“ u.a. – juris Rn. 89 ff. und C-163/17, „Jawo“ – juris Rn. 91 ff.).
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b) Im Einklang mit der aktuellen obergerichtlichen Rechtsprechung ist im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht davon auszugehen, dass dem Antragsteller aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein (vgl.: EGMR, U.v. 23.3.2021 – M.T./Niederlande, Nr. 46595/19 = BeckRS 2021, 7508; s. auch aktuell und ausführlich: VG München, B.v. 31.7.2023 – M 19 S 23.50322 – juris Rn. 28 ff.; VG Ansbach, B.v. 4.7.2023 – AN 14 S 23.50252 – juris Rn. 35 ff.; VG Bayreuth, B.v. 24.5.2023 – B 7 S 23.50126 – juris Rn. 44 ff.; VG München, U.v. 24.4.2023 – M 5 K 18.52835 – juris Rn. 21; VG Würzburg, GB v. 20.4.2023 – W 1 K 23.50151 – juris; BayVGH, U.v. 15.12.2022 – 24 B 22.50020 – juris; a.A. OVG NW, B.v. 5.7.2023 – 11 A 1722/22.A – juris Rn. 29 ff.; OVG NW, B.v. 16.6.2023 – 11 A 1132/22.A – juris Rn. 47 ff.; OVG NW, U.v. 20.7.2021 – 11 A 1674/20.A – juris für in Italien anerkannt Schutzberechtigte; U.v. 20.7.2021 – 11 A 1689/20.A – juris für Dublin-Rückkehrer). Insbesondere auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat entschieden, dass Asylsuchende in Italien elementare menschliche Bedürfnisse befriedigen können, ihnen insbesondere nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Obdachlosigkeit drohe (BayVGH, U.v. 15.12.2022 – 24 B 22.50020 – juris Rn. 33). Dublin-Rückkehrer würden behandelt wie alle Asylsuchenden und hätten insbesondere auch Anspruch auf Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung (BayVGH, a.a.O.). Die italienische Regierung hat im Übrigen in einem Schreiben an die anderen Mitgliedstaaten („circular letter“) vom 8. Februar 2021 explizit bestätigt, dass Dublin-Rückkehrer einen Anspruch auf Unterbringung haben. Angesichts dessen ging auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung vom 23. März 2021 davon aus, dass eine Überstellung einer allein erziehenden Mutter mit Kleinkindern nach Italien rechtmäßig ist (vgl. zum Ganzen: EGMR, U.v. 23.3.2021, a.a.O., Rn. 31 bis 37 und 53 bis 55). Anhaltspunkte dafür, dass diese in den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bzw. des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zugrunde gelegten Erkenntnisse grundlegend überholt sind, liegen dem Gericht nicht vor bzw. wurden vom Antragsteller auch nicht vorgetragen. Vielmehr lassen die Angaben des Antragstellers im Anhörungsgespräch beim Bundesamt indiziell den Schluss zu, dass der wesentliche Grund für die Ausreise aus Italien sein dort abgelehnter Asylantrag war. Sinn und Zweck des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (und damit auch der Dublin III-VO) ist aber die grundsätzliche Verhinderung mehrfacher Asylverfahren in verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
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d) Individuelle in der Person des Antragstellers wurzelnde Umstände, welche die Antragsgegnerin zwingend zur Ausübung ihres Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO hätten veranlassen müssen (vgl. näher dazu BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 22 ff.), sind weder vom Antragsteller dargelegt noch für das Gericht ersichtlich.
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3. Die angeordnete Abschiebung nach Italien gem. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ist tatsächlich möglich und rechtlich zulässig, da weder inlands- noch zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse bestehen (vgl. diesbezüglich zur Prüfungskonzentration des Bundesamts: BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – AuAS 2014, 244).
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An der (tatsächlichen) Durchführbarkeit der Abschiebung i.S.v. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG bestehen auch unter Berücksichtigung der jüngsten aktuellen tatsächlichen Entwicklungen keine durchgreifenden Zweifel. Aus den Rundschreiben des italienischen Innenministeriums vom 5. und 7. Dezember 2022 („Circular Letter To All Dublin Units“ – abrufbar über asylfact) lässt sich nicht entnehmen, dass die Abschiebung während der gesamten Dauer der Überstellungsfrist von 6 Monaten tatsächlich unmöglich ist. In diesem Schreiben werden die Mitgliedstaaten zwar gebeten, wegen plötzlich aufgetretener technischer Probleme in Bezug auf die Unterbringung und diesbezüglicher Engpässe zeitweise von Überstellungen (mit Ausnahme von Familienzusammenführungen von Minderjährigen bzw. von unbegleiteten Minderjährigen) abzusehen („suspension of transfers“); unter Berücksichtigung der hohen Zahl von Neuzugängen und fehlender Aufnahmekapazitäten bestehe die Notwendigkeit, die Aufnahme von Drittstaatsangehörigen neu zu planen („need for a re-scheduling of the reception activities“).
