Inhalt

VGH München, Beschluss v. 21.12.2023 – 4 CE 23.2170
Titel:

Vorläufige Zuweisung von Wohnraum

Normenketten:
VwGO § 123, § 146
LStVG Art. 6
Leitsätze:
1. Da eine durch das Fehlen einer eigenen Wohnung entstandene Obdachlosigkeit einen die öffentliche Sicherheit und Ordnung störenden Dauerzustand darstellt, bleibt die gemäß Art. 6 LStVG zuständige Gemeinde solange für die Gefahrenabwehr verantwortlich, wie sich die betreffende Person in ihrem Ortsgebiet aufhält. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. Aus der Tatsache, dass bedürftigen Personen ein sozialgesetzlicher Anspruch auf Zahlung von Bürgergeld und auf Übernahme der Mietkosten einschließlich der Strom- und Heizkosten zusteht, um ihnen eine menschenwürdige Unterkunft zu ermöglichen, folgt nicht, dass ein Obdachloser stets auf diese Sozialleistungen verwiesen werden könnte und die zuständige Gemeinde im Übrigen untätig bleiben dürfte. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
3. Erst wenn von einer aktuell bestehenden Option der Beschaffung einer Unterkunft ohne sachlich nachvollziehbaren Grund kein Gebrauch gemacht wird, kann die dadurch eingetretene oder fortdauernde Obdachlosigkeit als „freiwillig“ angesehen werden, so dass die Behörde auf ein sicherheitsbehördliches Einschreiten verzichten kann. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Gehörsverstoß im Eilverfahren, Obdachlosenunterbringung, Vorrang der Selbsthilfe, Gefahrenabwehr, Sozialleistungen
Vorinstanz:
VG Ansbach, Beschluss vom 08.11.2023 – AN 15 E 23.2177
Fundstelle:
BeckRS 2023, 37973

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500 Euro festgesetzt.
IV. Für das Beschwerdeverfahren wird der Antragstellerin Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt S3., Ansbach, gewährt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin begehrt im Eilverfahren von der Antragsgegnerin die Zuweisung einer Obdachlosenunterkunft für sich und ihren vierzehnjährigen Sohn.
2
Seit dem Jahr 2019 hatte die Antragsgegnerin der Antragstellerin und deren Sohn eine Notunterkunft zugewiesen, zuletzt für die Zeit bis zum 30. Oktober 2023. Mit Bescheid vom 31. Oktober 2023 verpflichtete sie die Antragstellerin unter Anordnung der sofortigen Vollziehung zur Räumung der Unterkunft bis zum 9. November 2023 um 14:00 Uhr und drohte ihr für den Fall der nicht fristgerechten Erfüllung die Anwendung unmittelbaren Zwangs an.
3
Auf den dagegen gerichteten Eilantrag vom 8. November 2023 hin verpflichtete das Verwaltungsgericht die Antragsgegnerin mit Beschluss vom selben Tag im Wege einer einstweiligen Anordnung, der Antragstellerin und ihrem Sohn ab dem 9. November 2023 vorläufig – zumindest bis zum 9. Januar 2024 – eine Unterkunft zuzuweisen. Zwar seien Personen, denen Obdachlosigkeit drohe, zur Selbsthilfe verpflichtet, so dass die Behörde auf eigene Maßnahmen verzichten könne, wenn sich der Betroffene durch die Inanspruchnahme anderweitiger Hilfsangebote oder durch den Einsatz eigener Sach- oder Finanzmittel in zumutbarer Weise aus eigener Kraft geeigneten Wohnraum verschaffen könne. Allein der Umstand, dass die Antragstellerin nicht von Anfang an mit dem notwendigen Nachdruck nach einer neuen Unterkunft gesucht habe und die eingetretene Wohnungsnot daher möglicherweise auf eigenem Verschulden beruhe, stelle aber noch keine Verletzung der Selbsthilfeobliegenheit dar. Selbst wenn sie nicht die erforderlichen Nachweise für ein Bemühen um ein anderweitiges Obdach erbracht hätte, führe dies nicht per se zur Annahme einer „freiwilligen“ Obdachlosigkeit. Die Antragstellerin habe aber sogar seit dem Jahr 2021 regelmäßig und meist mehrfach im Monat erfolglos Wohnungsanbieter kontaktiert, insbesondere über Vermittlungsplattformen auf einschlägigen Internetseiten. Auch seitens der Antragsgegnerin sei ihr keine Möglichkeit einer Vermietung angetragen worden. Die Antragsgegnerin habe auch nicht gerügt, dass die Übersendung von „Screenshots“ keinen geeigneten Nachweis für die Suche nach anderweitigem Obdach darstelle. Die Antragstellerin habe einen Anspruch auf Einweisung in eine Notunterkunft, da das Gericht unter summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage davon ausgehe, dass es ihr auch unter Ausschöpfung aller ihr zu Gebote stehenden zumutbaren Eigenmaßnahmen nicht möglich sei, eine auch nur vorübergehende Unterkunft zu erlangen. Da sie Bürgergeld in Höhe von 502 Euro zzgl. der Kosten für Strom und Heizung monatlich beziehe, sei es ihr wohl nicht möglich, einen ihrem Budget entsprechenden Wohnraum anzumieten. Dies ergebe sich aus den vorgelegten Anschreiben an Wohnungsinserenten und aus deren Absagen. Ohne die einstweilige Anordnung drohten ihr vor allem bei den derzeitigen kalten Temperaturen und einer Verschlechterung der Witterungssituation in den kommenden Herbsttagen bzw. -nächten gesundheitliche Schäden.
