Titel:
Erfolglose auf Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote hinsichtlich Gambia beschränkte Asylklage
Normenketten:
VwGO § 92 Abs. 3 S. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1, S. 4, § 60a Abs. 2 S. 1
EMRK Art. 3
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1
Leitsätze:
1. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG iVm Art. 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse im Zielstaat erfordert keine Extremgefahr, sondern die dem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen ein gewisses "Mindestmaß an Schwere" erreichen. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das wirtschaftliche Existenzminimum ist immer dann gesichert, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat klargestellt, dass aus Art. 3 EMRK keine rechtliche Verpflichtung der Konventionsstaaten erwächst, Unterschiede im Gesundheitssystem des abschiebenden Staates dem Behandlungsniveau des Zielstaats dadurch auszugleichen, indem allen Ausländern ohne Aufenthaltsrecht eine kostenlose und unbeschränkte gesundheitliche Versorgung gewährt wird. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht (Gambia), Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (verneint), Generalisierte Epilepsie, Existenzminimum (Sicherung möglich bei dauerhaft bestehender Medikationsmöglichkeit der Epilepsie), Familienmitglieder in Gambia vorhanden (widersprüchliche und unglaubhafte Angaben des Klägers), Tonisch-Klonische, Anfälle bei Nichteinnahme oder zu niedriger Tablettendosis („Lamotrin“), Verweis auf Mitnahme eines größeren Medikamentenvorrats und Inanspruchnahme von Rückkehrhilfen, Zugang zu einer längerfristigen Medikation in Gambia mit dem Medikament „Lamotrigin“ (im Ergebnis bejaht), Asylverfahren, Gambia, Abschiebung, Abschiebungsverbot, Erkrankung, Krankheit, medizinische Versorgung, Zugang zu medizinischer Versorgung, Gesundheitszustand, Gefahrenprognose, Medikamentenversorgung, Existenzsicherung im Zielstaat, finanzielle Unterstützungsleistungen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 38399
Tenor
I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt zuletzt die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote hinsichtlich Gambia.
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Der Kläger ist gambischer Staatsangehöriger und reiste nach eigenen Angaben im November 2015 auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein. Er stellte am 30. August 2016 einen Asylantrag.
3
Mit am 22. Dezember 2016 bei der Beklagten eingegangen Schreiben teilte der Kläger mit, ab sofort unter der (neuen) Adresse …straße 38, … … erreichbar zu sein.
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Mit Bescheid vom 29. März 2017 lehnte die Beklagte den Asylantrag des Klägers ab (Nrn. 1 bis 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen; im Falle einer Klageerhebung ende die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens. Für den Fall der Nichteinhaltung der Ausreisefrist wurde die Abschiebung nach Gambia angedroht (Nr. 5). Das „gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot“ wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen. Ein erster Zustellversuch dieses Bescheids am 10. April 2017 scheiterte, nachdem die Beklagte den Bescheid trotz mitgeteilter aktueller Wohnanschrift des Klägers an die alte Adresse sandte. Der Kläger erfuhr nach eigenen Angaben am 31. August 2017 bei einem Termin bei der zuständigen Ausländerbehörde erstmalig von der Existenz des Bescheids vom 29. März 2017. Am 23. September 2017 wurde dem Kläger der Bescheid vom 29. März 2017 (erstmalig korrekt) zugestellt.
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Der Kläger hat am 14. September 2017 Klage erhoben gegen den Bescheid vom 29. März 2017 und ursprünglich beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 29. März 2017 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen, hilfsweise, die Beklagte verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. und Abs. 7 AufenthG vorliegen.
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Zur Begründung wird zunächst auf die Angaben des Klägers im Asylverfahren Bezug genommen. Mit Schriftsätzen vom 15. Oktober 2019, 21. September 2020, 2. März 2022 und 6. Februar 2023 hat der Kläger unter Vorlage verschiedener fachärztlich-neurologischer Stellungnahmen bzw. Arztberichte, auf die jeweils Bezug genommen wird, vorgetragen, an einer generalisierten Epilepsie zu leiden. Das Risiko neuer generalisierter tonisch-konischer Anfälle gehe mit potenziell lebensbedrohlichen Konsequenzen einher. Es sei zu vermuten, dass die neurologische Behandlung beim Kläger in seinem Heimatland weder fortgesetzt noch ausgeführt werden könne. Bei stabiler Anfallsfreiheit könne der Kläger allerdings am Erwerbsleben teilnehmen und sich seinen eigenen Lebensunterhalt sichern.
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Die Beklagte hat sich mit Schriftsatz vom 21. Oktober 2019 im gerichtlichen Verfahren geäußert, ohne einen Antrag zu stellen. Die vom Kläger bis dato vorgelegten Atteste würden den Voraussetzungen des § 60a Abs. 2c AufenthG nicht genügen. Es sei schon nicht ausreichend dargelegt, wie sich ein etwaiger Behandlungsabbruch beim Kläger auswirke. Ob es dem Kläger möglich sei, etwaig benötigte Medikamente im Herkunftsland zu beschaffen, könne dahinstehen, da sich bereits aus dem Attest nicht herleiten lassen, welche konkreten negativen Folgen ein Behandlungsabbruch nach sich ziehen würde. Ob eine Beschaffung im Herkunftsland möglich sei, wisse der Kläger offenkundig selbst nicht.
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Mit Schreiben vom 16. Dezember 2021 an das Kreisverwaltungsreferat der … … (***) teilte der Klägerbevollmächtigte mit, dass der Kläger eine „Dummheit begangen habe“. Er habe versucht, mit einem gefälschten gambischen Reiseausweis nach Gambia zu reisen, um seine Familie zu besuchen, was ihm nicht gelungen sei. Allerdings sei er mit diesem falschen Ausweis beim Grenzübertritt von Frankreich nach Deutschland kontrolliert worden. Die Beklagte führt den Kläger seitdem unter der Aliaspersonalie „… …“.
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Bereits mit Beschluss vom 3. September 2020 wurde der Rechtsstreit gemäß § 76 Abs. 1 AsylG zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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In der mündlichen Verhandlung vom 27. Februar 2023 hat der Kläger seine Klage, soweit sie auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. hilfsweise des subsidiären Schutzes gerichtet war, zurückgenommen. Er beantragt zuletzt,
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die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheids zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG bestehen.
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Das Gericht hat nach einem (bedingten) Beweisantrag des Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung zur Frage der Kosten, Finanzierbarkeit bzw. Verfügbarkeit des Medikaments „Lamotrigin“ eine ergänzende Auskunft des Auswärtigen Amts zu der bis dato vorliegenden Auskunft an das Verwaltungsgericht Sigmaringen eingeholt, auf die jeweils Bezug genommen wird.
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Mit Schriftsätzen vom 26. September 2023 und 7. November 2023 haben die Beteiligten übereinstimmend auf die Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung verzichtet. Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 20. November 2023 ausgeführt, dass sein Gesundheitszustand unverändert sei und die Dosis 400 mg 2x täglich benötige. Ohne regelmäßige Medikamenteneinnahme bestehe weiterhin ein hohes Anfallsrisiko.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Über die Klage konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne (weitere) mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
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Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 27. Februar 2023 die in der Klage vom 13. September 2017 in Nummer 2 gestellten Anträge zur Verpflichtung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes zurückgenommen hat, war das Verfahren insoweit gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen. Die Entscheidung darüber ist unanfechtbar (§ 92 Abs. 3 Satz 2 VwGO).
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1. Soweit noch über die Klage zu entscheiden ist, ist diese zulässig, aber nicht begründet.
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Der streitbefangene Bescheid vom 29. März 2017 ist, soweit er das Nichtvorliegen zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote hinsichtlich Gambia feststellt, rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG) keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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2. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK liegen in der Person des Klägers hinsichtlich Gambia nicht vor.
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a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist die Abschiebung eines Ausländers unzulässig, wenn ihm im Abschiebungszielstaat die ernsthafte Gefahr der Folter oder einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung droht. Abzustellen ist dabei grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 26 m.w.N.). Für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse im Zielstaat ist keine Extremgefahr wie im Rahmen der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlich (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 13). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen vielmehr ein gewisses „Mindestmaß an Schwere“ erreichen. Diese Voraussetzung kann erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann, also seine elementarsten Bedürfnisse in einer Situation extremer materieller Not nicht befriedigen kann (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17, Rs. „Jawo“ – juris Rn. 92 ff.; BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12 m.w.N.; B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 11). Im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen; erforderlich, aber auch ausreichend ist daher die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer unmenschlichen Behandlung (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 22) bzw. dem Bestehen einer Situation, in der Verhältnisse und Umstände herrschen, unter denen der Betreffende einer im Ergebnis unmenschlichen Situation ausgesetzt ist. Dies kann entweder wegen einer allgemein so schlechten Lage im Herkunftsstaat als solcher oder wegen dem Bestehen einer solchen und dem Hinzutreten besonderer, individuell begründeter Umstände, welche eine allgemein schlechte Lage im Einzelfall über die Schwelle dessen heben, was der Einzelne für den Fall der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat (noch) hinzunehmen hat, der Fall sein.
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Hinsichtlich des Zugangs zum Gesundheitssystem bei einer vorhandenen (Grund-)Erkrankung ist (auch) im konventionsrechtlichen Kontext anerkannt, dass es nicht darauf ankommt, ob die medizinische Versorgung im Herkunftsstaat gleichwertig oder schlechter ist im Vergleich zu derjenigen des abschiebenden Staates. Art. 3 EMRK gewährt auch kein Recht, im Bestimmungsland eine besondere Behandlung zu erhalten, die der Bevölkerung nicht zur Verfügung steht. Die Behörden und Gerichte des abschiebenden Staates müssen aber in jedem Einzelfall prüfen, ob die im Bestimmungsland allgemein vorhandene medizinische Versorgung in der Praxis ausreichend und angemessen ist, die Krankheit des Betroffenen zu behandeln und zu verhindern, dass der Betroffene einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung ausgesetzt wird. Berücksichtigt werden müssen dabei unter anderem die Kosten für Medikamente und Behandlung und ob ein soziales und familiäres Netz zur Unterstützung besteht (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 [GK] – Paposhivli/Belgien, Nr. 41738/10 – HUDOC Rn. 183 ff. = NVwZ 2017, 1187 <1189 f.>).
