Titel:
unbegründete Asylklage (Iran)
Normenketten:
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsatz:
Nach aktueller Erkenntnislage droht bei einer Rückkehr in den Iran nicht nur exponierten Oppositionellen, sondern gerade auch aus dem Ausland, explizit auch aus Deutschland kommenden Iranern Verfolgung, da sie damit rechnen müssen, dass ihnen der Vorwurf gemacht wird, westlich beeinflusst zu sein und / oder der Spionage bezichtigt zu werden. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Iran, Frau, angebliche drohende Zwangsverheiratung, Ausreise wegen Lebensgefährten, Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten, kein zweifelfreies und in sich stimmiges Vorbringen, keine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung oder sonstige ernsthafte Gefahr bei einer Rückkehr in den Iran, inländische Aufenthaltsalternative, vereinzelte niederschwellige Demonstrationsteilnahmen in Deutschland bzw. geringfügige Präsenz in den sozialen Medien nicht ausreichend für beachtliche Verfolgungsgefahr, keine verfolgungsbegründende identitätsprägende Verwestlichung glaubhaft, keine andere Beurteilung im konkreten Einzelfall durch aktuelle Situation im Iran, mangelnde Glaubhaftmachung, Zwangsverheiratung, Demonstrationsteilnahme, inländischen Fluchtalternative
Fundstelle:
BeckRS 2023, 37687
Tenor
I.Die Klage wird abgewiesen.
II.Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
1
Die Klägerin, iranische Staatsangehörige, reiste am 6. Dezember 2021 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 27. Januar 2022 einen Asylantrag. Zur Begründung ihres Asylantrags gab die Klägerin im Wesentlichen an: Ihr Vater habe sie gegen ihren Willen mit ihrem Cousin verheiraten wollen. Die Klägerin habe die Heirat mit dem Cousin wegen dessen Arbeit beim Geheimdienst abgelehnt. Sie sei einige Monate mit ihrem Lebensgefährten zusammen gewesen (dem Kläger des Verfahrens W 8 K 23.30338), als sich dieser plötzlich zur Ausreise entschieden habe. Sie habe ihn begleitet. Im Falle einer Rückkehr fürchte sie, von ihrem Vater getötet zu werden.
2
Mit Bescheid vom 26. Mai 2023 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Weiter stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Die Klägerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung, im Falle einer Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen. Die Abschiebung in den Iran oder einen anderen Staat wurde angedroht. Die Ausreisefrist wurde bis zum Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist ausgesetzt (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Der Sachvortrag der Klägerin genüge nicht den Kriterien einer glaubhaften Darstellung eines Verfolgungsschicksals. Dem Unterzeichner stelle sich trotz vieler Nachfragen im Ergebnis nur eine pauschale und emotionslos abgespulte Version einer von unverheirateten iranischen Asylbewerberinnen typischerweise vorgetragenen Zwangsheiratsgeschichte ohne einen individuellen Bezug zur Klägerin dar. Sie sei mitten im Studium gewesen, nachdem sie sich schon mehrfach einen Aufschub ausbedungen gehabt habe. Im Ergebnis habe sie ihren Lebensgefährten begleitet, als dieser aufgrund seiner angeblichen eigenen Probleme das Land verlassen habe. Die Klägerin und ihr Lebensgefährte seien aus asylfremden Motiven in die Bundesrepublik Deutschland gekommen. Vor dem Hintergrund, dass die Klägerin falsche Angaben zu ihrer Verfolgung gemacht habe, seien die von ihr im Bundesgebiet entfalteten politischen Aktivitäten kritisch zu würdigen. Die Klägerin habe sich im Iran nach eigenen Angaben nicht politisch engagiert und interessiert und keine Probleme mit den Behörden gehabt. Schon aus diesem Grund erscheine ein staatliches Interesse zum Zeitpunkt ihrer Ausreise ausgeschlossen. Eine erstmalige Teilnahme an einer regimekritischen Demonstration sei erst für den 1. Oktober 2022 nachgewiesen, als sich die Klägerin schon seit nahezu zehn Monaten im Bundesgebiet befunden habe. Zu den Beweggründen sei nichts vorgetragen. Belegt sei nur die Teilnahme an zwei Demonstrationen. Die Klägerin sei eine unter vielen gewesen. Sie habe sich auch nicht durch ungewöhnliche Aktionen, Plakate oder Reden hervorgetan. Seit der letzten nachgewiesenen Demonstration am 4. Oktober 2022 seien nahezu weitere acht Monate vergangen.
3
Mit Schriftsatz vom 16. Juni 2023, bei Gericht eingegangen am 19. Juni 2023, ließ die Klägerin Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben.
4
Mit Schriftsatz vom 15. Oktober 2023 ließ die Klägerin zur Klagebegründung vorbringen: Der Vater der Klägerin habe gegenüber der Mutter der Klägerin geäußert, dass er, wenn er sie in die Finger bekomme, sie eigenhändig töten werde. Die Klägerin trage kein Kopftuch und würde dies im Iran auch nicht. Auch hierwegen drohe der Klägerin Verfolgung.
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Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 20. Juni 2023,
6
Die Kammer übertrug den Rechtsstreit mit Beschluss vom 19. Juni 2023 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung.
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Das Gericht lehnte mit Beschluss vom 4. August 2023 den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Prozessbevollmächtigten ab.
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In der mündlichen Verhandlung am 30. Oktober 2023 beantragte der Klägerbevollmächtigte für die Klägerin,
die Beklagte unter Aufhebung der Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26. Mai 2023 zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;
hilfsweise der Klägerin den subsidiären Schutz zuzuerkennen;
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
9
Das Gericht hörte die Klägerin informatorisch an.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Behördenakte (einschließlich der Akten des Lebensgefährten im Verfahren W 8 K 23.30338) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig, aber unbegründet.