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Eine fehlende dauerhafte Übernahmebereitschaft Italiens kann aus den Rundschreiben vom 5. und 7. Dezember 2022 nicht gefolgert werden, zumal für den Prognosezeitraum der Wiederaufnahmebereitschaft auf die sechsmonatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO abzustellen ist. Die sechsmonatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO beginnt vorliegend nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 1 Dublin III-VO mit der Entscheidung über den Eilantrag (wieder) zu laufen. Damit steht derzeit noch ein erheblicher Zeitraum für die Überstellung des Antragstellers zur Verfügung. Dabei ist auch klarzustellen, dass das Erfordernis der positiv feststehenden Übernahmebereitschaft (vgl. dazu: BVerwG, U.v. 27.4.2016 – 1 C 24.15 – juris Rn. 20) nicht erfordert, dass ein ausdrückliches Einverständnis des Mitgliedstaates vorliegt, das – wie hier nach Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO – auch fingiert werden kann (vgl. Pietzsch in BeckOK AuslR, Stand 1.1.2023 – § 34a AsylG Rn. 13).
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Entgegen eines beachtlichen Teils der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung (so etwa: VG Stuttgart, B.v. 23.8.2023 – A 4 K 4321/23 – juris Rn. 8; VG Stade, U.v. 11.8.2023 – 10 A 1111/23 – juris Rn. 15; VG Bremen, B.v. 10.8.2023 – 6 V 1704/23 – juris Rn. 18 ff.; VG Düsseldorf, U.v. 27.7.2023 – 12 K 2675/23.A – juris Rn. 65 ff.; OVG NW, B.v. 5.7.2023 – 11 A 1722/22.A – juris Rn. 48 ff.; VG Köln, U.v. 4.7.2023 – 8 K 2897/17.A – juris Rn. 42 ff.; VG Greifswald, B.v. 13.6.2023 – 3 B 869/23 HGW – juris Rn. 24 ff.; NdsOVG, B.v. 26.4.2023 – 10 LA 48/23 – juris Rn. 21) hält es das Gericht nicht für ausreichend, anhand der Dauer des zwischenzeitlich verstrichenen Zeitraums von nunmehr über 9 Monaten seit den Rundschreiben vom 5. und 7. Dezember 2022 Rückschlüsse auf die zukünftigen Entwicklungen innerhalb des verbleibenden Überstellungszeitraums ziehen zu können (so letztendlich auch: VG München, B.v. 31.7.2023 – M 19 S 23.50322 – juris Rn. 32 ff.; VG Ansbach, B.v. 4.7.2023 – AN 14 S 23.50252 – juris Rn. 75 ff.; VG Bayreuth, B.v. 11.4.2023 – B 7 S 23.50063 – juris Rn. 36). Das Gericht hält es ohne Unterschreitung des Regelbeweismaßes der vollen richterlichen Überzeugung (§ 108 Abs. 1 VwGO) bereits grundsätzlich nicht für möglich, ausschließlich anhand einer (wertenden) Betrachtung der tatsächlichen Entwicklung der Vergangenheit bis zur Gegenwart Rückschlüsse für eine valide, in die Zukunft gerichtete Prognose ziehen zu können. Mit dem Begriff des „Feststehens“ in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ist nämlich zum einen kein absolutes Feststehen im Sinne einer absoluten Sicherheit gemeint, sondern vielmehr ein nur „relatives Feststehen“ dergestalt, dass nach dem derzeitigen Verfahrensstand und der Erkenntnislage des Bundesamts die Abschiebung mit großer Wahrscheinlichkeit durchgeführt werden kann. Dies erfordert eine (in die Zukunft gerichtete) Prognose des Bundesamts, ob anhand des maßgeblichen Bezugspunkts im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO, d.h. innerhalb der grundsätzlich geltenden Überstellungsfrist von sechs Monaten, die Abschiebung auf Grundlage der maßgeblichen tatsächlichen Umstände unter Berücksichtigung des konkreten Einzelfalls und der Verwaltungspraxis möglich sein wird. Angesichts der Tatsache, dass es hierbei um eine Prognose der zuständigen Behörde geht, folgt, dass die gerichtliche Kontrolle, ob die Abschiebung in diesem Sinne durchgeführt werden kann, naturgemäß eingeschränkt ist. Insbesondere folgt durch das Verwaltungsgericht keine Vollprüfung dergestalt, dass das Verwaltungsgericht im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes positiv feststellen müsste, dass die Abschiebung innerhalb der Überstellungfrist durchgeführt werden kann. Unzutreffend und damit rechtswidrig wäre die behördliche Prognose aber jedenfalls dann, wenn das Bundesamt von einer Durchführbarkeit der Abschiebung ausgeht, obwohl der ersuchte Mitgliedstaat ausdrücklich seine fehlende Übernahmebereitschaft erklärt hat oder er zwar nur vorübergehende Gründe für die fehlende Übernahmebereitschaft geltend macht, aber nicht die geringsten Anstrengungen unternimmt, um diese Probleme in den Griff zu bekommen, obwohl derartiges möglich und auch zumutbar wäre (vgl. zutreffend: VG München, B.v. 31.7.2023 – M 19 S 23.50322 – juris Rn. 32; VG Ansbach, B.v. 4.7.2023 – AN 14 S 23.50252 – juris Rn. 76).
