Inhalt

VGH München, Beschluss v. 13.12.2023 – 24 ZB 23.50020
Titel:

Anspruch auf Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO bei überlangen Gerichtsverfahren – erfolgloser Antrag auf Zulassung der Berufung

Normenketten:
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 1, Art. 17 Abs. 1
AsylG § 78 Abs. 3
VwVfG § 40
Leitsätze:
1. Ob für Personen, die sich aufgrund eines überlangen Gerichtsverfahrens immer noch im Dublin-Verfahren befinden, ausnahmsweise von einer Ermessensreduzierung auf Null und somit von einem Anspruch auf Selbsteintritt auszugehen sei, ist auf den Einzelfall bezogen und kann nicht grundsätzlich geklärt werden. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Ermessensentscheidung hat entsprechend der nationalen Vorschriften zu erfolgen; das Verfahren und die Entscheidung richtet sich nach den allgemeinen Gesetzen, mithin nach § 40 VwVfG. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren, lange Dauer des Gerichtsverfahrens (über 5 Jahre), Selbsteintritt, Ermessensreduzierung auf Null., Dauer des Gerichtsverfahrens, Selbsteintrittsrecht, Ermessensreduzierung auf Null, Rumänien
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 03.04.2023 – M 9 K 18.50363
Fundstelle:
BeckRS 2023, 37971