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Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26. Mai 2023 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG sowie auf Anerkennung als Asylberechtigte nach § 16a Abs. 1 GG. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG sowie für die Feststellung von Abschiebungsverboten nach des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor. Die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sind ebenfalls nicht zu beanstanden (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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Das Gericht folgt im Ergebnis sowie in der wesentlichen Begründung dem angefochtenen Bescheid und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG). Die Ausführungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge decken sich mit den zum Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens gemachten Erkenntnismitteln sowie mit der einschlägigen Rechtsprechung.
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In der Sache ist das Gericht zum gegenwärtigen maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) aufgrund des klägerischen Vorbringens und der zum Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens gemachten Erkenntnismittel – ebenso wie das Bundesamt im angefochtenen Bescheid – nicht davon überzeugt, dass bei der Klägerin im Iran die begründete Gefahr (politischer) Verfolgung bestand bzw. besteht oder ihr sonst eine ernsthafte Gefahr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohte oder droht.
15
Ein Ausländer darf gemäß § 3 ff. AsylG nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Verfolgungshandlungen müssen an diese Gründe anknüpfend mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (siehe zum einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – BVerwGE 140, 22; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377). Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit liegt dann vor, wenn die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist letztlich, ob es zumutbar erscheint, dass der Ausländer in sein Heimatland zurückkehrt (BVerwG, U.v. 3.11.1992 – 9 C 21/92 – BVerwGE 91, 150; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – BVerwGE 89, 162). Über das Vorliegen einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegebenen Gefahr politischer Verfolgung entscheidet eine wertende Gesamtbetrachtung aller möglichen verfolgungsauslösenden Gesichtspunkte, wobei in die Gesamtschau alle Verfolgungsumstände einzubeziehen sind, unabhängig davon, ob diese schon im Verfolgerstaat bestanden oder erst in Deutschland entstanden und von dem Ausländer selbst geschaffen wurden oder ob ein Kausalzusammenhang zwischen dem nach der Flucht eingetretenen Verfolgungsgrund und entsprechend den schon in dem Heimatland bestehenden Umständen gegeben ist (BVerwG, U.v. 18.2.1992 – 9 C 59/91 – Buchholz 402.25, § 7 AsylVfG Nr. 1).
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Aufgrund seiner prozessualen Mitwirkungspflicht hat ein Kläger (oder eine Klägerin) seine (ihre) Gründe für seine politische Verfolgung schlüssig und vollständig vorzutragen (§ 25 Abs. 1 und 2 AsylG, § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO). Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich – als wahr unterstellt – bei verständiger Würdigung die behauptete Verfolgung ergibt. Bei den in die eigene Sphäre des Klägers fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, muss er eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, den Abschiebungsschutz lückenlos zu tragen. Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des Vorbringens sind hiermit nicht vereinbar und können dazu führen, dass dem Vortrag im Ganzen nicht geglaubt werden kann. Bleibt ein Kläger hinsichtlich seiner eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 106.84 – BVerwGE 71, 180).
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Der Klägerin ist es nicht gelungen, die für ihre Ansprüche relevanten Gründe in der dargelegten Art und Weise geltend zu machen. Unter Zugrundelegung der Angaben der Klägerin ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass eine begründete Gefahr politischer oder sonstiger Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestand oder besteht oder sonst eine ernsthafte Gefahr drohte oder droht. Gerade auch aufgrund der Angaben der Klägerin im gerichtlichen Verfahren ist es ihr zur Überzeugung des Gerichts nicht gelungen, eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgungsgefahr glaubhaft zu machen.
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Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat im streitgegenständlichen Bescheid schon zutreffend ausgeführt: Der Sachvortrag der Klägerin genüge nicht den Kriterien einer glaubhaften Darstellung eines Verfolgungsschicksals. Dem Unterzeichner stelle sich trotz vieler Nachfragen im Ergebnis nur eine pauschale und emotionslos abgespulte Version einer von unverheirateten iranischen Asylbewerberinnen typischerweise vorgetragenen Zwangsheiratsgeschichte ohne einen individuellen Bezug zur Klägerin dar. Sie sei mitten im Studium gewesen, nachdem sie sich schon mehrfach einen Aufschub ausbedungen gehabt habe. Im Ergebnis habe sie ihren Lebensgefährten begleitet, als dieser aufgrund seiner angeblichen eigenen Probleme das Land verlassen habe. Die Klägerin sei aus asylfremden Motiven in die Bundesrepublik Deutschland gekommen. Vor dem Hintergrund, dass die Klägerin falsche Angaben zu ihrer Verfolgung gemacht habe, seien die von ihr im Bundesgebiet entfalteten politischen Aktivitäten kritisch zu würdigen. Die Klägerin habe sich im Iran nach eigenen Angaben nicht politisch engagiert und interessiert und keine Probleme mit den Behörden gehabt. Schon aus diesem Grund erscheine ein staatliches Interesse zum Zeitpunkt ihrer Ausreise ausgeschlossen. Eine erstmalige Teilnahme an einer regimekritischen Demonstration sei erst für den 1. Oktober 2022 nachgewiesen, als sich die Klägerin schon seit nahezu zehn Monaten im Bundesgebiet befunden habe. Zu den Beweggründen sei nichts vorgetragen. Belegt sei nur die Teilnahme an zwei Demonstrationen. Die Klägerin sei eine unter vielen gewesen. Sie habe sich auch nicht durch ungewöhnliche Aktionen, Plakate oder Reden hervorgetan. Seit der letzten nachgewiesenen Demonstration am 4. Oktober 2022 seien nahezu weitere acht Monate vergangen.
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Ergänzend ist anzumerken, dass das Vorbringen der Klägerin im gerichtlichen Verfahren im Ergebnis keine andere Beurteilung rechtfertigt. Die Klägerin konnte die im streitgegenständlichen Bundesamtsbescheid aufgeführten Einwände nicht entkräften. Im gerichtlichen Verfahren, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, hat die Klägerin die bestehenden Zweifel und Ungereimtheiten nicht ausräumen können, sondern eher noch vertieft, indem sie weitere ungereimte und damit unglaubhafte Angaben machte. Letztlich konnte sich das Gericht nicht zweifelsfrei von einer begründeten Verfolgungsgefahr überzeugen.