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In Bezug auf Sicherung elementarer Grundbedürfnisse im Sinn der oben zitierten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 4 GRCh gelten – insbesondere bei nicht vulnerablen Personen – nur an dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde orientierte Mindestanforderungen. Das wirtschaftliche Existenzminimum ist immer dann gesichert, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zu den im vorstehenden Sinne zumutbaren Arbeiten zählen auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, selbst wenn diese im Bereich der sogenannten „Schatten- oder Nischenwirtschaft“ angesiedelt sind. Können extrem schlechte materielle Lebensverhältnisse, welche die Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK begründen, somit durch eigene Handlungen (z.B. den Einsatz der eigenen Arbeitskraft) oder die Inanspruchnahme der Hilfe- oder Unterstützungsleistungen Dritter (seien es private Dritte, seien es nichtstaatliche Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen) abgewendet werden, besteht schon nicht mehr die ernsthafte Gefahr einer Situation extremer materieller Not, die unter Umständen eine staatliche Schutzpflicht zu (ergänzenden) staatlichen Leistungen auslösen kann (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10.21 – juris Rn. 17 m.w.N.).
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In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist ferner geklärt, dass die Gefahr eines ernsthaften Schadenseintritts nicht schon dann gegeben ist, wenn zu einem beliebigen Zeitpunkt nach der Rückkehr in das Heimatland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht. Maßstab für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose ist vielmehr grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist. Kann der Rückkehrer Hilfeleistungen in Anspruch nehmen, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, so kann Abschiebungsschutz ausnahmsweise nur dann gewährt werden, wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der letzten behördlichen oder gerichtlichen Tatsachenentscheidung davon auszugehen ist, dass dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht. Je länger der Zeitraum der durch Rückkehrhilfen abgedeckten Existenzsicherung ist, desto höher muss die Wahrscheinlichkeit einer Verelendung nach diesem Zeitraum sein (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10.21 – juris Rn. 25).
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Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt wiederum voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Art. 3 EMRKwidrige Behandlung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Ein gewisser Grad an Mutmaßung ist dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent, sodass ein eindeutiger, über alle Zweifel erhabener Beweis dafür, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre, nicht verlangt werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10.21 – juris Rn. 14 m.w.N.).
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b) Gemessen an diesen rechtlichen Grundsätzen kann der Kläger die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK hinsichtlich Gambia nicht beanspruchen. Das Gericht ist unter Berücksichtigung aller aktenkundigen Umstände sowie der Angaben des Klägers im Verwaltungssowie im Gerichtsverfahren nicht davon überzeugt (§ 108 VwGO), dass er nach einer Rückkehr oder Abschiebung nach Gambia in eine der Vorschrift des Art. 3 EMRK widersprechende Situation gerät. Das gilt auch unter Berücksichtigung der Epilepsie-Erkrankung des Klägers.
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Aus dem zuletzt vorgelegten Attest vom 2. Februar 2023 (das in weiten Teilen den bislang vorgelegten Attesten ähnelt) lässt sich entnehmen, dass der Kläger als Epileptiker, der sich in der Vergangenheit im Jahr 2019 in stationärer Aufnahme befunden hat, auf eine regelmäßige Medikamenteneinnahme angewiesen ist, um seinen Tagesalltag zu bewältigen. Bei Absetzen der Medikamente bzw. bei Einnahme einer zu niedrigen Medikamentendosis erhöht sich die Wahrscheinlichkeit des Auftretens sogenannter generalisierter tonisch-klonischer Anfälle signifikant. Ein Anfall vom 16. Februar 2022 wird so beschrieben, dass der Kläger zwei Tage apathisch im Bett gelegen habe (mit Zungenbiss), in dieser Zeit nichts gegessen und getrunken und schwere Gedächtnisstörungen gehabt habe. Aus ärztlicher Sicht wird das Risiko epileptischer Anfälle als prinzipiell lebensbedrohlich („sudden unexpected death in epilepsy“) beurteilt. Auf der anderen Seite wird in diesem Attest ausgeführt, dass der Kläger bei stabiler Anfallsfreiheit am Erwerbsleben teilnehmen und für einen eigenen Unterhalt sorgen könne. Die aktuelle Einnahmedosis des Medikaments „Lamotrigin“ betrage 2x 150 mg täglich, eine weitere Dosissteigerung auf 2x 200 mg wurde empfohlen.
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Auf Grundlage der vorliegenden Atteste lässt sich damit beurteilen, dass der Kläger aufgrund seiner Epilepsie-Erkrankung zwar tendenziell als vulnerabel anzusehen ist, aber letztendlich die Frage der Sicherung seines eigenen Existenzminimums und damit eines menschenwürdigen Daseins untrennbar mit der Möglichkeit eines regelmäßigen Zugangs geeigneter Medikamente verknüpft ist. Solange der Kläger seine Epilepsie-Erkrankung mit „Lamotrigin“-Tabletten in der erforderlichen Dosis behandeln kann, ist er arbeitsfähig und kann sich damit sein Auskommen – und auch damit die von ihm benötigten Tabletten – sichern. Insofern bedingen sich grundsätzlich eine ausreichende regelmäßige Medikamenteneinnahme und ein regelmäßiges Arbeitseinkommen jeweils wechselseitig.