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Letztendlich kreist damit die in der Rechtsprechung hoch umstrittene Frage, ob Abschiebungen nach Italien tatsächlich durchführbar sind im Sinne des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG („feststehen“), um das tatsächliche Problem, dass eine dezidierte und eindeutig kommunizierte Weigerung Italiens, Dublin-Rückkehrer für absehbare Zeit nicht mehr zurückzunehmen, bis heute so nicht vorliegt, während zugleich ein aktuell 9 Monate andauernder faktischer Überstellungsstopp vorliegt, der bei wertender Gesamtbetrachtung als eine „Weigerung“ Italiens interpretiert wird. Soweit aktuell sowohl in einer Vielzahl gerichtlicher Entscheidung und auch seitens der Behörden der Bundesrepublik Deutschland von einer „Weigerung“ Italiens gesprochen wird, Asylsuchende nach der Dublin III-VO wiederaufzunehmen (vgl. auch aktuell: „Bund stoppt Aufnahme von Migranten aus Italien“, abrufbar auf https://www....-100.html [aufgerufen 15.9.2023]), handelt es sich aber eben um eine Bewertung des vergangenen 9-monatigen Zeitraums, in denen keine Asylsuchenden nach Italien rücküberstellt werden konnten, während eine „Weigerung“ der italienischen Behörden als solche bis heute gerade nicht explizit vorliegt (vgl. auch VG Ansbach, B.v. 4.7.2023 – AN 14 S 23.50252 – juris Rn. 79). Welche Entwicklungen sich hieraus für die Zukunft ableiten lassen, lässt sich schlicht nicht (mit der nach § 108 Abs. 1 VwGO erforderlichen Überzeugungsgewissheit) vorhersagen bzw. prognostizieren. Letztendlich zeigen vielmehr auch Fälle aus der Rechtsprechung, dass Italien in Einzelfällen Rückübernahmen auch ausdrücklich zugestimmt hat (vgl. etwa VG Bayreuth, B.v. 24.5.2023 – B 7 S 23.50126 – juris Rn. 44). Dass Italien nicht mal ansatzweise willens oder in der Lage wäre, auf die gegenwärtigen Herausforderungen insbesondere bei der Unterbringung zu reagieren, wird nicht zuletzt gerade durch die Aufstockung von Unterbringungskapazitäten sowohl in den letzten Jahren als auch in der jüngsten Vergangenheit insbesondere in den besonders stark frequentierten „Hotspots“ widerlegt (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Stand 27.7.2023, S. 8). Da Italien mithin Anstrengungen unternimmt, den in den Rundschreiben vom 5. und 7. Dezember 2022 beschriebenen Herausforderungen zu begegnen, kann nach alledem nach wie vor nicht davon ausgegangen werden, dass sich die herausfordernde Situation im zuständigen Mitglied aufgrund dessen eigenen Verschuldens auf unabsehbare Zeit nicht ändern wird.