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Fraglich erscheint schon, dass die Klägerin nicht genau habe sagen können, wann sie ihr Studium begonnen hatte. Sie erklärte vielmehr, sie könne nicht genau sagen, ob es 1399 oder 1400 gewesen sei, also vor ca. zwei Jahren, sondern verwies auf ihren abgegebenen Studentenausweis. Aus dem Studentenausweis ergibt sich aber nicht dessen Ausstellungsdatum oder der Beginn des Studiums, sondern nur dessen Gültigkeit bis Ende des sechsten Monats 1402 (22.9.2023). Auf Vorhalt des Gerichts, dass die Klägerin nach ihren eigenen Angaben vor etwa zwei Jahren ausgereist sei, erklärte sie dann, sie habe drei Semester studiert, wovon ein Semester ein halbes Jahr gedauert habe. Beim Bundesamt habe sie es entsprechend angegeben, sie habe studiert, sie sei im dritten Abschnitt des Jahres gewesen. Auf weitere Frage konnte sie zunächst auch nicht sagen, wann sie die Schule verlassen habe. Erst nach weiterem Nachdenken kam sie auf 18 Jahre. Sie habe danach eine Aufnahmeprüfung abgelegt und habe anschließend noch im selben Jahr mit dem Studium begonnen.
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Dazu ist anzumerken, dass die Frage nach dem Studium keine unerhebliche Nebensächlichkeit betrifft, sondern für die Verfolgungsgeschichte relevant ist, weil die Klägerin es trotz der angeblich drohenden Zwangsverheiratung laut ihren Angaben beim Bundesamt immer wieder schaffte, den Heiratstermin wegen ihres Studiums zu verschieben. Sie habe ihren Vater gebeten, wenigstens das Studium abschließen zu können. So habe sie erreicht, dass die Hochzeit immer wieder verschoben worden sei. Weitere Voraussetzung sei aber dann gewesen, dass sie nach dem Studium nicht arbeite.
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Weiter ist zu betonen, dass die Klägerin lange vor dem voraussichtlichen Ende des Studiums ausgereist ist und zwar nach eigenen Angaben am 14. November 2021, während das Ende der Gültigkeit des Studentenausweises auf den 22. September 2023 datiert war. Die Klägerin räumte auch selbst ein, dass sie nicht wegen der drohenden Zwangsheirat ausgereist sei, sondern wegen Probleme ihres Lebensgefährten, des Klägers des Verfahrens W 8 K 23.30338. Ausgehend von ihrer weiteren Aussage, dass das Studium vier Jahre dauere, hätte sie sogar noch zweieinhalb Jahre Zeit gehabt, ohne zur Flucht gezwungen zu sein.
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Widersprüchlich ist weiter die Aussage in der mündlichen Verhandlung, sie habe die von Vater und Großmutter verlangte Heirat mit ihrem Cousin väterlicherseits abgelehnt, weil sie diesen nicht geliebt hatte. Demgegenüber hatte sie beim Bundesamt noch angegeben, sie habe diesen wegen seines Jobs und dem seines Vaters beim Geheimdienst nicht gewollt.
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Des Weiteren droht der Klägerin auch nicht wegen des Schicksals ihres Lebensgefährten Verfolgung. Soweit sie darauf verwies, dass ihr anderer Cousin väterlicherseits, mit dem sie zwangsverheiratet werden sollte, beim Sicherheitsdienst Ettelaat sei und eine Akte über ihren Lebensgefährten angelegt habe, so dass sie auch bei einer gemeinsamen Rückkehr mitverfolgt würde, verfängt nicht, weil zum einen im Verfahren ihres Lebensgefährten mit Urteil vom selben Tag eine positive Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergangen ist, und zum anderen fraglich ist, ob der andere Cousin väterlicherseits tatsächlich beim Ettelaat ist, die behauptete Funktion innehat und darüber hinaus auch noch über die Akte des Lebensgefährten verfügen kann. Dass eine Akte über die Klägerin selbst angelegt wäre, hat die Klägerin selbst nicht behauptet.
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Insofern fällt auf, dass die Klägerin Tatsachen vom Hörensagen den Behörden und dem Gericht in Deutschland als gegeben berichtet, ohne klarzustellen, dass es sich nur um ihre Vermutungen handelt. In das Bild passt auch, dass die Klägerin beim Bundesamt zwei Mal hintereinander angegeben hatte, dass sich ihr Cousin, den sie habe heiraten sollen, in Italien befinde. Er sei nach Italien gekommen. Er sei illegal nach Italien gereist, um sie zu suchen. Während ihr Lebensgefährte demgegenüber bei seiner Anhörung vom gleichen Tag lediglich angab, dass sie benachrichtigt worden seien, dass sein Rivale nach Italien kommen wolle, um sie zu finden. So drängt sich der Eindruck auf, dass die Klägerin ihr Verfolgungsschicksal beim Bundesamt aufgebauscht hat, um Vorteile im Asylverfahren zu erreichen. In der mündlichen Verhandlung gab sie dann auch an, sie befürchteten, dass der Cousin ihr nach Italien habe folgen wollen, er sei in die Türkei gereist. Erst auf wiederholte Nachfragen und Vorhalte des Gerichts zu den Widersprüchlichkeiten in den Aussagen erklärte die Klägerin, sie habe damals angenommen, er sei in Italien. Sie habe erst später erfahren, dass das nicht der Fall gewesen sei. Den Widerspruch zu der Aussage ihres Lebensgefährten konnte sie damit nicht auflösen. Im Übrigen gab die Klägerin ansonsten selbst an, dass ihr Verfolgung primär durch ihren Vater gedroht habe und nicht auch durch den Cousin väterlicherseits, den Rivalen des Lebensgefährten.