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Das benötigte Medikament „Lamotrigin“ ist in Gambia prinzipiell erhältlich. Nach der Auskunft des Auswärtigen Amts an das Verwaltungsgericht Sigmaringen vom 15. Juli 2020 sind in Banjul drei verschiedene Mengen erhältlich, alle jeweils mit 56 Tabletten je Packung: 25 mg für 400 Dalasi, 100 mg für 1.000 Dalasi und 200 mg für 500 Dalasi. Aus der eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amts an das Verwaltungsgericht München ergeben sich dabei keine entscheidenden neuen Erkenntnisse, abgesehen davon, dass es eine häufige Knappheit mit Lieferengpässen für bestimmte Medikamente gebe (was allerdings schon nach den bisherigen Erkenntnismitteln dem Gericht bekannt war). Das Gericht geht nicht nur davon aus, dass das Medikament „Lamotrigin“ in Banjul allgemein erhältlich, sondern dass der Kläger auch konkret einen ausreichenden Zugang zu diesem Medikament nach einer Rückkehr haben würde.
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Dabei geht das Gericht entsprechend des zuletzt vorgelegten Attests vom 2. Februar 2023 von einer benötigten Tagesdosis des Klägers von 400 mg (2x 200 mg täglich) aus, was ausweislich des Protokolls zur mündlichen Verhandlung auch so erörtert worden ist. Von einer benötigten Tagesdosis von 2x 400 mg war entgegen des letzten Schriftsatzes des Bevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung keine Rede, im Übrigen findet eine dermaßen hohe Dosierung auch keine Stütze im zuletzt vorgelegten Attest vom 2. Februar 2023.
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Die vom Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung aufgeworfene Ungereimtheit hinsichtlich der mathematischen Entwicklung des Verhältnisses von Preis und Dosierung in der Auskunft des Auswärtigen Amts an das Verwaltungsgericht Sigmaringen vom 15. Juli 2020 ist nicht weiter aufklärbar. Das Auswärtige Amt ist in der vom Gericht eingeholten Auskunft auf die diesbezügliche Frage im Beweisbeschluss vom 14. März 2023 nicht eingegangen. Eine endgültige Aussage dahingehend, dass die angegebenen 500 Dalasi für eine Tablettenpackung der Dosis 200 mg fehlerhaft niedrig seien, ist damit ohne Unterschreitung des Regelbeweismaßes der vollen richterlichen Überzeugung (§ 108 Abs. 1 VwGO) für das Gericht nicht möglich. Das Gericht hat im Rahmen seiner Möglichkeiten versucht, die vom Kläger aufgeworfene Ungereimtheit in der Auskunft an das Verwaltungsgericht Sigmaringen aufzuklären, was aber wie ausgeführt unergiebig geblieben ist (non liquet). Da insoweit die Aufklärungsmöglichkeiten des Gerichts ausgeschöpft sind, verbleibt hinsichtlich der Behauptung der Unrichtigkeit der Kosten von 500 Dalasi für Tabletten der Dosis 200 mg die diesbezügliche Beweislast beim Kläger. Das Gericht geht dabei davon aus, dass unter Zugrundelegung eines durchschnittlichen Monatseinkommens (zwischen 3.000 und 10.000 Dalasi) Ausgaben in Höhe von 500 Dalasi pro Monat für eine Medikamentenpackung der Dosis 200 mg den Kläger finanziell nicht überfordern würden.
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Unabhängig davon geht das Gericht – selbständig tragend – davon aus, dass sich der Kläger die benötigte Medikation aber auch mit zwei Tablettenpackungen (= 112 Tabletten) der Dosis 100 mg pro Monat sichern könnte. Bei der derzeit vom Kläger benötigten Tagesdosis von 400 mg hätte dies zwar die Konsequenz, dass eine Tablettenpackung der Dosis 100 mg doppelt so schnell aufgebraucht wäre die eine Tablettenpackung der Dosis 200 mg, weil der Kläger aus der Tablettenpackung der Dosis 100 mg vier Tabletten pro Tag bräuchte. Auch wenn dies rechnerisch bedeutet, dass eine Tablettenpackung der Dosis 100 mg nach zwei Wochen aufgebraucht wäre und der Kläger damit für einen Monat Kosten in Höhe von etwa 2.000 Dalasi aufzubringen hätte, geht das Gericht davon aus, dass dies dem Kläger im Ergebnis möglich wäre.
32
Nach der Auskunft des Auswärtigen Amts an das Gericht beträgt das durchschnittliche Monatseinkommen für einfache Tätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt in Gambia zwischen 3.000 und 10.000 Dalasi. Je nachdem, in welchem Bereich sich das monatliche Einkommen des Klägers bewegen würde, müsste er demnach zwischen 1/5 bis zu 2/3 eines durchschnittlichen Monatsgehalts für das oben genannte Medikament ausgeben. Dabei stellt das Gericht allerdings in die Bewertung ein, dass der Kläger es zu einem gewissen Grad selbst in der Hand hat und auch zumutbare Eigenanstrengungen erwartet werden dürfen, sich auf eine Arbeitsstelle zu bewerben, dessen Einkommen sich mehr am oberen als am unten Ende des genannten Bereichs von 3.000 bis 10.000 Dalasi bewegt. Das Gericht geht auch davon aus, dass dies dem Kläger gelingen wird, der im Verwaltungsverfahren angegeben hat, sich die Kosten die Überfahrt von Libyen nach Europa durch eigene Arbeit erwirtschaftet zu haben. Der Kläger hat insofern ein gewisses Improvisationstalent nachgewiesen, sich auch in schwierigen Situation (finanziell) zu organisieren und sein Handeln planvoll danach auszurichten.