4
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin.
5
Die Antragstellerin tritt der Beschwerde entgegen. Zugleich beantragt sie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren.
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Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
II.
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1. Die Beschwerde der Antragsgegnerin, die der Senat anhand der fristgerecht dargelegten Gründe überprüft (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat dem Eilantrag zu Recht stattgegeben.
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a) Zur Begründung ihrer Beschwerde trägt die Antragsgegnerin vor, das Verwaltungsgericht habe über den Eilantrag ohne vorherige Zustellung und Anhörung der Antragsgegnerin entschieden und damit deren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt; schon wegen dieses Verfahrensverstoßes sei die Entscheidung aufzuheben. Die Antragstellerin habe keinen Anspruch auf vorläufige Zuweisung von Wohnraum. Eine von Obdachlosigkeit betroffene Person müsse gegebenenfalls auch Unterkünfte in weiterer Entfernung akzeptieren. Durch die erstmalige Zuweisung einer Obdachlosenunterkunft mit Bescheid vom 14. Oktober 2019 sei die Antragsgegnerin ihrer Pflicht zur Abwendung einer etwaigen Obdachlosigkeit nachgekommen; nach der ersten Abwendung der Obdachlosigkeit bestehe kein Anspruch auf weitere Zuweisung einer Unterkunft. Die Antragstellerin sei derzeit weder obdachlos noch von Obdachlosigkeit bedroht; sie sei vielmehr auf die vorrangige Obliegenheit zur Selbsthilfe zu verweisen. Ihr stünden ausreichende eigene Mittel in Form von Sozialleistungen (Bürgergeld, Mietkosten inklusive Betriebs- und Heizkosten) zur Verfügung. Es sei ihr durchaus möglich, im Rahmen dieses Budgets Wohnraum zu finden. Aus welchen Gründen die unstreitig vorhandenen umfangreichen Wohnungsangebote gerade von der Antragstellerin bzw. von den eintrittspflichtigen Behörden nicht finanziert werden könnten oder würden, sei nicht erkennbar. Es sei ihr uneingeschränkt möglich, ein eigenes Obdach (z. B. Pensionszimmer o. ä.) anzumieten; entsprechende Angebote seien über einschlägige Plattformen oder über die Internetpräsenzen von Pensionen, Hotels o.ä. abrufbar. Die Übersendung von Screenshots belege noch nicht, dass sich die Antragstellerin erfolglos um Wohnraum bemüht habe. Sie behaupte unsubstantiiert und ohne Nachweise, auf unzählige Anfragen kein Wohnungsangebot erhalten zu haben; es sei nicht nachgewiesen, dass sie kein einziges Angebot erhalten habe. Durch den Vortrag der Antragsgegnerin in den anhängigen Gerichtsverfahren habe sie auch gewusst, dass die Übersendung von Screenshots als nicht ausreichend angesehen werde. Kostengünstige Unterkünfte hätten z.B. über die Plattform airbnb angemietet werden können.
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b) Dieses Vorbringen kann der Beschwerde nicht zum Erfolg verhelfen.
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aa) Es kann dahinstehen, ob angesichts der von der Antragstellerin bis zum 9. November 2023, 14:00 Uhr, zu erfüllenden und für sofort vollziehbar erklärten Räumungsverpflichtung ein Ausnahmefall vorlag, der eine umgehende Entscheidung des Verwaltungsgerichts über den am 8. November gestellten Eilantrag ohne vorherige Anhörung der Antragsgegnerin rechtfertigte. Denn selbst wenn insoweit ein Verfahrensverstoß des Gerichts vorliegen sollte, könnte dies wegen des Anspruchs der Antragstellerin auf effektiven vorläufigen Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG, § 123 VwGO) für sich genommen noch nicht zur Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung und zur Ablehnung des Eilantrags führen, wenn dieser in der Sache begründet war. Das war hier entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin der Fall.