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Des Weiteren ist für das Gericht nicht überzeugend nachvollziehbar, dass der Vater als Taxifahrer die Klägerin sowohl während der Schulzeit als auch in der Vorlesungszeit während des Studiums immer früh zu den Unterrichtseinheiten hingebracht und mittags abgeholt habe. Denn dem Gericht erschließt sich nicht, dass ein Taxifahrer, wenn er Kunden hat, tagtäglich in der geschilderten Weise frei über seine Zeit und seinen Ort verfügen kann, um die Klägerin durchweg chauffieren zu können. Des Weiteren hat die Klägerin durchweg von Drohungen seitens ihres Vaters berichtet, nicht aber von irgendwelchen Handgreiflichkeiten oder Gewalttätigkeiten, so dass auch unter dem Aspekt die nun angeblich ausgesprochene Todesdrohung des Vaters mit Zweifeln behaftet ist.
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Die Drohungen des Vaters sind auch insofern – wie auch schon das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ausgeführt hat – relativierend zu sehen, als es der Klägerin, gerade auch unter Mithilfe ihrer Mutter, offenbar wiederholt gelungen ist, die Zwangsverheiratung hinauszuschieben, zunächst während des Studiums und dann bis zum Ende des Studiums. So bleibt die Frage, ob ein weiterer Aufschub oder endgültiger Verzicht auf die Zwangsheirat nicht auch beim Verbleib im Iran möglich gewesen wäre. Relativiert wird auch das Gewicht einer angeblich drohenden Gefahr, dass die Klägerin nur allgemein berichtet hat, der Vater habe die Drohung über das Telefon ausgesprochen, zuletzt aber habe die Mutter vor drei bis vier Monaten darüber berichtet. Im Übrigen hat die Klägerin durchweg von – wenn auch teils drastischen – Drohungen berichtet, aber nicht von relevanten weitergehenden Maßnahmen, sodass nach Überzeugung des Gerichts letztlich nicht zweifelsfrei feststeht, dass der Vater auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit seinen Drohungen ernst machen und diese in die Tat umsetzen würde, also die Klägerin etwa gewaltsam zur ungewollten Heirat gezwungen hätte bzw. eine Zwangsheirat bei einer Rückkehr nunmehr gegen den Willen der Klägerin tatsächlich mit aller Gewalt vollziehen bzw. der Klägerin Gewalt antun würde.
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Das Gericht nimmt der Klägerin durchaus ab, dass es sie subjektiv belastet hat und sie subjektiv auch damit gerechnet hat, zwangsverheiratet zu werden, zumindest nach dem Ende des Studiums, jedoch ist es nicht von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit drohenden fortbestehenden Gefahr überzeugt.
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Nach alledem fehlt es an einem in sich stimmigen und nachvollziehbaren und damit glaubhaften Vorbringen der Klägerin. Vielmehr bleiben so gravierende und durchgreifende Zweifel am Bestehen bzw. Fortbestehen einer ernsthaften Bedrohungslage für die Klägerin.
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Aber selbst, wenn man – anders als das Gericht – nach dem Vorbringen der Klägerin von einer (fortbestehenden) Bedrohung für sie insbesondere durch ihren Vater ausgehen wollte, besteht nach Überzeugung des Gerichts für die Klägerin jedenfalls die Möglichkeit einer inländischen Flucht- bzw. Aufenthaltsalternative im Iran (§ 3e AsylG, § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG). Darauf muss sich die Klägerin verweisen lassen. Sie könnte etwa in einen anderen Landesteil oder in eine andere Großstadt im Iran gehen, insoweit besteht Bewegungsfreiheit, ohne dass ihre Familie insbesondere ihr Vater ihre Rückkehr in den Iran überhaupt mitbekommen müsste. Im Iran gibt es kein mit dem deutschen System vergleichbares Meldewesen. Des Weiteren liegen auch keine Erkenntnisse zu einem nationalen Fahndungsregister im Iran vor. Hingegen gibt es ein zentral angelegtes elektronisches Personenstandsregister (vgl. Auswärtiges Am, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Iran Stand: 18.11.2022, vom 30.11.2022, S. 27; Auskunft an das VG Würzburg vom 16.9.2022, S. 7 f.). Die Klägerin könnte sich ihr Existenzminimum an einem anderen Ort im Iran sichern gegebenenfalls durch eigene Arbeit bzw. Unterstützung ihrer Verwandtschaft mütterlicherseits und auch ihres Lebensgefährten, mit dem sie in Deutschland zusammenwohnt. Darüber hinaus gibt es Rückkehr- und Integrationsprojekte, auf die sich die Klägerin ebenfalls verweisen lassen muss (vgl. zum Ganzen VG Würzburg, U.v. 31.1.2022 – W 8 K 21.30954 – juris Rn. 31 ff. m.w.N.).
31
Des Weiteren wird angemerkt, dass sich aufgrund der aktuellen landesweiten Unruhen und Proteste im Iran bzw. der sich verschärfenden Verhältnisse seit September 2022 im Ergebnis keine andere Beurteilung rechtfertigt. Weder die Angaben der Klägerin, dass sie kein Kopftuch trage, noch zu ihren exilpolitischen Aktivitäten führen zu einem anderen Ergebnis.