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Soweit in der Auskunft des Auswärtigen Amts an das Gericht angegeben wird, dass ein regelmäßiges Einkommen in Gambia nicht mit der Regelmäßigkeit eines Einkommens nach inländischem Verständnis gleichzusetzen sei und es bei bestimmten Medikamenten häufig zu Lieferengpässen käme, vermag auch dies im Ergebnis die obigen Ausführungen nicht in Frage zu stellen. Das Auswärtige Amt führt in diesem Zusammenhang aus, dass Personen, die eine konstante medikamentöse Behandlung benötigen, diese in der Regel nur unter großen Schwierigkeiten aufrechterhalten können. Das ändert aber zunächst im Ausgangspunkt nichts daran, dass hinsichtlich der Eigenfinanzierung durch den Kläger erhebliche Anstrengungen erwartet werden können und dürfen. Entscheidend kommt aber dazu, dass etwaige Einschränkungen bei der Medikamentenverfügbarkeit (sei es durch Lieferengpässe oder Unregelmäßigkeiten bei der Zahlung des Arbeitsentgelts) durch die Mitnahme eines hinreichend großen Vorrats an „Lamotrigin“-Tabletten der benötigten Dosierung entgegengewirkt kann (vgl. HessVGH, U.v. 23.02.2006 – 7 UZ 269/06.A – juris Rn. 6; vgl. auch Koch in BeckOK AuslR, Stand 1.7.2020, § 60 AufenthG Rn. 42). Dieser im Kontext des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anerkannte Rechtssatz aus der obergerichtlichen Rechtsprechung lässt sich ohne weiteres in der im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG vorzunehmenden Gefahrenprognose und den hierzu bekannten Anforderungen aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie des Bundesverwaltungsgerichts integrieren. Insbesondere auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat klargestellt, dass aus Art. 3 EMRK keine rechtliche Verpflichtung der Konventionsstaaten erwächst, Unterschiede im Gesundheitssystem des abschiebenden Staates und dem Behandlungsniveau des Zielstaats dadurch auszugleichen, indem allen Ausländern ohne Aufenthaltsrecht eine kostenlose und unbeschränkte gesundheitliche Versorgung gewährt würde (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 [GK] – Paposhivli/Belgien, Nr. 41738/10 – HUDOC Rn. 192 = NVwZ 2017, 1187 <1190>). Wenn dem so ist, dann muss es (auch losgelöst von einer Zusicherung des Zielstaats) grundsätzlich möglich sein, einen Drittstaatsangehörigen auch in einen Staat mit einer (deutlich) schlechteren Gesundheitsversorgung abzuschieben, wenn etwaige Defizite oder auftretende Engpässe in der dortigen Medikamentenversorgung mit der Mitgabe eines hinreichend großen Medikamentenvorrats in diesen Staat ausreichend kompensiert werden können, wenn der Betroffene mit erheblichen Eigenanstrengungen die Finanzierung einer benötigten Medikation ansonsten grundsätzlich bewältigen kann. Im konkreten Fall bedeutet dies, dass sich der Kläger im Inland vor einer Rückkehr nach Gambia oder einer Abschiebung dorthin – ggf. wie ausgeführt mit staatlicher Unterstützung – einen hinreichend großen Vorrat an „Lamotrigin“-Tabletten aufbauen kann, der ihm möglicherweise dort für Jahre ermöglichen würde, etwaige Engpässe im Medikamentenbezug dort auszugleichen. Dabei geht es wie ausgeführt nicht darum, dass eine Medikamentenmitnahme dort einen Bezug von Medikamenten vollständig ersetzen soll, sondern lediglich etwaige zwischenzeitliche Engpässe abzumildern.
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Hinzukommt, dass im Rahmen der vorzunehmenden Gefahrenprognose nach der oben zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Rückkehrhilfen miteinzubeziehen ist. Hinsichtlich Gambia kann eine Erstattung von Reisekosten und eine einmalige Starthilfe beantragt werden, darüber hinaus gibt es weitere Reintegrationsprogramme wie „StarthilfePlus“ oder das „JRS-Programme“ (vgl. https://www.returningfromgermany.de/en/countries/gambia-the [aufgerufen 27.11.2023]). Damit könnte sich der Kläger nach einer freiwilligen Rückkehr neben der Mitnahme eines hinreichend großen Medikamentenvorrats auch mit finanziellen Unterstützungsleistungen wie der „StarthilfePlus“ absichern, sodass für das Gericht nicht erkennbar ist, dass dem Kläger (losgelöst von einem mitgebrachten Medikamentenvorrat) unter dem Gesichtspunkt der Finanzierbarkeit der Zugang zum Medikament „Lamotrigin“ in Gambia verschlossen wäre. Dass der Kläger trotz alledem Jahre nach einer Rückkehr nach Gambia in eine Art Abwärtsspirale gerät, dass erst ein mitgebrachter Medikamentenvorrat, dann die Rückkehrhilfen und er dann schließlich aufgrund fehlenden Eigeneinkommens in engem zeitlichen Zusammenhang in eine Elendssituation ohne Zugang zu dem benötigten Medikament gelangen wird, steht nicht zur Überzeugung des Gerichts fest. Denn bei einem derart weit gefassten Prognosezeitraum kommen naturgemäß auch tatsächliche Ungewissheiten (unter Umständen auch solche zugunsten des Klägers) zum Tragen, die jenseits noch in einem vertretbaren Rahmen erfassbarer Mutmaßungen liegen. Auf derartige Ungewissheiten kann sich das Gericht aber nach der oben zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht ohne Unterschreitung des erforderlichen Regelbeweismaßes entscheidungstragend zugunsten des Klägers stützen.
