Inhalt

LArbG München, Beschluss v. 12.12.2023 – 3 Ta 220/23
Titel:

Gegenstandswert bei Verfahren nach § 99 Abs. 4 und § 101 BetrVG

Normenketten:
BetrVG § 99 Abs. 4, § 101
RVG § 23 Abs. 3 S. 2 Hs. 2, § 33
Leitsätze:
1. Verfahren nach §§ 99 Abs. 4 und 101 BetrVG sind nach dem Hilfswert des § 23 Abs. 3 Satz 2, 2. HS RVG zu bewerten (vgl. Ziff. II.14.2.1 und 14.6 Streitwertkatalog 2018). Dabei ist bei einer Einstellung von bis zu drei Monaten 1/3 des Hilfswertes, von über drei Monaten bis zu sechs Monaten 2/3 des Hilfswertes und von über sechs Monaten der volle Hilfswert anzusetzen. (Rn. 13 und 14)
2. Liegt ein Massenverfahren mit wesentlich gleichem Sachverhalt vor, wird die erste Einstellung mit dem zuvor ermittelten vollen Wert bewertet; die 2. bis 20. Einstellung mit 25 % , die 21. bis 50. Einstellung mit 12,5 % und alle weiteren Einstellungen mit 10 % dieses Wertes (vgl. Ziff. II.14.7 Streitwertkatalog).    (Rn. 15)
Die Entscheidung des Erstgerichts ist durch das Beschwerdegericht nicht nur auf Ermessensfehler zu überprüfen, sondern das Beschwerdegericht trifft eine eigene, unabhängige Ermessensentscheidung (Bestätigung von LAG München BeckRS 2023, 22107 Rn. 50 f.). (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Gegenstandswert, Beschlussverfahren, Unterlassungsantrag, Einstellung, Streitwert, Massenverfahren, Hilfswert
Vorinstanz:
ArbG München, Beschluss vom 11.08.2023 – 41 BV 238/22
Fundstelle:
BeckRS 2023, 37753

Tenor

Auf die Beschwerde der Beteiligten zu 2) wird der Beschluss des Arbeitsgerichts München vom 11.08.2023 – 41 BV 238/22 – teilweise unter Zurückweisung der Beschwerde im Übrigen abgeändert und wie folgt gefasst:
Der Gegenstandswert für das Verfahren wird auf 7.083,38 € festgesetzt.
Die Arbeitgeberin hat die Gebühr nach Nr. 8614 der Anlage 1 zum GKG zu zahlen.