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Denn nach der Rechtsprechung ist allgemein mit politischer Verfolgung zu rechnen, wenn eine Person mit ihren oppositionellen und (exil-)politischen Aktivitäten derart nach außen in Erscheinung getreten ist, dass sie zum einen durch die iranischen Sicherheitsbehörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als ernsthafte Regimegegnerin, welcher auf die Verhältnisse im Iran einzuwirken vermag, identifiziert und qualifiziert worden ist, und dass zum anderen wegen der von ihr ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staats besteht (vgl. BayVGH, B.v. 10.7.2023 – 14 ZB 22.31080 – juris Rn. 13; B.v. 15.1.2013 – 14 ZB 12.30220 – juris Rn. 11 sowie VG Würzburg, U.v. 25.9.2023 – W 8 K 23.30323 – UA S. 11 f.; U.v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30707 – juris Rn. 29 ff.; U.v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30683 – juris Rn. 28 ff.; U.v. 19.12.2022 – W 8 K 22.30631 – juris Rn. 25 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 22.30541 – juris Rn. 27 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 21.30749 – juris Rn. 33 ff.; U.v. 3.6.2022 – W 8 K 22.30034 – juris Rn. 24 ff.; U.v. 31.1.2022 – W 8 K 21.31264 – juris Rn. 66 ff.; VG Würzburg, U.v. 16.10.2017 – W 8 K 17.31567 – juris Rn. 23 und 35; U.v. 15.2.2017 – W 6 K 16.32201 – juris Rn. 31 und 42; jeweils mit weiteren Nachweisen zur Erkenntnislage und zur Rechtsprechung). Dabei ist zu bedenken, dass der iranische Staat sowohl die Überwachung möglicher Regimekritiker verstärkt als auch seine Repressionen deutlich verschärft hat und nach der aktuellen Erkenntnislage im Einzelfall auch Personen gefährdet sein können, die nicht exilpolitisch herausgehoben aktiv waren.
33
Nicht nur exponierte Oppositionellen droht bei einer Rückkehr Verfolgung, sondern gerade auch aus dem Ausland, explizit auch aus Deutschland, kommende Iraner müssen damit rechnen, dass ihnen der Vorwurf gemacht wird, westlich beeinflusst zu sein und der Spionage bezichtigt zu werden. Dies gilt erst recht für Personen, die sich während des Auslandsaufenthalts öffentlich regime- oder islamkritisch geäußert haben. Dabei ist zu bedenken, dass es den iranischen Behörden nach den vorliegenden Erkenntnissen gelungen ist, die oppositionellen Gruppierungen zu unterwandern, und dass sich zudem Exil-Iraner und Exil-Iranerinnen auch gegenseitig verraten (vgl. im Einzelnen auch VG Würzburg, U.v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30707 – juris Rn. 29 f.; U. v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30683 – juris Rn. 28 f.; U.v. 19.12.2022 – W 8 K 22.30531 – juris Rn. 25; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 22.30541 – juris Rn. 26 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 21.30749 – juris Rn. 32 ff. sowie VG Aachen, U.v. 5.12.2022 – 10 K 2406/20.A – juris Rn. 35 ff., 50 ff., 52 ff., 59).
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Die Situation im Iran stellt sich nach den vorliegenden Erkenntnissen wie folgt dar.
35
Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 30. November 2022 (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 18.11.2022) ist ausgeführt, dass die aktuelle iranische Regierung innen-, außen- und wirtschaftspolitisch massiv unter Druck geraten ist und daher auf Systemerhalt mit allen Mitteln ausgerichtet ist. Jegliche Formen von Dissens werden mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterdrückt. Teile der iranischen Bevölkerung sind aufgrund ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, politischer, künstlerischer oder intellektueller Betätigung oder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung starken Repressionen ausgesetzt. Jede Person, die öffentlich Kritik an Missständen übt oder sich für die Menschenrechte organisiert, setzt sich der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aus (S. 4). Gegen Regimekritiker und Aktivisten wird unerbittlich vorgegangen. Es kommt regelmäßig zu „ungeklärten“ Todesfällen in Gefängnissen. Die Zahl der Todesurteile und Hinrichtungen steigt (S. 5). Je gefährlicher Proteste in ihrer Größe, Sichtbarkeit, Dauer oder Grad ihrer Politisierung für die Regierung werden, desto härter gehen die Sicherheitskräfte dagegen vor. Tote und verletzte Demonstrierende werden zur Abschreckung sogar gezielt verursacht, zumindest in Kauf genommen. Demonstrierende werden als von außen (neuerdings auch Deutschland) gezielt instrumentalisierte Aufrührer und bedrohliche Straftäter dargestellt, um die Gewalt zu rechtfertigen. Seit dem Tod einer 22-jährigen kurdischen Iranerin (M* … „D* …“ A* …*) am 16. September 2022 kommt es zu anhaltenden landesweiten Protesten. Bisher sind nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen über 50 Minderjährige im Zusammenhang mit den Protesten getötet worden. Personen, die in den sozialen Medien aktiv waren und über Kontakte zum Ausland verfügen, unterliegen daher vermutlich einer besonderen Gefahr der Strafverfolgung (S. 6). Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivitäten, die als Angriff auf das politische System empfunden werden oder islamische Grundsätze in Frage stellen. Dabei sind Gruppierungen, die die Interessen religiöser oder ethnischer Minderheiten vertreten, besonders stark im Fokus und sind stärkerer Repression ausgesetzt. Als Rechtsgrundlage dienen weitgefasste Straftatbestände. Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der islamischen Republik Iran als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, können der Spionage beschuldigt werden. Strafverfolgung erfolgt selbst bei niederschwelliger Kritik oftmals willkürlich und selektiv. Inhaftierten droht insbesondere bei politischer Strafverfolgung eine Verletzung der körperlichen und mentalen Unversehrtheit (psychische und physische Folter, Isolationshaft als Form der Bestrafung, Misshandlung, sexuelle Übergriffe) (S. 9 f.). Von Seiten des iranischen Regimes werden vor allem „ausländische Medien“ beschuldigt, die Proteste initiiert zu haben und zu lenken. Das Internet wird stark eingeschränkt. Darüber hinaus wird der Internetverlauf „gefiltert“ bzw. mitgelesen. Jede Person, die sich regimekritisch im Internet äußert, läuft Gefahr, mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, einen „Cyber-Krieg“ gegen das Land führen zu wollen und Proteste anzustacheln (S. 11 f.). Das Regime verfolgt (vermeintlich und tatsächlich) militante separatistische Gruppierungen (vor allem die kurdisch-marxistischen Komalah-Partei sowie die DPIK usw.) (S. 14). Muslimen ist es verboten zu konvertieren und auch an Gottesdiensten anderer Religionen teilzunehmen. Die