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Lediglich ergänzend merkt das Gericht an, dass der Kläger im Bedarfsfall auch auf ein soziales bzw. familiäres Netz zur Unterstützung zugreifen könnte (vgl. dazu EGMR, U.v. 13.12.2016 [GK] – Paposhivli/Belgien, Nr. 41738/10 – HUDOC Rn. 190 = NVwZ 2017, 1187 <1190>). Die Angabe des Klägers in der mündlichen Verhandlung, dass die Familienmitglieder des Klägers nicht in Gambia, sondern im Senegal leben würden, hält das Gericht für unglaubhaft, ebenso die Angabe, dass diese ihn nicht unterstützen könnten. Dies ist in keiner Weise mit dem Schreiben seines Bevollmächtigten vom 16. Dezember 2021 an die … … in Einklang zu bringen, wonach der Kläger „seine Familie in Gambia sehen“ wollte und sich deshalb einen gefälschten Reisepass beschafft hat. Ebenso hat der Kläger in seiner Anhörung beim Bundesamt angegeben, dass noch eine jüngere Schwester und zwei Tanten von ihm in Gambia leben würden. Dass diese Familienmitglieder den Kläger im Grundsatz nicht (wenigstens punktuell) unterstützen könnten, glaubt das Gericht dem Kläger nicht. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung selbst ausgeführt, dass er früher von seiner Familie unterstützt worden sei, aber selbst nicht gearbeitet habe (letzteres ist nach seinen Angaben im Verwaltungsverfahren nicht nachvollziehbar). Die hieran anknüpfende Darstellung, dass nun die genannten Familienmitglieder von Leistungen des Klägers abhängig seien, erscheint daher asyltaktisch motiviert. Auch wenn es im Kontext nationaler Abschiebungsverbote, anders als bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG („begründete Furcht“), weniger auf subjektive, sondern auf objektive Prüfkriterien ankommt („real risk“), spricht im Übrigen die unbestrittene Tatsache, dass der Kläger mit einem gefälschten Reisepass versuchen wollte, nach Gambia auszureisen, um „seine Familie zu sehen“, nicht unerheblich gegen das Vorliegen einer für Art. 3 EMRK relevanten Gefahrensituation. Insofern unterscheidet sich der vorliegende Fall auch deutlich von anderen Fällen aus der Rechtsprechung, in denen bei Vorliegen einer Epilepsie-Erkrankung und weiterer gefahrerhöhender Umstände ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG angenommen wurde (vgl. kontrastierend: VG München, U.v. 15.2.2022 – M 10 K 17.46802 – juris Rn. 22-24).
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Zusammenfassend wiegen in der nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung vorzunehmenden Gesamtbetrachtung die gegen eine erniedrigende und unmenschliche Situation im Sinn des Art. 3 EMRK sprechenden Umstände (grundsätzliche Möglichkeit der eigenen Finanzierbarkeit, Mitnahme eines größeren Medikamentenvorrats, Inanspruchnahme von Rückkehrhilfen, Verwandte in Gambia) schwerer als diejenigen für das Vorliegen einer solchen Situation (Lieferengpässe bei bestimmten Medikamenten, Unregelmäßigkeiten bei der Auszahlung von Arbeitslohn nach inländischem Verständnis, Aufrechterhaltung einer konstanten Medikation nur unter großen Schwierigkeiten). Ob dem Kläger vor einer Abschiebung nach Gambia tatsächlich eine ausreichend große Medikamentenbevorratung zur Verfügung steht, hat dann nicht das Bundesamt, sondern die Ausländerbehörde im Kontext des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu prüfen bzw. unter Umständen selbst sicherzustellen (vgl. BayVGH, B.v. 20.2.2023 – 19 CE 22.2220 – juris Rn. 5 f.).
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3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
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a) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist bei einer Krankheit diese durch ein qualifiziertes ärztliches Attest glaubhaft zu machen.
39
Eine erhebliche Gefahr in diesem Sinne liegt nur vor, wenn aufgrund zielstaatsbezogener Umstände eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist, namentlich, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde (vgl. BVerwG, U.v. 25.11.1997 – 9 C 58.96 – juris Rn. 13; U.v. 29.7.1999 – 9 C 2.99 – juris Rn. 8; VGH BW, U.v. 30.11.2006 – A 6 S 674/05 – juris Rn. 39). Die Gesetzesbegründung verweist insoweit auf „äußerst gravierende“, insbesondere lebensbedrohliche Erkrankungen (vgl. dazu die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 18/7538 vom 16.2.2016, zu Artikel 2 – Änderung des Aufenthaltsgesetzes – Nr. 1, S. 18). Eine (erhöhte) „existentielle“ oder extreme Gefahr, die den betroffenen Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde, ist indes nicht erforderlich (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – juris Rn. 15 ff.).
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Konkret ist die durch eine Krankheit verursachte Gefahr, wenn die Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Rückkehr in das Heimatland eintreten würde, weil eine adäquate Behandlung dort nicht möglich ist (vgl. hierzu: BVerwG, U.v. 29.7.1999 – 9 C 2.99 – juris Rn. 8). Es ist dabei nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Behandlungsmöglichkeiten sind dann unzureichend, wenn eine notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation für die betreffende Krankheit in dem Herkunftsstaat wegen des geringeren Versorgungsstandards generell nicht verfügbar ist. Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht darüber hinaus aber auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, U.v. 29.10.2002 – 1 C 1.02 – juris Rn. 9; vgl. zum Ganzen auch: BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – juris Rn. 20). Sofern etwaige Engpässe bei der Medikamentenversorgung durch die Mitgabe eines hinreichend großen Medikamentenvorrats für einige Monate abgewendet werden können, wenn danach die erforderliche weitere Behandlung im Zielstaat (wieder) zur Verfügung steht, entfällt die konkrete Gefahr (vgl. VGH BW, B.v. 23.2.2006 – 7 ZU 269/06.A – juris Rn. 6).
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Nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Diese gesetzliche Vermutung kann der Ausländer durch Vorlage einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung betreffend seine Erkrankung widerlegen (§ 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Diese ärztliche Bescheinigung soll gemäß § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten.
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b) Gemessen an diesen Voraussetzungen liegen im konkreten Fall die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vor. Dabei kann dahinstehen, ob jedes vorgelegte Attest für sich genommen den Voraussetzungen des § 60a Abs. 2c Satz 2, Satz 3 AufenthG genügt. Denn nach den obigen Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG fehlt es sowohl an der Konkretheit als auch der Erheblichkeit der Gefahr im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Insbesondere ist im Rechtskontext des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anerkannt, dass keine konkrete Gefahr vorliegt, wenn etwaige Schwierigkeiten bei der Medikamentenversorgung im Herkunftsland für sich genommen durch die Mitnahme eines hinreichend großen Medikamentenvorrats abgemildert werden können (vgl. HessVGH, U.v. 23.2.2006 – 7 ZU 269/06.A – juris Rn. 6; vgl. auch VG Regensburg, U.v. 27.3.2019 – RO 2 K 18.32253 – juris Rn. 27; VG Bayreuth, U.v. 24.8.2018 – B 7 K 17.32465 – juris Rn. 68). Ansonsten ist wie oben ausgeführt das benötigte Medikament „Lamotrigin“ in Gambia prinzipiell erhältlich und für den Kläger auch zugänglich, wobei es nach § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG nicht darauf ankommt, dass die Gesundheitsversorgung in Gambia mit derjenigen in Deutschland gleichwertig sein muss. Das im Attest vom 2. Februar 2023 beschriebene erhöhte Risiko des Auftretens erneuter tonisch-klonischer Anfälle und deren geschildertes Krankheitsbild dürfte unter Berücksichtigung der Gesetzesbegründung („äußerst gravierende Erkrankungen“) im Übrigen auch (noch) nicht ausreichen, um die Erheblichkeitsschwelle der erforderlichen Gefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu erreichen.
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4. Die Nebenentscheidungen des streitbefangenen Bescheids vom 29. März 2017 begegnen ebenso keinen ernsthaften rechtlichen Bedenken.
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a) Die Abschiebungsandrohung in Nummer 5 des angegriffenen Bescheids steht nicht mit unionsrechtlichen Vorgaben in Einklang, soweit die gesetzte Ausreisefrist von 30 Tagen – wie hier – mit der Bekanntgabe des Bescheids in Lauf gesetzt worden ist. Diese ursprüngliche, objektiv unionsrechtswidrige Fristsetzung ist jedoch aufgrund der Klage gegen den Bescheid durch eine unionsrechtskonforme Fristsetzung ersetzt worden (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2020 – 1 C 1.19 – juris Rn. 28).
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Die in Art. 7 der RL 2008/115/EG vorgesehene Frist für die freiwillige Ausreise darf nicht zu laufen beginnen, solange ein Betroffener ein Bleiberecht hat (vgl. EuGH, U.v. 19.6.2018 – C-181/16 – juris Rn. 62). Nach dem Grundsatz der Waffengleichheit sind dabei während der Frist für die Einlegung des Rechtsbehelfs und, falls er eingelegt wird, bis zur Entscheidung über ihn alle Wirkungen der Rückkehrentscheidung auszusetzen (vgl. EuGH, U.v. 19.6.2018 – C-181/16 – juris Rn. 61). Das Fristlaufverbot und das Bleiberecht erfassen mithin auch den Zeitraum, in dem ein Rechtsmittel noch nicht eingelegt ist, und stehen für diesen dem Lauf der behördlich zu setzenden Ausreisefrist entgegen; Rechtsmittelfrist und Ausreisefrist dürfen nicht gleichzeitig laufen. Damit nicht vereinbar ist § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylG, der für den Lauf der zu setzenden Ausreisefrist von 30 Tagen erkennbar an die Entscheidung der Bekanntgabe des Bundesamts anknüpft (so BVerwG, U.v. 20.2.2020 – 1 C 1.19 – juris Rn. 27).