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Das Gericht sieht sich an dieser Bewertung auch nicht im Hinblick auf die Kammerbeschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 2. August 2023 (2 BvR 593/22 – juris Rn. 12) sowie vom 21. April 2016 (2 BvR 273/16 – juris Rn. 14) gehindert. Entgegen der im Beschluss vom 2. August 2023 beanstandeten Entscheidung hat das Gericht in der vorliegenden Entscheidung die Rundschreiben vom 5. und 7. Dezember 2022 und die hieraus seitdem resultierende Situation gerade im Hinblick auf die tatsächlichen Voraussetzungen des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG berücksichtigt. Die weitere Tatsache, dass die Frage des „Feststehens“ der Durchführbarkeit der Abschiebung gem. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG von zahlreichen Verwaltungsgerichten anders beurteilt wird als im vorliegenden Beschluss, zwingt nach der hier vertretenen Auffassung ebenfalls nicht zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Denn vorliegend geht es gerade nicht um eine divergierende Beurteilung der allgemeinen abschiebungsrelevanten Lage im Zielstaat bei nicht hinreichend klarer Erkenntnismittellage mit unterschiedlicher Beurteilung durch zahlreiche Verwaltungsgerichte (vgl. BVerfG, B.v. 21.4.2016 – 2 BvR 273/16 – juris Rn. 14). Das vorliegend sehr disparate Bild in der Judikatur der Verwaltungsgerichte hinsichtlich der Beurteilung der Durchführbarkeit von Abschiebungen nach Italien betrifft letztendlich wie gesehen Vollzugsfragen (vgl. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG, § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG), ohne dass unter Berücksichtigung der ganz überwiegenden, oben dargestellten Rechtsprechung bei einem Vollzug der streitgegenständlichen Abschiebungsanordnung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit mit einer Verletzung der Rechte des Antragtragstellers aus Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK zu rechnen wäre.
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Sollte Italien wider Erwarten bis zum Ablauf der Überstellungsfrist keine Dublin-Rückkehrer aufnehmen, trägt im Übrigen der Zuständigkeitsübergang nach Ablauf der Überstellungsfrist den Interessen des Antragstellers ausreichend Rechnung (vgl. zum Ganzen: VG Chemnitz, B.v. 27.4.2023 – 5 L 138/23.A. – juris BA S. 10 f.; VG Freiburg, B.v. 25.4.2023 – A 9 K 251/23 – juris BA S. 7 ff.; VG München, B.v. 25.4.2023 – M 3 S 23.50378, Rn. 28 f.; VG Osnabrück, B.v. 12.4.2023 – 5 B 70/23 – juris BA S. 21 f.; VG Trier, B.v. 5.4.2023 – 2 L 1065/23.TR – juris BA S. 3 f.; VG Düsseldorf, B.v. 27.3.2023 – 12 L 695/23.A – juris Rn. 17 f.; VG Darmstadt, B.v. 14.3.2023 – 2 L 53/23.DA.A – juris BA S. 8 ff.; VG Augsburg, B.v. 6.2.2023 – Au 1 S 23.50039 – juris Rn. 23; VG Regensburg, U.v. 27.1.2023 – RN 15 K 22.50498 – juris; VG Augsburg, B.v. 20.1.2023 – Au 8 S 23.50020 – juris; VG Aachen, B.v. 24.1.2023 – 9 L 34/23.A – juris; VG Göttingen, B.v. 6.1.2023 – 1 B 170/22 – juris S. 2; VG Köln, B.v. 5.1.2023 – 11 L 23/23.A – juris S. 2; a.A. OVG NW, B.v. 13.6.2023 – 11 A 1168/22.A. – juris Rn. 48 ff.; VG Köln, B.v. 8.5.2023 – 23 L 780/23.A – juris Rn. 28 ff.; VG Köln, B.v. 13.4.2023 – 26 L 403/23.A. – juris Rn. 10 ff.; VG Gießen, B.v. 28.3.2023 – 1 L 636/23.GI.A – juris Rn. 8 ff.; VG Arnsberg, U.v. 24.1.2023 – 2 K 2991/22.A – juris Rn. 25; VG Gelsenkirchen, B.v. 5.1.2023 – 1a L 1642/22.A – juris Rn. 8). Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass bei einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers letztendlich das Bundesamt „Zeit gewinnen würde“, da dann der Lauf der Vollziehungsfrist der Abschiebungsanordnung gehemmt wäre (vgl. Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Dublin III-VO). Zugleich erschiene es dem Gericht im gleichen Zug nicht vertretbar, das Klageverfahren des Antragstellers „vorzuziehen“ und „vorzeitig“ (d.h. vor Ablauf der bei Antragsablehnung verbleibenden Überstellungsfrist) vollendete Tatsachen zu schaffen, d.h. den streitbefangenen Bescheid ausschließlich wegen eines „Vollzugsproblems“ aufzuheben und dabei dem Bundesamt vorzeitig die Möglichkeit zu nehmen, bei Eintritt einer etwaigen Änderung der Sachlage in der Zukunft den Antragsteller doch noch vor Ablauf der Überstellungsfrist überstellen zu können.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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5. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).