Konversion sowie Missionstätigkeiten unter Muslimen wird strafrechtlich verfolgt. Muslimische Konvertiten und Mitglieder protestantischer Kirchen sind willkürlichen Verhaftungen und Schikanen ausgesetzt (S. 15 f.). Fälle von Sippenhaft existieren, meist in politischen Fällen; üblicher ist jedoch, dass Familienmitglieder unter Druck gesetzt werden, um im Sinne einer Unterlassung politischer Aktivitäten auf die Angeklagten einzuwirken (S. 17). Die exilpolitische Gruppe Mujahedin-e Khalq (MEK/MKO) wird als Terrororganisation eingestuft und gilt als Staatsfeind. Mitglieder werden mit allen Mitteln bekämpft. Auch Aktivitäten kurdischer exilpolitischer Gruppen werden genau beobachtet und sanktioniert. Iraner, die im Ausland leben, sich dort öffentlich regimekritisch äußerten, sind von Repressionen bedroht, nicht nur, wenn sie in den Iran zurückkehren. Ihre im Iran lebenden Familien werden regelmäßig unter Druck gesetzt (S. 19). Auf eine Vielzahl von Verbrechen steht die Todesstrafe, wie auch die im November 2022 im Zusammenhang mit der angeblich gewaltsamen Teilnahme an Protesten verhängten Todesurteile erneut zeigen (S. 21). Hinweise auf extralegale Tötungen existieren, besonders im Rahmen von Folter in Gefängnissen. Glaubhafte Hinweise liegen vor, dass Sicherheitskräfte ab September 2022 gezielt auf Köpfe und lebenswichtigen Organe von Demonstrierenden schossen bzw. dass Personen durch sonstige rohe Gewaltanwendung bei den Protesten ums Leben kamen. Willkürliche Festnahmen, Haft und unverhältnismäßige Strafen sind in politischen Fällen üblich (S. 22). Allein der Umstand, dass eine Person in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, löst bei Rückkehr keine staatlichen Repressionen aus. Ausgenommen davon sind Personen, die seitens iranischer Sicherheitsbehörden als ernsthafte Regimegegner identifiziert werden und an denen ein Verfolgungsinteresse besteht. Die Auswirkungen der aktuellen Proteste und deren blutigen Niederschlagung auf Rückkehrende lässt sich im Augenblick nicht abschließend einschätzen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Rückkehrende verstärkt von den Sicherheitsbehörden überprüft werden. Bereits vor den aktuellen Protesten ist es in Einzelfällen zu einer Befragung durch die Sicherheitsbehörden über den Auslandsaufenthalt gekommen, deren Ausgang sich der Kenntnis des Auswärtigen Amtes entzieht. Insbesondere in Fällen, in denen der Iran illegal verlassen worden ist, muss mit einer Befragung gerechnet werden. Bisher wurde kein Fall bekannt, in dem Zurückgeführte im Rahmen der Befragung psychisch oder physisch gefoltert worden sind. Der Chef der Judikativen hat explizit Exil-Iraner und Iranerinnen ermutigt, nach Iran zurückzukehren, und ihnen eine Rückkehr ohne Inhaftierung in Aussicht gestellt, sofern dies mit der iranischen Justiz koordiniert wird (S. 25).
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In einer neueren Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Schleswig-Holstein (Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG SH vom 14.6.2023) ist weiter ausgeführt, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass Rückkehrende verstärkt von den Sicherheitsbehörden überprüft werden. Die Behörden können erkennen, wann der Iran bei legaler Ausreise verlassen worden ist und wie lange der Auslandsaufenthalt gedauert hat, und ob der Iran auf dem legalen Weg verlassen worden ist. Das Auswärtige Amt kann nicht ausschließen, dass sich die Befragungen angesichts der aktuellen Lage verstärkt auf Aktivitäten im Ausland beziehen, etwa auch zur Teilnahme an Demonstrationen. Flächendeckende Befragungen zur politischen Überzeugung werden jedoch nicht durchgeführt. Ein längerer Auslandsaufenthalt führt allein zu keinen Repressionen. Repressionen dürften abhängig vom Einzelfall sein, insbesondere von der Einschätzung der iranischen Behörden über die jeweiligen Aktivitäten im Ausland. Eine Asylantragstellung im Ausland genügt nicht. Wenn der Iran illegal verlassen worden ist, muss mit einer Befragung gerechnet werden. In Betracht kommt auch eine Bestrafung wegen illegaler Ausreise. Erschwerend wirkt, wenn weitere Umstände hinzutreten, etwa wenn eine Person flüchtig und zuvor untergetaucht gewesen ist. Regimekritische Aktivitäten und Äußerungen im Ausland, unter anderem in den sozialen Medien, können nach Rückkehr in den Iran zur strafrechtlicher Verfolgung und Repressionen führen. Bei Kontrolle der Nichteinhaltung von Bekleidungsvorschriften kommt im Iran eine Gesichtserkennungstechnologie zum Einsatz. Auch Warn-SMS wurden schonverschickt, z. B. im Straßenverkehr, an Ladeninhaber oder bei Aufenthalt an bestimmten Orten. Das iranische Rechtssystem ist von Willkür geprägt. Es ist Teil der Repressionsstrategie des Regimes, Unsicherheit dadurch zu schaffen, dass es keine klaren Regeln oder rote Linien gibt. Die Bevölkerung lebt so immer in Ungewissheit, welche Verhaltensweisen gegebenenfalls als Vorwand für ein Gerichtsverfahren oder andere Formen der Bestrafung, wie beispielsweise Erziehungsseminare, Geldbußen, vorübergehende Autobeschlagnahmen, Ausreisesperren, Passentzug, Hausarrest, Sperrung von Konten, Drohung mit und gegebenenfalls auch Anwendung von sexualisierter Gewalt und Ähnlichem, genutzt werden. Das Auswärtige Amt geht davon aus, dass der iranische Staat seine Staatsangehörigen auch im Ausland überwacht und damit auch Informationen über eine Mitgliedschaft in christlichen Kirchen und Aktivitäten sammelt. Dem Auswärtigen Amt liegen widersprüchliche Aussagen dazu vor, ob allein das Bekanntwerden des formalen Glaubensübertritts genügt, um im Iran staatliche Repressionen zu erfahren. Die Verfolgung von Angehörigen anderer Religionsformen hat auch unter der Regierung des jetzigen Präsidenten noch einmal deutlich zugenommen. Regimekritische Äußerungen und Aktivitäten – auch außerhalb Irans – können, je nach Einzelfall, bei Rückkehr strafrechtliche Verfolgung und Repressionen nach sich ziehen. Die konkreten Repressionen hängen davon ab, wie das häufig willkürlich handelnde Regime die Aktivitäten und Äußerungen im Einzelfall bewertet. Dem Auswärtigen Amt sind Fälle bekannt, in denen Aktivitäten im Ausland zur Verhaftung und Anklage wegen unterschiedlicher Delikte geführt haben. Personen, die aus der Sicht des Regimes besonders gefährlich für das System erscheinen, beispielsweise durch große Sichtbarkeit ihrer kritischen Äußerungen oder aufgrund realer oder perzipierter Umsturzabsichten, können sogar im Ausland entführt und ermordet werden. Repressionsmaßnahmen hängen davon ab, wie das Regime die Äußerungen/Aktivitäten im Einzelfall einschätzt. Das Vorgehen der Behörden ist häufig willkürlich.