Tenor

I. Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid, mit dem sein Asylantrag als unzulässig abgelehnt worden ist, da nach der Dublin-III-Verordnung Rumänien zur Bearbeitung seines Asylbegehrens zuständig sei.
2
Er ist ägyptischer Staatangehöriger und reiste Ende 2017 mit einem Visum nach Rumänien. Am 5. Januar 2018 reiste er weiter in die Bundesrepublik Deutschland und beantragte am 8. Januar 2018 Asyl. Dem am 10. Januar 2018 gestellten Übernahmeersuchen stimmte Rumänien mit Schreiben vom 23. Januar 2018 zu.
3
Mit Bescheid vom 26. Januar 2018 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Rumänien an (Nr. 3) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 12 Monate (Nr. 4).
4
Das Verwaltungsgericht München ordnete mit Beschluss vom 23. Februar 2018 (M 22 S 18.50364) die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 26. Januar 2018 an.
5
Mit Urteil vom 3. April 2023 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Rumänien sei für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig. Die Überstellungsfrist sei noch nicht abgelaufen, da der Klage aufschiebende Wirkung zukomme. Systemische Mängel seien weder bei der Durchführung von Asylverfahren noch hinsichtlich des Aufnahmesystems in Rumänien festzustellen. Zielstaats- oder inlandsbezogene Abschiebungshindernisse sowie Gründe für einen Selbsteintritt der Beklagten seien nicht ersichtlich. Die lange Verfahrensdauer und die gute Integration des Klägers führten nicht zu einer Pflicht zum Selbsteintritt.
6
Dagegen wendet sich der Kläger mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung. Er macht geltend, es sei grundsätzlich zu klären, ob für Personen wie ihn, die sich bereits seit einigen Jahren in Deutschland aufhalten und sich aufgrund eines überlangen Gerichtsverfahrens (hier 5 Jahre und 7 Monate) immer noch im Dublin-Verfahren befinden, ausnahmsweise von einer Ermessensreduzierung auf Null und somit von einem Anspruch auf Selbsteintritt der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszugehen sei. Ein derart langes Dublin-Verfahren verletze den Kläger in seinem Recht aus Art. 18 GRCh und widerspreche dem Beschleunigungsgebot. Durch die kurzen Fristen im Dublin-Verfahren solle verhindert werden, dass sich Personen, die in einen anderen EU-Mitgliedsstaat überstellt werden sollen, in dem nicht-zuständigen Mitgliedsstaat integrieren und „niederlassen“. Dies sei aber im Falle des Klägers geschehen.
7
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen sowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
8
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, denn keiner der in § 78 Abs. 3 AsylG genannten Berufungszulassungsgründe ist hinreichend dargelegt (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG).
9
1. Die Berufung ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zuzulassen. Zur Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung ist erforderlich, dass eine konkrete Tatsachen- oder Rechtsfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und klärungsfähig, insbesondere entscheidungserheblich, ist; ferner, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 72; Seeger in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.10.2023, § 78 AsylG Rn. 18 ff.).
10
Die vom Kläger formulierte Frage, ob für Personen wie ihn, die sich aufgrund eines überlangen Gerichtsverfahrens immer noch im Dublin-Verfahren befinden, ausnahmsweise von einer Ermessensreduzierung auf Null und somit von einem Anspruch auf Selbsteintritt auszugehen sei, ist auf den Einzelfall bezogen und kann nicht grundsätzlich geklärt werden. Darüber hinaus ist auch nicht grundsätzlich klärungsbedürftig, wie das Ermessens im Rahmen des Art. 17 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-VO, ABl EG Nr. L 180, S. 31) auszuüben ist und unter welchen Voraussetzungen eine Ermessensreduzierung auf Null in Betracht kommt.
11
2. Aus dem Wortlaut des Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO geht hervor, dass diese Bestimmung, indem sie es jedem Mitgliedstaat ermöglicht, sich aufgrund politischer, humanitärer oder praktischer Erwägungen zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz bereit zu erklären, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht zuständig ist, die Prärogativen der Mitgliedstaaten bei der Ausübung des Rechts auf Gewährung internationalen Schutzes wahren soll. Dabei ist die Ausübung dieser Befugnis im Übrigen an keine besondere Bedingung geknüpft. Es ist daher Sache des betreffenden Mitgliedstaats, angesichts des Umfangs des durch die Dublin-III-Verordnung gewährten Ermessens die Umstände zu bestimmen, unter denen er von der Befugnis, die durch Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO eingeräumt wird, Gebrauch machen möchte, und zu beschließen, einen Antrag auf internationalen Schutz, für den er nach den in der Verordnung festgelegten Kriterien nicht zuständig ist, selbst zu prüfen (EuGH, U.v. 16.2.2023 – C-745/21 – juris Rn. 50; U.v. 23.1.2019 – C-661/17 – juris Rn. 58 bis 60 sowie 71; Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung, 2014, Art. 17 K2).
12