11
bb) Da eine durch das Fehlen einer eigenen Wohnung entstandene Obdachlosigkeit einen die öffentliche Sicherheit und Ordnung störenden Dauerzustand darstellt, bleibt die gemäß Art. 6 LStVG zuständige Gemeinde solange für die Gefahrenabwehr verantwortlich, wie sich die betreffende Person in ihrem Ortsgebiet aufhält. Die Antragsgegnerin kann sich daher nicht darauf berufen, durch die erstmalige Zuweisung einer Obdachlosenunterkunft im Jahr 2019 ihrer gesetzlichen Pflicht gegenüber der Antragstellerin bereits abschließend nachgekommen zu sein.
12
cc) Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass dem Unterbringungsersuchen der Antragstellerin nach den im Eilverfahren erkennbaren Umständen nicht der Vorrang der Selbsthilfe entgegensteht.
13
Aus der Tatsache, dass bedürftigen Personen ein sozialgesetzlicher Anspruch auf Zahlung von Bürgergeld und auf Übernahme der Mietkosten einschließlich der Strom- und Heizkosten zusteht, um ihnen eine menschenwürdige Unterkunft zu ermöglichen, folgt nicht, dass ein Obdachloser stets auf diese Sozialleistungen verwiesen werden könnte und die zuständige Gemeinde im Übrigen untätig bleiben dürfte. Über die reine Finanzierungsfrage hinaus muss es dem Betreffenden vielmehr rechtlich und tatsächlich möglich sein, sich aus eigener Kraft eine den wohnungsmäßigen Mindestanforderungen genügende Unterkunft zu verschaffen (BayVGH, B.v. 13.2.2014 – 4 CS 14.126 – juris Rn. 6). Es stellt dabei noch keine Verletzung der Selbsthilfeobliegenheit dar, wenn die Obdachlosigkeit auf einem früheren Eigenverschulden beruht, etwa wegen unzureichender aktiver Bemühungen um eine neue Wohnung (BayVGH, B.v. 7.5.2018 – 4 CE 18.965 – juris Rn. 13). Erst wenn von einer aktuell bestehenden Option der Beschaffung einer Unterkunft ohne sachlich nachvollziehbaren Grund kein Gebrauch gemacht wird, kann die dadurch eingetretene oder fortdauernde Obdachlosigkeit als „freiwillig“ angesehen werden, so dass die Behörde auf ein sicherheitsbehördliches Einschreiten verzichten kann (BayVGH, B.v. 27.10.2017 – 4 CE 17.1661 – juris Rn. 8).
14
Hiervon ausgehend kann der Antragstellerin nicht die lediglich abstrakt bestehende Möglichkeit entgegengehalten werden, sich auf dem freien Mietwohnungsmarkt unter Verweis auf die ihr zustehenden Sozialleistungsansprüche eine eigene Wohnung zu verschaffen. Ihr Anspruch auf Hilfe wäre vielmehr nur ausgeschlossen, wenn der seit Jahren bestehende Zustand der Obdachlosigkeit auf einer freiwilligen Entscheidung beruhen würde. Dafür bestehen jedoch nach bisherigem Erkenntnisstand keine ausreichenden Anhaltspunkte. Dass die Antragstellerin in der Vergangenheit konkrete, nach ihren persönlichen Umständen zumutbare Wohnungsangebote abgelehnt hätte, wird von der Antragsgegnerin nicht behauptet; diese hat ersichtlich auch keine eigenen Bemühungen um die Vermittlung einer geeigneten Wohnung im Stadtgebiet unternommen. Die von der Antragstellerin im Gerichtsverfahren vorgelegten Screenshots von Mietwohnungen, bei denen sie angefragt hat und zu denen es Ablehnungsschreiben der Vermieter gibt, belegen ihre anhaltenden Bemühungen um die Begründung eines regulären Mietverhältnisses. Von einem diesbezüglichen Eigeninteresse kann auch deshalb ausgegangen werden, weil die Antragsgegnerin für die derzeit zur Verfügung gestellte Notunterkunft als Kostenerstattung einen Betrag von 600 Euro monatlich verlangt, wodurch sich das der Antragstellerin verbleibende Bürgergeld nicht unbeträchtlich verringert.
15
Angesichts der allgemeinen Erfahrungstatsache, dass längst nicht auf alle Wohnungsanfragen ausdrückliche Ablehnungen erfolgen, kann die Antragsgegnerin von der Antragstellerin nicht den lückenlosen Nachweis verlangen, dass sämtliche ihrer Anfragen abgelehnt wurden. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin naheliegende Möglichkeiten, sich über geeignete Mietangebote zu informieren, ungenutzt gelassen hätte und damit die Fortdauer der Obdachlosigkeit sehenden Auges herbeigeführt hätte. Die von der Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang erwähnte Vermietungsagentur airbnb zielt vorrangig auf kurzzeitige Nutzungen und kann damit keinesfalls als besser geeignet oder als kostengünstiger angesehen werden als sonstige Internetplattformen.
16
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Entscheidung zum Streitwert aus § 47 i. V. m. § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
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3. Die Entscheidung über die Gewährung von Prozesskostenhilfe beruht auf § 166 VwGO i.V.m. § 114, § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO.
18
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).