Inhalt

VGH München, Beschluss v. 19.12.2023 – 10 ZB 23.2152
Titel:

Erfolgloser Berufungszulassungsantrag wegen Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt

Normenketten:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, § 124a Abs. 4 S. 4
FreizügG/EU § 6 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3
Leitsätze:
1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung einer Verlustfeststellung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei einer auf spezialpräventive Gründe zu stützenden Verlustfeststellung hat das Verwaltungsgericht eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen, wobei die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen sind. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
3. Auch wenn straf- oder strafvollstreckungsgerichtlichen Entscheidungen über die Aussetzung der (Rest-)Freiheitsstrafe bzw. Maßregel eine Indizwirkung im Hinblick auf eine Wiederholungsgefahr zukommt, sind die Verwaltungsgerichte weder an diese Entscheidungen noch die diesen Entscheidungen zugrundeliegenden Prognosen gebunden. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt, Wiederholungsgefahr, Ermessensentscheidung, Befristungsentscheidung, Berufungszulassungsantrag, Ausländerrecht, Italien, ernstliche Richtigkeitszweifel, Recht auf Einreise, Recht auf Aufenthalt, Darlegungserfordernis, Straftäter, Verhältnismäßigkeit, Prognose, Integration, Spezialprävention
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 12.09.2023 – M 4 K 20.628
Fundstelle:
BeckRS 2023, 37898