46
Der Kläger ist indes durch diese anfänglich objektive Unionsrechtswidrigkeit des Bescheides aufgrund seiner Klage wegen des Eintritts der im Gesetz in § 38 Abs. 1 Satz 2 AsylG und im Bescheid benannten außerprozessualen Bedingung („im Falle einer Klageerhebung endet die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens“) nicht mehr beschwert. Die ursprüngliche, objektiv unionsrechtswidrige Fristsetzung ist aufgrund der Klage durch eine unionsrechtskonforme Fristsetzung ersetzt worden, da die Ausreisefrist nunmehr 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens endet (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2020 – 1 C 1.19 – juris Rn. 28).
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b) Die nach Nummer 6 des angegriffenen Bescheids erfolgte Befristung „des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots“ auf 30 Monate ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
48
Die Beklagte hat das nach § 11 Abs. 1 AufenthG in der bis zum 20. August 2019 geltenden Fassung für den Fall der Ausweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung eines Ausländers gesetzlich entstehende Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. § 11 Abs. 1 AufenthG in der bis zum 20. August 2019 gültigen Fassung ist mit der RL 2008/115/EG jedoch nicht vereinbar, da nach Art. 11 Abs. 2 RL 2008/115/EG das mit einer Rückkehrentscheidung (Art. 3 Nr. 4 RL 2008/115/EG) einhergehende Einreise- und Aufenthaltsverbot (Art. 3 Nr. 6 RL 2008/115/EG) stets einer behördlichen oder richterlichen Einzelfallentscheidung bedarf, die auch seine Dauer festlegen muss (vgl. BVerwG, U.v. 21.8.2018 – 1 C 21.17 – juris Rn. 21). Die behördlich erfolgte Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG in der bis zum 20. August 2019 geltenden Fassung ist jedoch unionsrechtskonform regelmäßig als konstitutiver Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots von bestimmter Dauer auszulegen (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 46.20 – juris Rn. 10; U.v. 21.8.2018 – 1 C 21.17 – juris Rn. 25 und 28; U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 42 und B.v. 13.7.2017 – 1 VR 3.17 – juris Rn. 72). Damit handelt es sich um einen einheitlichen, auch in sich nicht teilbaren belastenden Verwaltungsakt, der mit der Anfechtungsklage anzugreifen ist. Ein Ermessensfehler bei der Befristung führt zur Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots insgesamt, das dann im Regelfall ermessensfehlerfrei neu erlassen werden darf (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 46.20 – juris Rn. 10 m.w.N.).
49
Der in dem angegriffenen Bescheid des Bundesamts damit konstitutiv vorgenommene Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots und dessen Befristung auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung sind nicht zu beanstanden. Die Befristung eines unter der aufschiebenden Bedingung der Abschiebung des Ausländers erlassenen Einreise- und Aufenthaltsverbots vollzieht sich in zwei Schritten: In einem ersten Schritt bedarf es der prognostischen Einschätzung des Bundesamts, wie lange das Verhalten des Betroffenen, welches der die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots veranlassenden Abschiebung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an einer Gefahrenabwehr durch Fernhaltung des Ausländers von dem Bundesgebiet zu tragen vermag. Sind in dem zu beurteilenden Einzelfall Umstände, die das gefahrenabwehrrechtlich geprägte Interesse an einem Fernhalten des Ausländers vom Bundesgebiet erhöhen, ebenso wenig erkennbar wie Umstände, die geeignet sind, das Gewicht dieses öffentlichen Interesses zu mindern, so begegnet es in einer Situation, die keine Besonderheiten gegenüber gleichgelagerten Fällen aufweist, keinen Bedenken, das abschiebungsbedingte Einreise- und Aufenthaltsverbot auf die Dauer von 30 Monaten zu befristen und damit den durch Art. 11 Abs. 2 Satz 1 RL 2008/115/EG und § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vorgegebenen Rahmen zur Hälfte auszuschöpfen (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 47.20 – juris Rn. 18 m.w.N.). Dem gefahrenabwehrrechtlich geprägten öffentlichen Interesse sind in einem zweiten Schritt die Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die private Lebensführung des Ausländers gegenüberzustellen. Die Schutzwürdigkeit des Interesses des Ausländers an einer angemessenen Rückkehrperspektive wird insbesondere durch Art. 6 und Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 GRCh sowie durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geprägt (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 47.20 – juris Rn. 15 ff. und Rn. 19).
50
Gemessen an diesen Vorgaben begegnet die vorgenommene Befristung keinen Bedenken. Die Ausführungen im Bescheid, dass Anhaltspunkte für eine kürzere Fristsetzung weder ausreichend vorgetragen noch sonst ersichtlich seien, sind nicht zu beanstanden. Insbesondere verfügt der Kläger über keine wesentlichen Bindungen im Bundesgebiet, die im Rahmen der Ermessensprüfung zu berücksichtigen wären.
51
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 2 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.