Gründe

I.
1
Die Beteiligten stritten über die Aufhebung einer personellen Maßnahme nach § 101 BetrVG in Form des Einsatzes von 14 Leiharbeitnehmern am 22.11.2022. Die streitgegenständlichen Einstellungen erledigten sich durch Zeitablauf. Nach Erledigterklärung der Beteiligten hat das Arbeitsgericht das Verfahren eingestellt.
2
Mit Beschluss vom 11.08.2023 hat das Arbeitsgericht den Gegenstandswert auf 8.500,- € festgesetzt. Auf der Grundlage des § 23 Abs. 3 RVG hat es für den ersten im Antrag genannten Leiharbeitnehmer 2.000,00 € und für jeden weiteren der 13 Leiharbeitnehmer einen Wert von jeweils 25% des Ausgangswertes von 2.000,00 €, d. h. jeweils 500,00 € berücksichtigt. Der Abschlag vom Hilfswert des § 23 Abs. 3 RVG rechtfertige sich aus der nur kurzen Dauer der Einstellung; insoweit seien 2.000,00 € angemessen. Durch die weiteren Leiharbeitnehmer erhöhe sich der Umfang und die Bedeutung der Rechtssache.
3
Gegen diesen ihnen am 11.08.2023 zugestellten Beschluss hat die Arbeitgeberin am 23.08.2023 beim Arbeitsgericht Beschwerde eingelegt. Bei der Bemessung des Gegenstandswertes eines Beschlussverfahrens nach § 101 BetrVG sei es angemessen, sich an der Wertermittlungsvorschrift des § 42 Abs. 2 S. 1 GKG zu orientieren. Maßgeblich sei der geschätzte Bruttoverdienst der Leiharbeitnehmer bzw. eine Schätzung des an den Verleiher gezahlten Entgelts. Im vorliegenden Fall ergebe sich deshalb ein Gegenstandswert von 287,60 €.
4
Die Verfahrensbevollmächtigten des Betriebsrats haben die Auffassung vertreten, dass der Gegenstandswert nach § 23 Abs. 3 S. 2 RVG festzusetzen sei. Bei Anträgen nach § 101 BetrVG handele es sich um nichtvermögensrechtliche Streitgegenstände. Es gehe um den Wert des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats, für dessen Wert es keine genügenden tatsächlichen Anhaltspunkte gebe. Der Antrag auf Aufhebung der personellen Maßnahme sei für den ersten Arbeitnehmer mit 2.000,00 € zu bewerten. Da es sich um parallel gelagerte Fälle mit im wesentlich gleichen Sachverhalt handele, sei ein Abschlag von 75% für die weiteren Leiharbeitnehmer je Person angemessen.
5
Das Arbeitsgericht half der Beschwerde mit Beschluss vom 30.10.2023 nicht ab und legte das Verfahren dem Landesarbeitsgericht zur Entscheidung vor.
6
Das Landesarbeitsgericht räumte den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 24.11.2023, insb. zu seiner Wertberechnung i. H. v. 7.083,38 € ein. Mit Schriftsatz vom 24.11.2023 hat die beschwerdeführende Arbeitgeberin hiermit ihr Einverständnis erklärt.
7
Die Verfahrensbevollmächtigten des Betriebsrats haben keine Stellungnahme abgeben.
II.
8
Die nach § 33 Abs. 3 S. 1 statthafte Beschwerde ist zulässig (§ 33 Abs. 3 S. 1 und 3 RVG, § 569 Abs. 2 ZPO), aber nur teilweise begründet.
9
1. Der Wert für den Unterlassungsantrag zu 1) ist mit 7.083,38 € zu bewerten.
10
a) Für die Bewertung sind nachfolgende Grundsätze maßgeblich:
11
aa) Die seit dem 01.06.2023 für Gegenstands- und Streitwertbeschwerden zuständige Kammer gibt die von ihr bisher vertretene Auffassung ausdrücklich auf, dass die Entscheidung des Erstgerichts vom Beschwerdegericht nur auf Ermessensfehler zu überprüfen ist und das Beschwerdegericht keine eigene hiervon unabhängige Ermessensentscheidung zu treffen hat (vgl. LAG München, Beschluss vom 06.06.2023 – 3 Ta 59/23 – Rn. 50 f.).
12
bb) Die Beschwerdekammer folgt im Interesse der bundesweiten Vereinheitlichung der Rechtsprechung zur Wertfestsetzung und damit verbunden im Interesse der Rechtssicherheit und -klarheit bei bestimmten typischen Fallkonstellationen den Vorschlägen der auf Ebene der Landesarbeitsgerichte eingerichteten Streitwertkommission, die im jeweils aktuellen Streitwertkatalog für die Arbeitsgerichte niedergelegt sind, derzeit in der Fassung vom 09.02.2018 (im Folgenden: Streitwertkatalog 2018, abgedruckt in NZA 2018, 497 ff.; ebenso LAG Nürnberg, Beschluss vom 30.07.2014 – 4 Ta 83/14 – Rn. 18 und Beschluss vom 29.07.2021 – 2 Ta 72/21 – Rn. 9; LAG Hessen, Beschluss vom 04.12.2015 – 1 Ta 280/15 – Rn. 7 m.w.Nachw.; LAG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 09.02.2016 – 5 Ta 264/15 – Rn. 4; LAG C-Stadt, Beschluss vom 20.5.2016 – 5 Ta 7/16 – Rn. 10; LAG Sachsen, Beschluss vom 28.10.2013 – 4 Ta 172/13 (2) unter II. 1 der Gründe¸ LAG Hamm Beschluss vom 26.10.2022 – 8 Ta 198/22 – Rn. 11; LAG München, Beschluss vom 06.06.2023 – 3 Ta 59/23 – Rn. 52 f.). Dabei wird nicht verkannt, dass der Streitwertkatalog für die Arbeitsgerichte nicht bindend ist.