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Nach den aktuellen Reise- und Sicherheitshinweisen des Auswärtigen Amtes für Iran, einschließlich Reisewarnung, droht selbst deutschen Staatsangehörigen bzw. Doppelstaatlern die konkrete Gefahr, willkürlich festgenommen, verhört und zu langen Haftstrafen verurteilt zu werden. In jüngster Zeit kam es zu einer Vielzahl willkürlicher Verhaftungen auch unbeteiligter ausländischer Staatsangehöriger, etwa im räumlichen Umfeld von Demonstrationen. Selbst Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt willkürlich aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden. Strafrechtliche Vorschriften sind häufig so vage formuliert, dass eine Vielzahl möglicher Verhaltensweisen erfasst werden kann, ohne dass dies dem Betroffenen vorher deutlich sein muss. Die Rechtsprechung ist mitunter eindeutig politisch motiviert. Aufgrund im Iran weit ausgelegter Begriffe, wie zum Beispiel „nationale Sicherheit“, „Spionage“, „Terrorismus“ oder so genannter „Korruption auf Erden“ können zum Beispiel bloße Äußerungen, das Teilen, Kommentieren oder Liken von Beiträgen in sozialen Medien, aber auch persönliche Aufzeichnungen wie Tagebücher oder Notizen für eine Strafverfolgung ausreichen. Es kommt oft ohne nachvollziehbare Gründe zu Verhören und/oder Verhaftungen. Auch Familienangehörige von Inhaftierten werden regelmäßig unter Druck gesetzt. Auch in Deutschland getätigte Meinungsäußerungen und Handlungen können im Iran als regierungskritisch wahrgenommen werden und deshalb zu strafrechtlichen Konsequenzen führen. Gleiches gilt für regierungskritische Äußerungen im Internet bzw. das bloße Teilen oder Liken eines fremden Beitrags. Vor Reisen nach Iran wird gewarnt. Personen, die sich beabsichtigt oder zufällig am Umfeld von Demonstrationen aufhalten, droht die Festnahme und Verurteilung (Auswärtiges Amt, Iran: Reise- und Sicherheitshinweise, Reisewarnung, Stand: 30.10.2023, unverändert gültig seit 14.9.2023).
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Medienberichten ist zu entnehmen, dass seit Beginn der landesweiten Proteste ab September 2022 bis in den November hinein, schon allein nach offiziellen Angaben, mehr als tausend Personen angeklagt worden sind. Fast 15.000 Menschen sind festgenommen worden, denen schwere Strafen drohen, um einen abschreckenden Effekt zu erzielen. Bei den seit Mitte September anhaltenden Protesten sind mindestens 318 Menschen getötet worden, darunter 49 Minderjährige und 38 Einsatzkräfte. Mit scharfer Munition wird direkt in Menschenmengen geschossen, teilweise auch mit kleinen Metallgeschossen, die wie Schrot zersplittern. Ärzte, die Verletzte behandeln wollen, werden daran gehindert und sind selbst von Repressalien bedroht. Selbst wer nicht direkt an den Demonstrationen teilnimmt, sondern sich selbst nur solidarisch erklärt oder die Gewalt des Staates verurteilt, gerät ins Visier des Regimes. Mehr als 14.000 Personen sind festgenommen worden; nicht alle davon sind selbst auf der Straße gewesen. Verhaftete werden im Staatsfernsehen öffentlich vorgeführt und vorverurteilt. Verschiedene Vorwürfe, wie etwa Krieg gegen Gott oder Korruption auf Erden, werden erhoben, auf denen in der islamischen Republik Iran die Todesstrafe steht. Die iranische Justiz wirft den Demonstranten subversive Aktivitäten vor, wie Angriffe auf die Sicherheitskräfte oder öffentliche Gebäude (vgl. Zeit-Online, Bereits mindestens tausend iranische Demonstranten angeklagt, vom 8.11.2022; tagesschau.de, Droht Protestteilnehmern die Todesstr…, vom 7.11.2022; NZZ, Irans Regime droht seinen Gegnern mit der Todesstrafe, vom 3.11.2022; FAZ, 1.000 Demonstranten im Teheran angeklagt, vom 1.11.2022).
