Inhalt

VGH München, Beschluss v. 08.12.2023 – 15 ZB 23.1600
Titel:

Erfolglose Nachbarklage auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen Nutzung einer Dachterasse

Normenkette:
BayBO Art. 76 S. 1, S. 2
Leitsatz:
Der Bestandsschutz erfasst auch notwendige Maßnahmen zur Erhaltung eines Gebäudes, wie insbesondere Instandsetzungs- und Renovierungsmaßnahmen. Eine Pflicht zur Ausnutzung einer Baugenehmigung kennt das Baurecht nicht. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage auf bauaufsichtliches Einschreiten, Errichtung einer Dachterrasse auf grenzständiger Garage, Verwirkung, Berechnung der Wohn- und Nutzflächen nach DIN 283, Bestandsschutz
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 08.03.2023 – RN 6 K 21.603
Fundstellen:
BayVBl 2024, 451
BeckRS 2023, 37956
LSK 2023, 37956

Tenor

I. Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 8. März 2023 – RN 6 K 21.603 – wird abgelehnt.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 7.500,00 € festgesetzt.

Gründe

1
Die Klägerin begehrt bauaufsichtliches Einschreiten im Hinblick auf die Nutzung der zu ihrem Grundstück hin grenzbebauten Garage mit Flachdach als Terrasse mit Zugang zum Gebäude.
2
In den Akten befinden sich vom Verwaltungsgericht Regensburg angeforderte Unterlagen des Staatsarchivs Landshut und weitere Unterlagen, die von den Beteiligten vorgelegt wurden (u.a. Schriftsatz der Klägerin vom 18. Juni 2021 mit Anlagen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren), wonach am 21. September 1962 der Neubau eines Wohnhauses mit Garagen aufgrund des Bauplans vom 18. August 1962 genehmigt wurde (Az.: 1225/1962). Unter dem Aktenzeichen 1422/1964 wurde eine Genehmigung für den bestehenden Dachgeschossausbau erteilt.
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Mit Bescheid des Beklagten vom 10. März 2021 wurde der Klägerin mitgeteilt, dass sich aus den vom Staatsarchiv angeforderten Genehmigungsunterlagen von 1964 ergebe, dass die grenzständige Dachterrasse über den Garagen bereits dargestellt und genehmigt worden sei. Da die Terrasse mehr als 50 Jahre bestehe, seien einem Anspruch auf bauaufsichtlichem Einschreiten Verwirkungsgesichtspunkte entgegenzuhalten.
4
Mit streitgegenständlichem Urteil vom 8. März 2023 wies das Verwaltungsgericht die gegen den Bescheid vom 10. März 2021 erhobene Klage ab. Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, dass der Kläger keinen Rechtsanspruch auf das begehrte bauaufsichtliche Einschreiten habe, weil zwar einiges dafür spreche, dass die Dachterrasse und ihre Nutzung sowie die Umwehrung formell und materiell baurechtswidrig seien und die Eingriffsvoraussetzungen des Art. 76 BayBO vorlägen, aber die Klägerin sich auf den nachbarlichen Schutzanspruch auf bauordnungsrechtliches Einschreiten aufgrund materieller Verwirkung nicht berufen könne. Die Klägerin habe seit ihrem Erwerb im Jahr 2000 ihr Recht nicht geltend gemacht. Dies gelte auch für ihre Rechtsvorgänger.
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Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung, dem der Beklagte und die Beigeladenen entgegentreten. Sie führt aus, weder das vom Verwaltungsgericht vorausgesetzte Zeit- noch das Umstandsmoment für eine Verwirkung lägen vor. Es sei kein Vertrauenstatbestand geschaffen worden. Selbst wenn jedoch zu Recht eine Verwirkung angenommen worden sei, wäre der Beklagte von Amts wegen verpflichtet gewesen, aus sicherheitsrechtlichen Gründen einzuschreiten, da auf der Dachterrasse Grillabende am offenen Feuer stattgefunden hätten und durch Funkenflug der benachbarte Wald und das Grundstück der Klägerin gefährdet werde.
6
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in beiden Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
7
Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg. Die von der Klägerin geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegen nicht vor.
8
Ob ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestehen, ist im Wesentlichen anhand dessen zu beurteilen, was die Klägerin als Rechtsmittelführerin innerhalb offener Frist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) hat darlegen lassen (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO). Aus dem Zulassungsvorbringen ergeben sich solche Zweifel hier nicht.
9
Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis richtig ausgeführt, dass die Klage unbegründet ist, da der Klägerin weder ein Rechtsanspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten noch ein Anspruch auf erneute ermessensfehlerfreie Entscheidung zusteht. Anders als das Verwaltungsgericht ausführt, sind die Dachterrasse und ihre Nutzung sowie die Umwehrung jedoch nicht formell und materiell baurechtswidrig, vielmehr sind sie zumindest formell rechtmäßig, weshalb schon die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Rückbauanordnung bzw. Nutzungsuntersagung nach Art. 76 Satz 1 und Satz 2 BayBO nicht vorliegen. Ob die Dachterrasse und ihre Nutzung sowie die Umwehrung materiell rechtmäßig sind und ob eine Verwirkung des nachbarlichen Schutzanspruchs auf bauaufsichtliches Einschreiten vorliegt oder nicht, kann daher offen bleiben.
10