Tenor

I. Der Antrag Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

1
Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger, ein 1997 im Bundesgebiet geborener italienischer Staatsangehöriger, seine in erster Instanz erfolglose Anfechtungsklage gegen den Bescheid des Beklagten vom 3. Januar 2020, mit dem der Verlust des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet festgestellt, die Einreise und der Aufenthalt befristet für sieben Jahre untersagt sowie der Kläger zum Verlassen der Bundesrepublik Deutschland aufgefordert und ihm die Abschiebung nach Italien angedroht wurde, weiter.
2
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die geltend gemachten ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
3
Solche Zweifel bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Die von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO geforderte Darlegung dieses Zulassungsgrundes erfordert innerhalb der Zulassungsbegründungsfrist von zwei Monaten eine konkret fallbezogene und hinreichend substantiierte Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung; es muss dargelegt werden, dass und weshalb das Verwaltungsgericht entscheidungstragende Rechts- und Tatsachenfragen unrichtig entschieden hat (BavVGH, B.v. 29.4.2020 – 10 ZB 20.104 – juris Rn. 3), wobei „darlegen“ schon nach allgemeinem Sprachgebrauch mehr als lediglich einen allgemeinen Hinweis bedeutet; „etwas darlegen“ bedeutet vielmehr so viel wie „erläutern“, „erklären“ oder „näher auf etwas eingehen“ (BVerwG, B.v. 9.3.1993 – 3 B 105.92 – juris Rn. 3 m.w.N.). Diese Anforderungen verfehlt das Zulassungsvorbringen.
4
Das Verwaltungsgericht hat angenommen, die Verlustfeststellung sei rechtmäßig und verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Vom Kläger, der seit seiner Jugend immer wieder u.a. wegen Gewaltdelikten strafrechtlich belangt und zuletzt mit Urteil des Landgerichts München I vom 18. März 2019 wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Einheitsjugendstrafe von vier Jahren und drei Monaten sowie zur Unterbringung in einer Entziehungsanstalt verurteilt worden war, in der Haft siebzehnmal disziplinarisch belangt und nach der Strafrestaussetzung mit Beschluss des Amtsgericht München vom 30. Januar 2023 aufgrund seines Verhaltens unter Führungsaufsicht von der Bewährungshilfe als gefährlich und besonders überwachungsbedürftig eingestuft wurde, gehe nach wie vor eine Wiederholungsgefahr aus. Die Verlustfeststellung sei insbesondere auch verhältnismäßig und ermessenfehlerfrei erfolgt. Der Kläger sei zwar im Bundesgebiet geboren, eine nachhaltige Integration habe allerdings nicht stattgefunden. Spätestens mit der Inhaftierung im August 2016 seien die Integrationsbande abgerissen. Der Kläger kenne Italien von Besuchsaufenthalten und beherrsche auch die italienische Sprache zumindest auf alltäglichem Niveau, sodass er sich in die italienischen Lebensverhältnisse integrieren könne.
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Das Zulassungsvorbringen des Klägers zieht diese Erwägungen nicht durchgreifend in Zweifel.
6
a) Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung einer Verlustfeststellung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. hier Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH, U.v. 27.9.2022 – 10 B 22.263 – BeckRS 2022, 31549).
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b) Die Annahme des Verwaltungsgerichts, vom Kläger gehe eine erhebliche Wiederholungsgefahr aus, erweist sich auch zum maßgeblichen Zeitpunkt der Senatsentscheidung als zutreffend.
8
Bei einer auf spezialpräventive Gründe zu stützenden Verlustfeststellung (§ 6 Abs. 2 FreizügG/EU) hat das Verwaltungsgericht eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Dabei sind die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Umstände der Begehung der Straftat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (stRspr, siehe z.B. BayVGH, U.v. 21.5.2019 – 10 B 19.55 – juris Rn. 27). Der Stand einer eventuellen Therapie ist dabei genauso zu berücksichtigten wie die bisherige Führung des Betreffenden in der Haft. Maßgeblich ist aber in jedem Fall der aktuelle Stand zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Von einem Fortfall der Wiederholungsgefahr kann nicht ausgegangen werden, solange der Kläger nicht eine erforderliche Therapie erfolgreich abgeschlossen und – darüber hinaus – die damit verbundene Erwartung eines künftig straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 1.3.2019 – 10 ZB 18.2494 – juris Rn. 10).
9
Gemessen daran geht vom Kläger auch zum Zeitpunkt der Senatsentscheidung eine Wiederholungsgefahr aus. Das Zulassungsvorbringen rügt insofern zu Unrecht, dass sich das Verwaltungsgericht bei seiner Gefahrenprognose in Widerspruch zu den Annahmen des Amtsgerichts im Beschluss über die Strafaussetzung zur Bewährung gesetzt habe. Auch wenn straf- oder strafvollstreckungsgerichtlichen Entscheidungen über die Aussetzung der (Rest-)Freiheitsstrafe bzw. Maßregel eine Indizwirkung im Hinblick auf eine Wiederholungsgefahr zukommt, sind die Verwaltungsgerichte weder an diese Entscheidungen noch die diesen Entscheidungen zugrundeliegenden Prognosen gebunden (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 21; BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Abgesehen davon, dass das Amtsgericht vorliegend selbst eine fünfjährige Führungsaufsicht mit Auflagen zur Alkohol- und Drogenabstinenz festgesetzt hat und damit selbst zum Ausdruck gebracht hat, dass der Kläger noch längere Zeit einer engmaschigen Führungsaufsicht bedarf, hat das Verwaltungsgericht seiner Gefahrenprognose auch Umstände zugrunde