13
cc) Ziff. II Nr. 14.6 Streitwertkatalog 2018 empfiehlt für Verfahren nach § 101 BetrVG eine Bewertung wie für Verfahren nach § 99 Abs. 4 BetrVG bzw. § 100 BetrVG. Soweit Ziff. II. 14.2 Streitwertkatalog 2018 für die Bewertung von Beschlussverfahren betreffend die Einstellung von Mitarbeitern sowohl eine Wertfestsetzung nach Maßgabe des Hilfswerts des § 23 Abs. 3 Satz 2 RVG oder nach § 42 Abs. 2 Satz 1 GKG ermöglicht, erscheint diejenige nach § 23 Abs. 3 Satz 2 RVG vorzugswürdig. In den Beschlussverfahren zur Einstellung nach §§ 99, !00 und 101 BetrVG spielen weder die Wirksamkeit des Arbeitsvertrags noch die Höhe des vereinbarten Gehalts eine Rolle. Es handelt sich vielmehr um eine nichtvermögensrechtliche Streitigkeit, deren Gegenstand die (Mitbestimmungs-) Rechte des Betriebsrats nach § 99 ff. BetrVG sind (vgl. LAG Baden-Württemberg, Beschluss vom 06.07.2010 – 5 Ta 116/10 –; LAG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 09.07. 2013 – 5 Ta 108/13 –; LAG Nürnberg, Beschluss vom 15.05.2012 – 6 TaBV 60/11 –; und vom 18.01.2021 – 2 Ta 154/20 –). Zudem kann die Einstellung als Teil eines bestimmten Personalkonzepts für den Arbeitgeber von weitergehender Bedeutung sein, als dies in der Vergütung des Arbeitnehmers zum Ausdruck kommt (vgl. LAG Berlin, Beschluss vom 21.10.2002 – 17 Ta 6085/02 –).
14
dd) Nach Ziff. II Nr. 14.1. Streitwertkatalog 2018 sind für die Bewertung entscheidend die Aspekte des Einzelfalls, z. B. die Dauer und Bedeutung der Maßnahme und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen. Da die Dauer der beabsichtigten Einstellung typischer Weise mit deren wirtschaftlicher Bedeutung korrespondiert (vgl. LAG Nürnberg, Beschluss vom 20.12.2013 – 2 Ta 156/13 – unter II. 3. b) der Gründe), ist sie bei der Bemessung des Ausgangswerts des § 23 Abs. 3 S. 2 2. HS RVG zu berücksichtigen. Aus der Kombination aus Hilfswert und zeitlicher Differenzierung ergibt sich, dass bei einer Einstellung bis zu drei Monaten 1/3 des Hilfswerts, von über drei Monaten bis zu sechs Monaten 2/3 des Hilfswerts und von über sechs Monaten der volle Hilfswert angesetzt werden kann (vgl. LAG Nürnberg 20.12.2013 – 2 Ta 156/13 – und 18.01.2021 – 2 Ta 154/20 – Rn. 13). Diese Auffassung teilt auch der Verfahrensbevollmächtigte des Betriebsrats, ohne die Minderung auf 2.000,00 € statt auf 1/3, d. h. 1.666,67 €, wie diesseits vertreten wird, zu begründen.
15
ee) Schließlich ist – worüber vorliegend kein Streit besteht – nach Ziff. II.14.7 Streitwertkatalog 2018 bei objektiver Antragshäufung und wesentlich gleichem Sachverhalt eine gestaffelt reduzierte Bewertung der Anträge vorzunehmen: 1. Fall: 100%, 2. bis 20. Fall: 25%; 21. bis 50. Fall: 12,5%; ab dem 51. Fall: 10%).
16
b) Nach diesen Bewertungsgrundsätzen ist der Unterlassungsantrag zu 1) ist mit 7.083,38 € zu bewerten.
17
Für die erste Arbeitnehmerin sind wegen der beabsichtigten Einstellung von unter drei Monaten 1/3 des Hilfswerts, d. h. 1.666,67 € anzusetzen, für die zweite bis vierzehnte Arbeitnehmerin 13 x 25% von 1.666,67 €, d. h. 13 x 416,67 € = 5.416,71 €. Die Teilbeträge von 1.666,67 € und 5.416,71 € ergeben den bezeichneten Gesamtwert.
18
2. Die Androhung von Ordnungsmitteln im Beschlussverfahren ist hinsichtlich des Gegenstandswertes nicht werterhöhend zu berücksichtigen (vgl. LAG C-Stadt, Beschluss vom 28.12.2015 – 6 Ta 24/15 – Rn. 19).
III.
19
Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst, weil Kosten nicht erstattet werden, § 33 Abs. 9 RVG. Die Gebühr nach Nr. 8614 der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG wird nicht ermäßigt, weil die Beschwerde überwiegend zurückgewiesen wird.
IV.
20
Diese Entscheidung, die gem. § 78 S. 3 ArbGG durch die Vorsitzende der Beschwerdekammer allein ergeht, ist unanfechtbar, § 33 Abs. 4 Satz 3 RVG (vgl. zur Vorgängerbestimmung des § 10 Abs. 2 Satz 2 BRAGO BAG, Beschluss vom 17.03.2003 – 2 AZB 21/02 –).