Die Ermessensentscheidung hat entsprechend der nationalen Vorschriften zu erfolgen. Nachdem im Asylgesetz keine Vorgaben enthalten sind, wie bei einer solchen Entscheidung vorzugehen ist, richtet sich das Verfahren und die Entscheidung nach den allgemeinen Gesetzen, mithin nach § 40 VwVfG. Danach ist das Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Eine Ermessensreduzierung auf Null kommt dabei nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen in Betracht (vgl. z.B. Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 10. Aufl. 2023, § 40 Rn. 102b ff.). Einen diesbezüglichen grundsätzlichen Klärungsbedarf zeigt die Antragsbegründung nicht auf.
13
3. Zweck des Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO ist es, den Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu geben, abweichend von Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-VO die Zuständigkeit für die Durchführung eines Asylverfahrens aus humanitären Gründen oder in Härtefällen, insbesondere um Familienangehörige, Verwandte oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, an sich zu ziehen (17. Erwägungsgrund zur Dublin-III-VO). Dabei können zum einen Härtefälle in der Person des Asylantragstellers oder auch eine Überlastung des Asylsystems in einem Mitgliedstaat zum Selbsteintritt führen (vgl. EuGH, U.v. 26.7.2017 – C-646/16 – juris Rn. 100; Hruschka in Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 18 Rn. 185).
14
Zweck der Dublin-III-Verordnung insgesamt ist es, in einem einheitlichen Verfahren möglichst schnell den für ein Asylverfahren zuständigen Mitgliedstaat zu ermitteln und das Verfahren dort durchzuführen. Deshalb ist die Dublin-III-Verordnung geprägt von kurzen Fristen und straffen Verfahrensabläufen. Werden die Fristen nicht eingehalten, geht die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Gleichzeitig lässt die Verordnung aber auch Raum, im Rahmen eines Gerichtsverfahrens (vgl. Art. 27 Dublin-III-VO) grundsätzliche Fragen zu klären und der betroffenen Person so lange den Aufenthalt zu ermöglichen (vgl. Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO). Weder der Dublin-III-Verordnung noch dem Asylgesetz kann eine Obergrenze für die Dauer eines Dublin-Verfahrens entnommen werden. Auch im Falle der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage durch das Verwaltungsgericht gemäß Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Dublin III-VO existiert keine Frist, nach deren Verstreichen die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat übergeht, der das Dublin-Verfahren durchführt. Wird die Klage, so wie hier, in erster Instanz abgewiesen, so endet die aufschiebende Wirkung nach § 80b Abs. 1 Satz 1 VwGO drei Monate nach Ablauf der gesetzlichen Begründungsfrist und die Fristen der Dublin-III-Verordnung beginnen wieder zu laufen.
15
4. In der Ermessensentscheidung nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO ist daher zwar zu berücksichtigen, dass die Dublin-III-Verordnung insgesamt auf Beschleunigung und kurze Entscheidungsfristen ausgelegt ist und ein Gerichtsverfahren im Rahmen einer Dublin-Entscheidung von über fünf Jahren, dem wohl nicht entspricht. Allerdings ist auch einzustellen, aus welchen Gründen das Gerichtsverfahren so lange gedauert hat. Hier haben weder die Beklagte noch der Kläger Tatsachen geschaffen, die zur Verzögerung geführt haben, sondern diese hatte ihre Ursache beim Verwaltungsgericht. Die kurzfristige zusätzliche Aussetzung der Vollziehung nach § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO durch das Bundesamt im Jahr 2020 wegen der Corona-Krise führte offensichtlich nicht zu einer Verzögerung des Verfahrens, sondern das Verfahren wurde vom Verwaltungsgericht in dieser Zeit nicht gefördert. Der Kläger hat auch nicht versucht, auf das Verwaltungsgericht einzuwirken, um eine schneller Entscheidung zu erreichen. So hat er weder darum gebeten, eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, noch die gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten ergriffen, sich gegen eine überlange Verfahrensdauer zur Wehr zu setzen. Vielmehr hat er noch im Januar 2023 angeregt, das Verfahren für ein Jahr ruhend zu stellen, damit er die erforderlichen Voraufenthaltszeiten für ein Aufenthaltsrecht nach § 25b AufenthG erreicht. Alleine die für die Abschiebung zuständige Zentrale Ausländerbehörde Niederbayern hat sich Ende 2021 und im März 2022 beim Verwaltungsgericht erkundigt, wann mit einer Entscheidung gerechnet werden könne.
16
Darüber hinaus sind in der Ermessensentscheidung auch die persönlichen Umstände zu berücksichtigen. Dabei fällt zum Beispiel ins Gewicht, ob es sich beim Kläger oder der Klägerin um eine minderjährige oder anderweitig vulnerable Person handelt (vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung, Art. 17 K6; vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 24).
17
Dass der Betreffende sich angesichts des langen Zeitablaufs in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland integriert hat, kann zwar grundsätzlich, insbesondere bei Kindern, auch Berücksichtigung finden, führt aber nicht ohne Weiteres zu einer Ermessensreduzierung auf Null. Insbesondere bei Erwachsenen ist dieser Umstand im Allgemeinen auch kein besonders gewichtiger Aspekt, sondern zeigt im Grunde nur, dass der Betreffende in der Lage ist, sich in neue Lebensverhältnisse einzufügen, was ihm dann wohl auch in dem nach der Dublin-III-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat gelingen wird, sollte er dort internationalen Schutz erhalten.
18
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
19
6. Dieser Beschluss, mit dem das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG), ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).