gelegt, die das Amtsgericht nicht berücksichtigen konnte, nämlich den aufgrund mehrfacher Verstöße gegen Bewährungsauflagen deutlich irregulären Verlauf der Führungsaufsicht beim Kläger, der dazu geführt hat, dass die Bewährungshilfe selbst davon ausgeht, dass der Kläger nach wie vor gefährlich ist und der besonderen Überwachung bedarf. Damit setzt sich das Zulassungsvorbringen nicht auseinander. Soweit es darauf hinweist, dass das (allgemeine) einschlägige Rückfallrisiko bei wegen eines Tötungsdelikts verurteilten Personen niedrig, bei wegen Körperverletzung verurteilten Personen moderat sei, kann der Senat nicht erkennen, inwiefern dies die konkrete Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts ernstlich in Zweifel ziehen soll. Im Übrigen sind an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, U.v. 4.12.2023 – 10 B 23.965 Rn. 28 noch nicht veröffentlicht; U.v. 12.4.2021 – 10 B 19.1716 – juris Rn. 64; U.v. 12.10.2020 – 10 B 20.1795 – juris Rn. 28; U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18).
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c) Die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Kläger könne sich nicht auf den besonderen Schutz des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU berufen, weil spätestens die Inhaftierung im August 2016 den Integrationszusammenhang unterbrochen habe, wird mit dem Zulassungsvorbringen nicht durchgreifend in Zweifel gezogen. Entgegen der Behauptung im Zulassungsantrag hat das Verwaltungsgericht sehr wohl die für diese Einschätzung maßgeblichen Kriterien (vgl. dazu zuletzt BayVGH, B.v. 19.10.2022 – 10 ZB 22.2042 – juris Rn. 6) – insbesondere Geburt, Aufwachsen, Schulbesuch und seine familiären Bindungen im Bundesgebiet – ausreichend berücksichtigt und gewürdigt (Rn. 76 des UA). Es ist vielmehr das Zulassungsvorbringen, dass sich nicht in der von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO gebotenen Weise mit diesen Ausführungen auseinandersetzt. Allein der (nicht näher erläuterte) Umstand, dass der Kläger, der bereits vor seiner Verhaftung im August 2016 wegen mehreren Gewaltdelikten (jugend-)strafrechtlich belangt worden war, zum Zeitpunkt der Verlustfeststellung von seinen Eltern und seiner deutschen Lebensgefährtin in der Haft besucht worden war, musste das Verwaltungsgericht jedenfalls nicht veranlassen, von einem Fortbestehen der ohnehin nur schwach ausgeprägten Integrationsbande auszugehen.
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d) Soweit der Kläger behauptet, die von der Beklagten nach § 6 Abs. 1 und Abs. 3 FreizügG/EU zu treffende Ermessensentscheidung (vgl. BayVGH, B.v. 2.8.2012 – 10 ZB 11.2751 – juris Rn. 4) sei nicht rechtmäßig ergangen, genügen seine knappen Ausführungen erneut nicht dem Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO. Er wiederholt insoweit im Wesentlichen seinen erstinstanzlichen Vortrag und setzt seine Auffassung von einer ermessensfehlerfreien Entscheidung an die des Beklagten und des Verwaltungsgerichts, ohne Ermessenfehler des Beklagten oder ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung bei der Überprüfung dieser Ermessensentscheidung konkret aufzuzeigen.
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e) Das Zulassungsvorbringen zieht auch die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Befristungsentscheidung des Beklagten nach § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU nicht ernstlich in Zweifel.
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Die Befristungsentscheidung ist auf der Grundlage der aktuellen Tatsachengrundlage und unter Würdigung des Verhaltens des Betroffenen nach der Verlustfeststellung zu treffen (BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18.14 – juris Rn. 31 m.w.N.). Dabei ist in einem ersten Schritt eine an dem Gewicht des Grundes für die Verlustfeststellung sowie dem mit der Maßnahme verfolgten spezialpräventiven Zweck orientierte äußerste Frist zu bestimmen. Hierzu bedarf es der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Verlustfeststellung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr mit Blick auf die im vorliegenden Fall bedeutsame Gefahrenschwelle des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU zu tragen vermag (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18.14 – juris Rn. 35; VGH BW, U.v. 15.2.2017 – 11 S 983/16 – juris Rn. 36). Die im Hinblick auf die zur Gefahrenabwehr als erforderlich angesehene Sperrfrist ist einem zweiten Schritt unter Berücksichtigung schützenswerter Interessen des Klägers zu ermitteln und zu gewichten (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18.14 – juris Rn. 37). Maßgebend ist die aktuelle Situation des Betroffenen (vgl. BayVGH, U.v. 29.1.2019 – 10 B 18.1094 – juris Rn. 51; B.v. 21.4.2016 – 10 ZB 14.2448 – juris Rn. 5 m.w.N.).
14
Gemessen daran zeigt das Zulassungsvorbringen nicht auf, dass die Annahme des Verwaltungsgerichts, eine Befristung auf sieben Jahre sei rechtmäßig, ernstlich zweifelhaft im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wäre. Allein der Vortrag, dass die letzte Straftat des Klägers sieben Jahre zurückliege, die Befristungsentscheidung vor über vier Jahren ergangen sei und dass das (allgemeine) einschlägige Rückfallrisiko bei wegen eines Tötungsdelikts verurteilten Personen niedrig sei, zeigt keine Ermessensfehler im konkreten Fall des Klägers auf. Angesichts seines Verhaltens im und nach dem Maßregelvollzug ist nicht erkennbar, dass sich zwischenzeitlich ermessensrelevante Gesichtspunkte ergeben hätten, die eine kürzere Befristung erforderlich gemacht hätten.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).