Die Dachterrasse und ihre Nutzung sowie die Umwehrung wurden nach den in den Akten befindlichen Plänen vom 18. August 1962 mit Baugenehmigung vom 21. September 1962 (Neubau eines Wohnhauses mit Garagen) genehmigt. Dass weder der Balkon noch die Terrasse über der Garage als solche in den Plänen namentlich bezeichnet wurden, ändert nichts daran, dass sich aus den Plänen insbesondere des Erdgeschosses mit den eingezeichneten Räumen (Kind, Bad, Eltern, WC, Kochen, Gast, Diele, Wohnen) ergibt, dass jeweils eine Tür aus dem Raum Kochen und dem Raum Gast auf diese Terrasse so wie eine Tür von der Diele auf den südlichen Balkon führten. In den Gründen (baurechtlich) ist ausgeführt: „Das Vorhaben ist nach §§ 6 Abs. 1 BayBO u. 54 RGaO genehmigungspflichtig. Gegen die Erteilung der Genehmigung bestehen keine öffentlich-rechtlichen Bedenken. Mit Rücksicht auf das Gemeinwohl war es geboten, die Genehmigung von den Bedingungen und Auflagen in den Ziffern A 1 – 30 und B 1 – 11 abhängig zu machen.“ Dass der Balkon und die Terrasse mitgenehmigt werden sollten, ergibt sich demnach aus Ziffer A 28 des vom Kreisbaumeister am 20. September 1962 unterzeichneten Teils der Baugenehmigung. Darin wurde angeordnet: „Für die Geländer des Balkons u. der Terrasse dürfen keine grellfarbenen Kunststofferzeugnisse verwendet werden.“ Dass für den Balkon und die Terrasse im Erdgeschoss auf der Garage ein Geländer vorgesehen wurde, war auch als Absturzsicherung folgerichtig, andernfalls wäre eine Genehmigung nicht in Betracht gekommen. Demnach war es auch folgerichtig, dass in den Plänen auf der Garage eine Terrasse mit einer Umwehrung mit einem Sonnenschirm eingezeichnet wurde, da diese Fläche aufgrund der Baugenehmigung zum Sonnenbaden o.ä. bis zur Nachbargrundstücksgrenze genutzt werden sollte und durfte. Daher ist der Vortrag der Beigeladenen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, dass die Terrasse von allen Vorbesitzern und Vormietern genutzt wurde, schlüssig.
11
Auch aus den von der Klägerin mit Schriftsatz vom 18. Juni 2021 im verwaltungsgerichtlichen Verfahren als Anlage 1 vorgelegten Plänen vom 18. August 1964 ergibt sich nichts Anderes. Mit dem Bauantrag von 1964 wurde nicht der Neubau des Wohnhauses, sondern die Genehmigung des bestehenden Dachausbaus beantragt, was u.a. durch Blatt 4 der Anlage 1 durch die Auflage 3 belegt wird: „Die Wohnräume im Dachgeschoss müssen Art. 61 Abs. 2 Ziffer 1 BayBO entsprechen“. Zudem sind auf Blatt 7 der Anlage 1 die Treppe bis zum Dachgeschoss sowie Trennmauern und eine Tür im Dachgeschoss ersichtlich. Diese Trennmauern im Dachgeschoss fehlen auf den Plänen von 1962. Auch auf den zum Bauantrag von 1964 gehörenden Plänen sind die Türen im Raum Kochen und Raum Gast auf die Terrasse sowie in der Diele auf den Balkon eingezeichnet (Bl. 3 der Anlage 1). Der bereits 1962 genehmigte Balkon und die bereits 1962 genehmigte Terrasse wurden auf diesem Plan dargestellt, aber ebenso wie auf dem Plan von 1962 nicht namentlich bezeichnet. Dass die Fläche der Terrasse, anders die des Balkons, nicht bei der Wohn- bzw. Nutzflächenberechnung von 1964 nach der DIN 283 (1950) berücksichtigt wurde (Blatt 6 der Anlage 1), erklärt sich daraus, dass nach der 1962 geltenden DIN 283 unter Ziffer 2.24 geregelt war, dass die Grundflächen von nichtgedeckten Terrassen und Freisitzen nicht mitzurechnen waren. Die Grundflächen der Balkone hingegen waren nach Ziffer 2.23 zu ¼, wie hier 1964 geschehen, hinzuzurechnen.
12
Selbst wenn der Vortrag der Klägerin zutreffen sollte, dass zum Zeitpunkt ihres Erwerbs des Grundstücks im Jahr 2000 auf dem streitgegenständlichen Grundstück eine Nutzung der Dachterrasse nicht wahrgenommen worden sei, da eine ältere Dame dort gewohnt habe und dass die Dachterrasse 2012/2013 saniert worden sei, wurde damit nicht substantiiert dargelegt, dass durch eine endgültige Nutzungsaufgabe bzw. eine Sanierung der Bestandsschutz erloschen sein könnte. Zum einen erfasst der Bestandsschutz auch notwendige Maßnahmen zur Erhaltung des Gebäudes, wie insbesondere Instandsetzungs- und Renovierungsmaßnahmen, zum anderen kennt das Baurecht keine Pflicht zur Ausnutzung einer Baugenehmigung (Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand Mai 2023, § 35 Rn. 179 ff.).
13
Selbst wenn der Vortrag der Klägerin zutreffen sollte, dass die Dachterrasse für Grillabende mit offenem Feuer genutzt wird und dadurch Sicherheitsbedenken bestehen könnten, könnte der Beklagte allenfalls, wie die Beigeladenen zu Recht ausführen, eine Lagerfeuernutzung untersagen, aber nicht die Nutzung der Dachterrasse an sich.
14
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, dass die Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen trägt, weil diese einen Sachantrag gestellt und sich damit einem Kostenrisiko ausgesetzt haben (vgl. § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO).
15
Die Streitwertfestsetzung für das Zulassungsverfahren beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Sie folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
16
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Entscheidung wird das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO).