Titel:
rechtmäßige Ausweisung wegen schwerwiegender Straftaten aus dem Bereich der Betäubungsmittelkriminalität
Normenkette:
AufenthG § 53 Abs. 1, § 54 Abs. 1 Nr. 1 , Nr. 1b, § 55 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2
Leitsätze:
1. Von einem weiteren Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen hat, kann auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
2. Als „faktischer Inländer“ ohne deutsche Staatsangehörigkeit kann bezeichnet werden, wer sich persönlich, wirtschaftlich und sozial in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert hat, mithin hier verwurzelt ist, und dem wegen der Besonderheiten seines Falles ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug (mehr) hat, nicht zugemutet werden kann. (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Verurteilung wegen schwerwiegender Straftaten aus dem Bereich der Betäubungsmittelkriminalität, Gefahrenprognose, Generalprävention, Verhältnismäßigkeit, faktischer Inländer, Betäubungsmitteldelikte, besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse, generalpräventive Gründe
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 26.01.2023 – M 12 K 21.5614
Rechtsmittelinstanz:
BVerwG Leipzig, Beschluss vom 11.12.2024 – 1 B 13.24
Fundstelle:
BeckRS 2023, 37892
Tenor
I. Die Berufung wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.
IV. Die Revision wird nicht zuglassen.
Tatbestand
1
Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen seine Ausweisung aus dem Bundesgebiet weiter.
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Der am ... 1997 in München geborene Kläger ist serbischer Staatsangehöriger und gehört der ruthenischen Minderheit an. Im Bundesgebiet leben seine Mutter, sein Vater, sein Stiefvater, eine Großmutter und eine Tante. Am 28. Mai 2013 wurde ihm eine Niederlassungserlaubnis erteilt. Der Kläger besuchte bis zur 11. Klasse das Gymnasium. Anschließend begann er eine Ausbildung als KFZ-Mechatroniker, die er nach drei Wochen abbrach. Er besuchte anschließend erneut das Gymnasium, wurde aber vor Erreichen des Abiturs entlassen. Danach übte er verschiedene Tätigkeiten aus, u.a. als Kellner.
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Im Alter von 14 Jahren hatte der Kläger erstmals Kontakt zu Marihuana. Ab dem Alter von 18 Jahren konsumierte er Kokain. Bis zu seiner Inhaftierung im Dezember 2019 konsumierte er mit Pausen von zwei bis drei Wochen durchschnittlich 5 g Kokain wöchentlich. Seinen Lebensunterhalt verdiente der Kläger ab dem Jahr 2017 vorwiegend durch den An- und Verkauf von Kokain und Marihuana. Hierdurch erzielte er Einnahmen von bis zu 5.000 EUR monatlich, die zu wesentlichen Teilen für den eigenen Betäubungsmittelkonsum, vorwiegend Kokain, gelegentlich Marihuana, verwendet wurden. Bei den Verkaufsgeschäften führte er stets einen Schraubenzieher, eine Schere oder sonstige Gegenstände, die zur Verletzung von Personen geeignet sind, mit sich, um diese bei Bedarf gegen seine Geschäftspartner einsetzen, diese verletzen und seine Betäubungsmittelvorräte verteidigen zu können.
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Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 3. Februar 2021 wurde der Kläger wegen bewaffneten unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 4 Monaten verurteilt und die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Dem lag zu Grunde, dass der Kläger kurz vor oder im Dezember 2019 von einem unbekannten Verkäufer 500 g Marihuana, mindestens 12,38 g Kokain und mindestens 12,85 g des Streckungsmittels Mannitol, welches der Kläger irrtümlich für Kokain hielt, erworben und bis zu seiner Festnahme am 23. Dezember 2023 verkauft hatte bzw. verkaufen wollte. Bei einer der Übergaben hatte er den Käufer bei einem Gerangel mit einem Schraubenzieher in den Kopf gestochen, so dass dieser auf nicht absehbare Zeit ins Wachkoma fiel. Eine Anklage erfolgte insofern nicht, weil eine Notwehrsituation nicht ausgeschlossen werden konnte. Bei der Strafzumessung wurde das Vorliegen eines minder schweren Falls angenommen, da der Kläger von Anfang an geständig war, im Wesentlichen die sog. weiche Droge Marihuana betroffen gewesen und die nicht geringe Menge nicht erheblich überschritten worden sei. Weiter wurde zu seinen Gunsten u.a. berücksichtigt, dass er überschießend geständig gewesen sei und er im Wesentlichen zur Finanzierung seines eigenen noch nicht verfestigten Konsums aufgrund eigener Betäubungsmittelabhängigkeit gehandelt habe. Zu seinen Lasten wurde das professionelle Vorgehen und die hohe Gewaltbereitschaft berücksichtigt, sowie die Tatsache, dass er über einen längeren Zeitraum hinweg gewerbsmäßig gehandelt habe. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wurde wegen einer Abhängigkeit von Kokain angeordnet.
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Der Kläger befand sich vom 23. Dezember 2019 bis 10. Februar 2021 in Untersuchungshaft, vom 11. Februar 2021 bis 19. Mai 2021 in Strafhaft und anschließend in Unterbringung im kbo ...-Klinikum.
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Nach einer Stellungnahme des kbo ...-Klinikums vom 2. September 2021 arbeitete der Kläger am Behandlungsprogramm kooperativ mit. Ab dem 19. Juli 2021 sei er in der ersten Lockerungsstufe erprobt worden. Direkte positive Alkohol- und Drogenbefunde oder anderweitige Hinweise auf einen Rückfall habe es nicht gegeben. Der Kreatinin-Wert sei jedoch wiederholt erheblich reduziert gewesen, was der Kläger mit einer hohen täglichen Wassertrinkmenge aus gesundheitlichen Gründen erklärt habe. Ihm sei wiederholt erklärt worden, dass ein dauerhaft derartig hoher Flüssigkeitskonsum nicht gesundheitsförderlich sei und grundsätzlich in einer suchttherapeutischen Maßnahme den Verdacht des Vertuschens eines Drogenrückfalls auf sich ziehe. Dennoch habe der Kläger fast unverändert in diesem Maße weitergetrunken, sodass am 31. August 2021 die Erprobung der Lockerungen ausgesetzt worden sei. Die ebenfalls noch notwendige Bearbeitung des doch sehr gewalttätigen und folgenschweren Notwehrverhaltens habe bisher noch nicht begonnen werden können. Der Kläger erscheine therapie- und veränderungsmotiviert, generiere aber aufgrund seines Trinkverhaltens einen widersprüchlichen Eindruck, der aktuell noch nicht eingeschätzt werden könne. Es sei noch mit mindestens einem Jahr Therapiezeit zu rechnen.
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Im Anhörungsverfahren führte der Bevollmächtigte des Klägers mit Schreiben vom 17. September 2021 aus, der Kläger konsumiere seit seiner Verhaftung keine Betäubungsmittel mehr. Er wolle an seiner Bildung und anschließenden Berufschancen arbeiten. Seine Einstellung zu Arbeit habe sich grundlegend verändert. Zusätzlich mache er viel Sport und reflektiere sein bisheriges Verhalten. Der Kontakt zu seiner Familie, insbesondere zu dem Stiefvater und der Mutter, sei gut und gebe ihm Kraft und Orientierung. Seine Bindungen zum Heimatland seien lose. Ein Cousin lebe noch in Serbien, ansonsten habe er dort keine Kontakte. Die Sprache spreche er nur wenig. Es bestehe keine Wiederholungsgefahr mehr. Der Kläger sei zum Zeitpunkt des Urteils nicht vorbestraft gewesen. Die Haftzeit habe ihn beeindruckt und geprägt.
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Mit Bescheid vom 20. September 2021 wies der Beklagte den Kläger aus (Nr. 1) und ordnete die Abschiebung aus der Haft oder Unterbringung nach Serbien an (Nr. 2). Für den Fall der vorherigen Entlassung aus der Haft oder Unterbringung wurde er zur Ausreise aufgefordert, die Abschiebung nach Serbien angedroht (Nr. 3) und ein auf fünf Jahre befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen (Nr. 4). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, vom Aufenthalt des Klägers gehe eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus. Aufgrund seiner Straftaten bestehe ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse. Es sei damit zu rechnen, dass er in Zukunft erneut im Bereich der Betäubungsmitteldelikte straffällig werde. Eine Integration in die hiesigen Werteverhältnisse habe aufgrund der fortschreitenden Straffälligkeit trotz des langen Aufenthalts nicht stattgefunden. Positive Integrationsaspekte seien nicht feststellbar. Im Alter von 24 Jahren sei er in der Lage, sich in die in seinem Heimatland geltenden Werte- und Gesellschaftsverhältnisse einzugliedern, insbesondere verfüge er über die notwendigen Kenntnisse der serbischen Sprache. Seinem Reisepass lasse sich entnehmen, dass er sich in Serbien aufgehalten habe. Aufgrund seines Alters sei er dort nicht auf die Hilfe und Unterstützung etwaiger Familienangehöriger angewiesen. Er könne sich auch ohne Familienmitglieder in Serbien eine eigene Existenz aufbauen. Eine Obdachlosigkeit drohe nicht, da er bei seinem Cousin vorübergehend unterkommen könne und ggf. auch in der Anfangszeit in einem Hotel oder einer Pension wohnen könne. Im Rahmen einer Gesamtabwägung überwiege das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts.
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Hiergegen erhob der Kläger Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München.
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Mit Beschluss des Landgerichts Traunstein vom 20. Oktober 2022 wurde der Strafrest sowie die Unterbringung in der Entziehungsanstalt ab dem 24. Oktober 2022 zur Bewährung ausgesetzt. Für die Dauer von fünf Jahren wurde Führungsaufsicht angeordnet, dem Kläger wurde u.a. aufgegeben, sich regelmäßig zur ambulanten Nachsorge beim kbo ...-Klinikum einzufinden.
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Nach einem Bericht des kbo ...-Klinikums vom 13. Januar 2023 wurde der Kläger am 24. Oktober 2022 aus dem Maßregelvollzug zu seinen Eltern nach Hause entlassen. Seit seiner Entlassung werde er durch die forensische Sicherungsnachsorgeambulanz betreut. Derzeit fänden die Termine wöchentlich statt. Die Kontakthaltung verlaufe problemlos. Bei den Terminen habe er sich jeweils in einem psychisch stabilen Zustand befunden, es habe keine Anhaltspunkte für Drogenkonsum gegeben. Drogentests wären ohne Befund ausgefallen. Bei den Testungen aus Urin sei ein sehr niedriger Kreatinin-Wert auffällig gewesen. Dies sei mit dem Kläger besprochen worden. Der Kläger gehe einer sozialversicherungspflichtigen und vollschichtigen Arbeit nach. Bei den Hausbesuchen seien geordnete Verhältnisse vorgefunden worden. Ab Januar 2023 werde er in einer eigenen Wohnung in München wohnen. Aktuell sei ein positiver Behandlungsverlauf festzustellen.
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Mit Urteil vom 26. Januar 2023 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Vom Kläger gehe eine erhebliche Wiederholungsgefahr aus, da er sich noch nicht ausreichend lange in Freiheit bewährt habe. Auch generalpräventive Gesichtspunkte sprächen für die Ausweisung. Dem Kläger sei es trotzt seines langen Aufenthalts im Bundesgebiet zumutbar, sich in Serbien eine neue Existenz aufzubauen. Er verfüge über Serbischkenntnisse und habe mit einem Cousin eine erste Anlaufstelle. Auf die weiteren Entscheidungsgründe des Verwaltungsgerichts wird Bezug genommen.
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Zur Begründung seiner vom Senat mit Beschluss vom 26. Mai 2023 wegen eines Verfahrensfehlers des Verwaltungsgerichts zugelassenen Berufung trägt der Kläger im Wesentlichen vor, er seit seiner Verhaftung im Dezember 2019 drogenfrei. Er habe sich bereits während der Zeit der Unterbringung in verschiednen Lockungsstufen bewährt. Der Kontakt zu seiner Familie, insbesondere zu Stiefvater und Mutter, sei gut und gebe ihm Kraft und Orientierung. Die glaubhafte Distanzierung von der Sucht habe die Familie wieder zusammengebracht. Seit der Entlassung werde der Kläger durch die forensische Nachsorgeambulanz betreut, seit Januar 2023 fänden wöchentliche Termine statt. Verdachtsunabhängige Drogenscreenings hätten keinen Anhaltspunkt für Drogenkonsum ergeben. Bei Hausbesuchen seien immer geordnete Verhältnisse vorgefunden worden, weshalb die betreuenden Ärzte einen positiven Behandlungsverlauf festgestellt hätten. Der Kläger habe direkt nach der Entlassung eine Arbeit als Heizungs- und Sanitärhelfer aufgenommen. Aufgrund seiner guten Mitarbeit sei ihm eine Ausbildung zum Anlagenmechaniker angeboten worden. Die Berichte der Bewährungshilfe seien sehr positiv. Bei der Gefahrenprognose sei zu berücksichtigen, dass sich der Kläger einer erfolgreichen Therapie unterzogen und sich auch in Freiheit bewährt habe. Das Verwaltungsgericht habe insofern zu Unrecht auf den Zeitpunkt der formellen Entlassung abgestellt, eine solch schematische Betrachtungsweise sei unzulässig. Es hätten bereits die Lockerungsstufen in der Therapie berücksichtigt werden müssen. Auch die Abwägung der Bleibe- und Ausweisungsinteressen durch das Verwaltungsgericht sei fehlerhaft gewesen. Das Gericht hab die Bleibeinteressen zu gering und die Ausweisungsinteressen überbewertet. Der Kläger spreche Ruthenisch nur rudimentär, Serbisch gar nicht. Die wirtschaftliche und soziale Integration des Klägers sei unterbewertet worden.
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das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 26. Januar 2023 sowie den Bescheid des Beklagten vom 20. September 2021 aufzuheben.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Zu Begründung verweist er auf die Begründung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts.
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In einer vom Senat erbetenen Stellungnahme vom 12. Oktober 2023 führt die Bewährungshelferin des Klägers aus, die Führungsaufsicht des Klägers werde am 20. Oktober 2027 enden. Der Kläger sei im Kontaktverhalten bisher sehr zuverlässig. Es fänden monatliche Kontakte entweder persönlich oder telefonisch statt. In den Gesprächen berichte er ausführlich und offen über seine aktuelle Lebensführung, daneben würden die Suchtmittelabstinenz und die berufliche Orientierung thematisiert. Der Kläger könne diesbezüglich auf vorhandene Ressourcen zurückgreifen, zeige stets Eigeninitiative sowie Gewissenhaftigkeit und stehe Hilfsangeboten offen gegenüber. Er wohne alleine in der Wohnung seines Stiefvaters, von familiärer Seite erhalte er Rückhalt und Unterstützung, soziale Kontakte seien vorhanden. Seit September 2023 absolviere der Kläger eine Ausbildung zum Anlagenmechaniker und gehe am Wochenende einer Nebentätigkeit als Kellner nach. Er habe vor kurzem den Führerschein gemacht und kümmere sich eigenständig um bestehende Schulden. Der Kläger komme bisher allen Weisungen der Führungsaufsicht nach und distanziere sich – bestätigt durch regelmäßige Suchtmittelkontrollen – von Drogen und Alkohol. Der Kläger nehme regelmäßig Termine in der forensischen Ambulanz des ...-Klinikums wahr. Die Gespräche dort dienten zur Entwicklung eines eigenen Rückfallmanagements hinsichtlich der Suchtmittelabstinenz.
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Am 4. Dezember 2023 fand eine mündliche Verhandlung statt, in der die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten ausführliche erörtert wurde.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird Bezug genommen auf die Gerichts- und Behördenakten sowie auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet. Der angefochtene Ausweisungsbescheid des Beklagten vom 20. September 2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Gegenstand des Berufungsverfahrens im Hauptantrag ist das Anfechtungsbegehren (§ 42 Abs. 1 1. Alt. VwGO) auf Aufhebung der streitgegenständlichen Ausweisungsverfügung der Beklagten. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der angefochtenen Ausweisung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs (stRspr des BVerwG, vgl. U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 11; vgl. auch BayVGH, U.v. 27.10.2017 – 10 B 16.1252 – juris Rn. 25).
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2. Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig und verletzt ihn nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Die Ausweisung findet ihre Rechtsgrundlage im Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG. Danach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an seiner Ausreise mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
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a) Die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet ergibt sich sowohl aus spezialpräventiven als auch aus generalpräventiven Gründen.
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Anlass der Ausweisung ist das Urteil des Amtsgerichts München vom 3. Februar 2021, mit dem der Kläger wegen bewaffneten unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 4 Monaten verurteilt wurde. Damit hat der Kläger ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1b AufenthG verwirklicht. Die mit der Verwirklichung des genannten Ausweisungsinteresses indizierte Gefährdung öffentlicher Interessen im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG besteht auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Senats fort, weil eine Wiederholungsgefahr besteht und vom Kläger somit nach wie vor eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht.
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aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, U.v. 12.4.2021 – 10 B 19.1716 – juris Rn. 64; U.v. 12.10.2020 – 10 B 20.1795 – juris Rn. 28; U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18).
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Nach diesem Maßstab geht vom Kläger nach der Überzeugung des Senats aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens (§ 108 Abs. 1 VwGO) auch in Zukunft eine Wiederholungsgefahr aus.
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Der Kläger hat seit seiner Jugend Drogen konsumiert und die letzten beiden Jahre vor seiner Verhaftung seinen Lebensunterhalt mit bewaffnetem Drogenhandel bestritten wobei sich die Gefahren des Mitsichführens einer Waffe zuletzt – wenn auch nicht ausschließbar in einer Notwehrsituation – realisiert hat. Gegen ihn wurde eine für einen Ersttäter vergleichsweise hohe Freiheitsstrafe verhängt. Strafschärfend hat das Strafgericht dabei sowohl das professionelle Vorgehen als auch die hohe Gewaltbereitschaft des Klägers berücksichtigt.
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Der Senat verkennt zu Gunsten des Klägers nicht, dass er erstmalig verurteilt wurde sowie voll und überschießend geständig war. Auch spricht die mittlerweile erfolgreich abgeschlossene Maßregel der Sicherung und Besserung ebenso zu seinen Gunsten wie die erfolgreiche Bewältigung von Lockerungsstufen während des Maßregelvollzug. Dass sich der Kläger – soweit erkennbar – seither straffrei geführt hat und sämtliche Drogentests negativ ausgefallen sind, ist im Rahmen der Gefahrenprognose ebenfalls positiv zu werten (vgl. BVerwG, B.v. 21.2.2023 – 1 B 76.22 – juris Rn. 10). Allerdings hat er sich erst eine relativ kurze Zeit in Freiheit bewährt. Bei Straftaten, die – wie hier – auf einer Suchterkrankung beruhen oder dadurch gefördert wurden, kann von einem Wegfall der für die Ausweisung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogen-, Alkohol- oder sonst einschlägige Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat, insbesondere indem er sich außerhalb des Straf- oder Maßregelvollzugs bewährt hat (stRspr des Senats, siehe z.B. BayVGH, U.v. 12.4.2021 – 10 B 19.1716 – juris Rn. 73; U.v. 3.2.2015 – 10 B 14.1613 – juris Rn. 32). Diese Voraussetzungen sind vorliegend noch nicht erfüllt. Der Kläger hat den Maßregelvollzug erst im Oktober 2022 verlassen. Die Dauer der Führungsaufsicht hat das Amtsgericht auf fünf Jahre bemessen und insbesondere eine ambulante Nachbehandlung beauflagt. Die derzeitigen Gespräche im Rahmen der ambulanten Nachsorge dienen nach Mitteilung der Bewährungshilfe dabei noch der Entwicklung eines eigenen Rückfallmanagements hinsichtlich der Suchtmittelabstinenz. Angesichts dessen kann der Senat zwar eine Minderung der Wiederholungsgefahr erkennen. Dass der Kläger jedoch bereits so gefestigt wäre, dass ein Rückfall in alte Verhaltensmuster bereits ein Jahr und zwei Monate nach der Entlassung aus dem Maßregelvollzug hinreichend sicher ausgeschlossen werden könnte, ist jedoch nicht ersichtlich (für eine ähnliche Zeitspanne etwa BayVGH, B.v. 24.4.2023 – 10 ZB 22.2398 – juris Rn. 15).
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Bedeutsam ist im Rahmen des dargestellten gleitenden Wahrscheinlichkeitsmaßstabs dabei, dass vom Kläger im Falle eines erneuten Konsums von Betäubungsmitteln nicht nur mit einem weiteren Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu rechnen wäre, was für sich genommen schon Rechtsgüter von erheblicher Bedeutung beeinträchtigen würde. Vielmehr wäre auch mit erneuten Gefahren für die höchstrangigen Rechtsgüter des Lebens und der Gesundheit von Menschen zu rechnen, was bei der Gefahrenprognose die Anforderungen an die Eintrittswahrscheinlichkeit einer erneuten Rechtsgutverletzung deutlich absenkt. Die vom Strafgericht festgestellte hohe Gewaltbereitschaft des Klägers wurde bis heute offenbar nicht systematisch behandelt, obwohl auch die Unterbringungseinrichtung in ihrer Stellungnahme vom 2. September 2021 die Bearbeitung des „sehr gewalttätigen und folgenschweren Notwehrverhaltens“ für erforderlich gehalten hatte. Der Kläger hat hierzu in der mündlichen Verhandlung kein angemessenes Problembewusstsein gezeigt und den Umstand, dass eine Gewalttherapie bislang nicht erfolgt ist, im Wesentlichen damit gerechtfertigt, dass er zu einer solchen nicht verpflichtet worden sei. Der Senat geht daher davon aus, dass mit einer erneuten Straffälligkeit des Klägers die Gefahr von erheblichen Gewaltdelikten einherginge.
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An dieser für den Kläger negativen Gefahrenprognose sieht sich der Senat auch nicht dadurch gehindert, dass das Landgericht Traunstein mit Beschluss vom 20. Oktober 2022 den Strafrest sowie die Unterbringung in der Entziehungsanstalt zur Bewährung ausgesetzt hat. Auch wenn straf- oder strafvollstreckungsgerichtlichen Entscheidungen über die Aussetzung der (Rest-)Freiheitsstrafe bzw. Maßregel eine Indizwirkung im Hinblick auf eine Wiederholungsgefahr zukommt, sind die Verwaltungsgerichte weder an diese Entscheidungen noch die diesen Entscheidungen zugrundeliegenden Prognosen gebunden (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 21; BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Vorliegend hat selbst das Landgericht für die Dauer von fünf Jahren Führungsaufsicht angeordnet, eine ambulante Nachsorge sowie regelmäßige Drogentest als Auflage in seinen Bewährungsbeschluss aufgenommen und damit selbst zum Ausdruck gebracht, dass der Kläger noch für geraume Zeit einer engmaschigen Führungsaufsicht bedarf.
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bb) Unabhängig davon gefährdet der Aufenthalt des Klägers auch im Hinblick auf generalpräventive Erwägungen die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.
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Eine Ausweisung kann regelmäßig (zu Ausnahmen bei durch § 53 Abs. 3 bis 4 AufenthG besonders geschützten Personenkreisen BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16/17 – juris Rn. 19 unter Verweis auf BT-Drs. 18/4097 S. 49) auf generalpräventive Gründe gestützt werden, denn vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen hat, kann auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen (BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn.17; BayVGH, U.v. 12.10.2020 – 10 B 20.1795 – juris Rn. 32 ff.). Zur Annahme eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG bedarf es nicht der Verurteilung wegen besonders schwerwiegender Delikte für die öffentliche Sicherheit und Ordnung wie Drogendelikte, Delikte im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität oder im Zusammenhang mit Terrorismus. Erforderlich ist lediglich, dass die Ausweisung an Straftaten oder Verhaltensweisen anknüpft, bei denen sie nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet erscheint, andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, U.v. 3.5.1973 – I C 33.72 – juris Rn. 3). Auch muss das Ausweisungsinteresse noch aktuell sein (BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn.17). Darüber hinaus sind Art und Schwere der jeweiligen Anlasstat lediglich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen (BayVGH, U.v. 12.10.2020 – 10 B 20.1795 – juris Rn. 33 m.w.N.).
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Gemessen daran besteht im Falle des Klägers ein generalpräventives Ausweisungsinteresse. Gerade bei den abgeurteilten Betäubungsmitteldelikten können nach allgemeiner Lebenserfahrung aufenthaltsbeendende Maßnahmen eine generalpräventive Wirkung entfalten (BayVGH, B.v. 5.5.2020 – 10 ZB 20.399 – juris Rn. 8; U.v. 22.5.2023 – 10 B 23.99 Rn. 33 n.V.; B.v. 27.11.2023 – 10 C 23.2099 Rn. 5 zur Veröffentlichung vorgesehen).
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Dieses generalpräventive Ausweisungsinteresse ist auch noch aktuell. Für die zeitliche Begrenzung eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses, das an strafrechtlich relevantes Handeln anknüpft, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 23) für die vorzunehmende gefahrenabwehrrechtliche Beurteilung eine Orientierung an den Fristen der §§ 78 ff. StGB zur Strafverfolgungsverjährung angezeigt. Dabei bildet die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, grundsätzlich eine untere Grenze. Da der hier insbesondere im Raum stehende Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG) mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr (und bis zu 15 Jahren, § 38 Abs. 2 StGB) bedroht ist, verjährt er gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2, Abs. 4 StGB) frühestens nach 20 Jahren. Ob eine derart lang andauernde „Aktualität“ eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses in Fällen wie dem vorliegenden tatsächlich zu bejahen ist, kann dahingestellt bleiben. Im Fall des Klägers ist jedenfalls zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats die Aktualität des generalpräventiven Ausweisungsinteresses noch zu bejahen. Denn die mit dem Urteil des Amtsgerichts München vom 3. Februar 2021 geahndete Straftat ereignete sich im Dezember 2019 und liegt damit lediglich vier Jahre zurück. Dass das spezialpräventive Ausweisungsinteresse im Falle des Klägers mittlerweile etwas reduziert ist (s.o.), spielt für das Vorliegen eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses entgegen der Auffassung des Klägers keine entscheidungserhebliche Rolle.
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b) Bei der nach § 53 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls überwiegt das öffentliche Ausweisungsinteresse die privaten Bleibeinteressen des Klägers.
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aa) Voraussetzung für eine Ausweisung bei einer bestehenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den weiteren Aufenthalt des Ausländers ist gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG eine umfassende und ergebnisoffene Abwägung aller Umstände des Einzelfalls, die vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geleitet wird. Dieser Grundsatz des § 53 Abs. 1 AufenthG erfährt durch § 54 und § 55 AufenthG weitere Konkretisierungen. Einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen wird von vornherein ein spezifisches bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen. Bei der Abwägung des Interesses an der Ausreise mit den Bleibeinteressen sind darüber hinaus die in § 53 Abs. 2 AufenthG aufgeführten Umstände (näher dazu etwa BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 24 f.) in die wertende Gesamtbetrachtung einzubeziehen.
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Dabei sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und die Tatsache, ob der Ausländer sich rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen, wobei diese Umstände weder abschließend zu verstehen sind noch ausschließlich zugunsten des Ausländers sprechende Umstände in die Abwägung einzustellen sind (BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 24 f.; BayVGH, U.v. 21.5.2019 – 10 B 19.55 – juris Rn. 37). Ergänzend hierzu sind die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien heranzuziehen (Boultif/Üner-Kriterien, vgl. EGMR, U.v. 18.10.2006 – 46410/99 – NVwZ 2007, 1279; U.v. 2.8.2001 – 54273/00 – InfAuslR 2001, 476). Nach der Rechtsprechung des EGMR (vgl. bspw. U.v. 27.10.2005 – Nr. 32231/02 – juris Rn. 57 ff.; U.v. 24.11.2009 – Nr. 182/08 – juris; U.v. 25.3.2010 – Nr. 40601/05 – juris Rn. 54 ff.; U.v. 20.9.2011 – Nr. 25021/08 – juris Rn. 57 ff.) kommt eine den Schutz des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK auslösende Verbindung mit der Bundesrepublik Deutschland als Aufenthaltsstaat für solche Ausländer in Betracht, die auf Grund eines Hineinwachsens in die hiesigen Verhältnisse mit gleichzeitiger Entfremdung von ihrem Heimatland so eng mit der Bundesrepublik Deutschland verbunden sind, dass sie gewissermaßen deutschen Staatsangehörigen gleichzustellen sind, während sie mit ihrem Heimatland im Wesentlichen nur noch das formale Band ihrer Staatsangehörigkeit verbindet. Entscheidend ist, ob sich der Ausländer erfolgreich in dem betreffenden Vertragsstaat persönlich, wirtschaftlich und sozial integriert hat und aufgrund seiner Entwicklung und des Hineinwachsens in die hiesigen Lebensverhältnisse die Merkmale eines sog. „faktischen Inländers“ ohne deutsche Staatsangehörigkeit aufweist („Verwurzelung“) und ihm wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug hat, nicht zugemutet werden kann (BayVGH, B.v. 4.3.2019 – 10 ZB 18.2195 – juris Rn. 10; BayVGH, B.v. 3.7.2017 – 19 CS 17.551 – juris Rn. 10). Stellt eine Aufenthaltsbeendigung einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK dar, so sind in einer Güterabwägung unter Berücksichtigung der Verhältnisse des Einzelfalls das öffentliche Interesse an einer geordneten Einwanderung und der Rückkehr ausreisepflichtiger Ausländer mit dem Schutz des Rechts auf Privatleben abzuwägen (vgl. EGMR, U.v. 8.11.2016 – Nr. 56971/10 – juris; BVerwG, B.v. 14.12.2010 – 1 B 30.10 – juris Rn. 3; U.v. 27.6.2006 – 1 C 14.05 – juris Rn. 17; BayVGH, B.v. 3.2.2017 – 19 CS 17.551 – juris Rn. 9 ff.).
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bb) Gemessen daran erweist sich die Ausweisung als verhältnismäßig. Im Rahmen der Gesamtabwägung, unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowie der Grundrechte und Wertentscheidungen insbesondere aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK, tritt das Interesse des Klägers am weiteren Verbleib im Bundesgebiet hinter das öffentliche Interesse an seiner Ausreise zurück.
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Der Kläger erfüllt – wie bereits dargestellt – ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1b AufenthG. Von ihm geht auch in Zukunft eine konkrete Gefahr aus, dass er weiterhin erhebliche Straftaten im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität begehen und dabei gegebenenfalls erhebliche Gefahren für das Leben und die Gesundheit anderer verursachen wird. Zudem besteht ein entsprechendes, besonders schwerwiegendes generalpräventives Ausweisungsinteresse.
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Das Bleibeinteresse des Klägers wiegt nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG ebenfalls besonders schwer.
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Für den Kläger spricht über die ihm erteilte Niederlassungserlaubnis hinaus, dass er im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen ist (vgl. auch § 55 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG) und sein Herkunftsland Serbien nur von Besuchsaufenthalten im Kindes- und Jugendalter kennt. Allerdings ist festzustellen, dass trotz des ständigen Aufenthalts im Bundesgebiet eine Integration in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland lediglich in geringem Maße und erst in der jüngeren Vergangenheit gelungen ist. Der Kläger hat zwar noch die mittlere Reife erworben, danach allerdings nur Gelegenheitsbeschäftigungen ausgeübt und alsbald seinen Lebensunterhalt und seine eigene Betäubungsmittelabhängigkeit mit dem bewaffneten Handel mit Betäubungsmitteln finanziert. Eine Integration in den Arbeitsmarkt hat erst aus dem Maßregelvollzug heraus mit einem Arbeitsverhältnis und dem nachfolgenden Beginn einer Ausbildung begonnen. Der Kläger hat bereits früh Betäubungsmitteln konsumiert, eine entsprechende Abhängigkeit entwickelt und in diesem Zusammenhang sehr schwerwiegende Straftaten begangen. Derzeit sind – wie bereits ausgeführt – lediglich erste Anhaltspunkte erkennbar, dass der Kläger in seinen Lebensumständen eine dauerhafte Wende zum Positiven erreichen könnte. Auch die persönlichen Bindungen des Klägers im Bundesgebiet sind nicht besonders intensiv. Hinsichtlich seiner familiären Bindungen macht der Kläger im Wesentlichen die Beziehungen zu seiner Mutter und seinem Stiefvater geltend, auf die der Kläger aber bei der Lebensführung ebenso wenig angewiesen sind, wie diese auf ihn, zumal die Familie nach den Angaben des Klägers erst durch den Maßregelvollzug wieder „zusammengefunden“ haben soll. Eine eigene Kernfamilie hat der Kläger nicht.
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Auf der anderen Seite ist der Senat aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass den Kläger mit dem Land seiner Staatsangehörigkeit Serbien noch mehr verbindet als nur das formale Band der Staatsangehörigkeit. Der Senat geht davon aus, dass sich der Kläger auf Ruthenisch verständigen kann, da dies letztlich seine Muttersprache ist. Seine Angabe in der mündlichen Verhandlung, er habe diese Sprache mittlerweile verlernt, ist nicht glaubhaft. Bei einer polizeilichen Befragung der Mutter des Klägers im Dezember 2019 (Bl. 225 der Verwaltungsakte) gab diese an, der Kläger spreche Ruthenisch. Entsprechende kulturelle Hintergründe jedenfalls hinsichtlich der Heimatregion der Familie wurden ihm auch durch die Erziehung durch seine Eltern und nicht zuletzt durch einige Reisen zu seiner in Serbien lebenden Großmutter in der Zeit seiner Kindheit und Jugend vermittelt. Aktenkundig sind jedenfalls Besuchsaufenthalte in Serbien im Jahr 2005 (Bl. 17 ff. der Behördenakte) sowie im Jahr 2015 (Bl. 321 der Behördenakte), weitere Besuchsaufenthalte hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung angedeutet. Insofern kann von einer vollständigen Entfremdung jedenfalls hinsichtlich der ruthenischen Siedlungsgebiete nicht ausgegangen werden. Darüber hinaus geht der Senat davon aus, dass der Kläger sich – entgegen seiner eigenen Bekundungen in der mündlichen Verhandlung – auch in anderen Teilen Serbiens verständigen könnte. Im Anhörungsverfahren gab der Kläger selbst an, „nur wenig Serbisch“ zu sprechen (Bl. 325 der Verwaltungsakte). Das entspricht auch dem Vorbringen in der Klagebegründung mit Schriftsatz vom 24. Januar 2023 an das Verwaltungsgericht (Bl. 70 der Gerichtsakte). Der erstmalige Vortrag in der Zulassungsbegründung vom 22. Mai 2023 und in der mündlichen Verhandlung, er habe nur ruthenische Sprachkenntnisse, ist mit diesen Angaben nicht in Einklang zu bringen. Es mag sein, dass die serbischen Sprachkenntnisse nicht mehr stark ausgeprägt sind. Von einer völligen Entwurzelung im Sinne der dargestellten Rechtsprechung kann allerdings nicht ausgegangen werden.
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Dass dem Kläger eine Rückkehr nach Serbien unzumutbar wäre, kann der Senat nicht feststellen. Der Kläger ist gesund, jung und arbeitsfähig und spricht sowohl Ruthenisch als auch jedenfalls in Ansätzen Serbisch, sodass einer Erwerbstätigkeit weder in der ruthenisch-sprachigen Heimatregion der Familie des Klägers noch im übrigen Serbien unüberwindbare Hürden entgegenstehen dürften. Es ist davon auszugehen, dass er auch Serbisch in Wort und Schrift innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit jedenfalls soweit erlernen kann, als es für eine ausreichende gesellschaftliche und wirtschaftliche Integration in allen Teilen Serbiens notwendig sein wird. Hinzukommt, dass die Familie des Klägers in Deutschland (Mutter und Stiefvater) ihn jedenfalls in der Anfangszeit finanziell unterstützen können, wie sie das nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung bereits in Deutschland tun. Auch hat der Kläger mit einem Cousin, einer Cousine und einer Tante noch Kontakte in Serbien. Insofern wird es dem Kläger – gegebenenfalls nach Anlaufschwierigkeiten – jedenfalls mit der erwartbaren Unterstützung der Familie gelingen, seinen Lebensunterhalt in der Heimatregion seiner Familie oder aber auch in anderen Teilen Serbiens zu sichern.
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Bei der Gesamtabwägung der genannten für und gegen eine Aufenthaltsbeendigung sprechenden Umstände überwiegt insbesondere aufgrund der besonderen Schwere der vom Kläger begangenen Straftaten das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung die privaten Bleibeinteressen des Klägers.
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3. In Folge der Rechtmäßigkeit der Ausweisung erweisen sich auch die im angegriffenen Bescheid weiter verfügten Maßnahmen (Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG sowie Anordnung bzw. Androhung der Abschiebung nach § 59 Abs. 1 i.V.m. § 58 Abs. 1 AufenthG) als rechtmäßig. Insoweit verweist der Senat auf die Gründe des angegriffenen Bescheides und sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 117 Abs. 5 VwGO). Insbesondere sind hinsichtlich der Befristungsentscheidung des Beklagten nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG Ermessenfehler nicht ersichtlich. Die Fristdauer von fünf Jahren hält sich Rahmen der gesetzlichen Vorgaben des § 11 Abs. 5 AufenthG und ist – entgegen der Auffassung des Klägers in der mündlichen Verhandlung – auch unter Berücksichtigung der Entwicklung des Klägers bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Hinblick auf die Schwere der von ihm begangenen Straftaten und das dadurch ausgelöste spezial- und generalpräventive Ausweisungsinteresse nicht unangemessen.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.