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Weiter bis in den Dezember 2022 hinein zogen sich Proteste durch das ganze Land und die gesamte iranische Bevölkerung. Es gab Kundgebungen in 160 Städten. Das iranische Regime machte – nicht zum ersten Mal – das Ausland verantwortlich. Die Regierung ging und geht mit großer Brutalität gegen die Muslimen vor. Es gibt viele Videos von Polizeigewalt und Repressionen. Immer wieder gehen auch Einsatzkräfte in zivil gegen Demonstrierende vor. Inzwischen soll es nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen rund 500 Tote geben, außerdem sollen mehr als 18.000 Menschen festgenommen worden sein. Auf Seiten der Einsatzkräfte des Regimes gab es demnach mehr als 60 Tote. Es gibt eine Reihe von Todesurteilen. Die ersten Verurteilten wurden hingerichtet, teilweise nach einem erzwungenen Geständnis, wobei das erpresste Geständnis seit vielen Jahren im Iran System hat. Auch auf Seiten der Demonstrierenden kommt es zu Gewalt bis hin zur Tötung von Einsatzkräften. Die iranische Regierung kennt ausdrücklich keine Gnade. Sie sieht Feinde des Iran und deren Verbündete im Inland hinter den Protesten. Als Feinde begreift die iranische Führung die USA und Israel aber auch Saudi-Arabien, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Der Revolutionsführer Al Chamenei hat entschieden, auf nackte Gewalt zu setzen. Die Staatskräfte sind angewiesen, mit Härte vorzugehen und auch den Tod von Protestierenden in Kauf zu nehmen. Die Gewalt wird wahllos eingesetzt. Selbst zufällige Passanten, Jugendliche und Kinder bleiben nicht verschont. Des Weiteren gibt es schwere Vorwürfe gegen Sicherheitskräfte im Iran, bewusst sexualisierte Gewalt gegen Demonstrantinnen einzusetzen bis hin zur Vergewaltigung. Inhaftierte berichten über lange Verhöre, Schläge, Schlafentzug und Drohungen, auch Familienangehörige festzunehmen. Geständnisse oder Reuebekenntnisse werden unter Folter erpresst und auf Video aufgenommen. Auch Augenzeugen und Familienangehörige werden drangsaliert. (vgl. etwa Deutschlandradio – Drei Monate Proteste im Iran, vom 17.12.2022; Die Zeit, Gehängt im Namen Gottes, vom 15.12.2022; FAZ, Iran warnt vor einem Bürgerkrieg, vom 18.11.2022 sowie Amnesty International, Journal, „Frau, Leben, Freiheit“, vom 7.12.2022; „Mullah muss weg“, vom 5.12.2022; „Mindestens 21 Menschen von Todesstrafe bedroht“ vom 18.11.2022; FR, Keine Gnade im Iran vom 28.12.2022; NZZ, Schwere Vorwürfe gegen Polizisten im Iran: Vergewaltigen sie Demonstrantinnen? vom 25.12.2022 sowie Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes, Zusammenfassung Iran – Juli bis Dezember 2022, vom 1.1.2023; Amnesty International, Report 2022, Länderbericht „Iran“, vom 28.3.2023).
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Die Protestaktionen und Repressionen gingen auch nach dem Jahreswechsel im Jahr 2023 weiter, auch wenn die Proteste zwischenzeitlich etwas abgenommen haben. Auf der Straße finden sich teilweise subtilere Formen, z.B. Anti-Regimeslogans, beschriftete Geldscheine, Slogans auf Wänden, übermalte Plakate, Rufe von Dächern und aus Fenstern. Immer mehr Frauen, gerade auch in Teheran, legen öffentlich das Kopftuch ab. So drücken insbesondere viele Frauen inzwischen durch zivilen Ungehorsam ihren Unmut aus. Der iranische Staat geht mit brutaler Gewalt gegen die Proteste vor. Weiterhin werden echte und vermeintliche Gegner verhaftet und misshandelt. Oppositionelle werden in unfairen Gerichtsverfahren zu hohen Haftstrafen verurteilt. Die Haftbedingungen wirken wie eine zusätzliche Bestrafung. Verhaftete kommen in Isolationshaft bzw. verschwinden direkt nach ihrer Festnahme. Oft beginnen unmittelbar nach der Inhaftierung meist Folter oder andere Misshandlungen um die Inhaftierten zu bestrafen, zu erniedrigen und zu Geständnissen zu zwingen. Schläge, auch mit einer Peitsche, und Aufhängen an den Gliedmaßen sind dabei die häufigsten Formen. Es werden auch Elektroschocks und Erstickungstechniken wie „waterboarding“ eingesetzt, ebenso sexualisierte Gewalt bis hin zu Vergewaltigungen oder Scheinhinrichtungen angewendet. Hinzu kommen verschiedene Formen psychischer Folter. Man droht etwa, nahe Verwandte zu inhaftieren, zu foltern und zu töten. Gleichzeitig wird vor Ort medizinische Behandlung verweigert. Sicherheitsbehörden gehen gezielt gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor und setzen mit Gewalt die diskriminierende Kleiderordnung auch für Frauen durch. Das iranische Regime kennt keine Gnade. Es sieht ausländische Mächte hinter den Protesten und begreift neben der USA und Israel auch weitere Staate wie Deutschland als Feinde (vgl. etwa FR, Das Regime sitzt auf einem Pulverfass, vom 23.2.2023; NZZ, Die nächste Etappe der Proteste beginnt, vom 21.2.2023; NZZ, Proteste im Iran: In mehreren Iranischen Städten wird erneut demonstriert, vom 17.2.2023; taz, Drei Journalistinnen im Iran festgenommen vom 24.1.2023; SZ, Der Staat im Staate, vom 23.1.2023; Der Spiegel, Tödliches Patt, vom 21.1.2023; Amnesty Journal Iran, Doppelt bestraft, vom 20.1.2023; HRW World Report 2023, Iran, vom 12.1.2023; NZZ, Schwere Vorwürfe gegen Polizisten im Iran: Vergewaltigen sie die Demonstrantin…, vom 25.12.2022; FR, Keine Gnade im Iran, vom 28.12.2022 sowie Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 27.2.2023, 13.2.2023, 30.1.2023, 16.1.2023, 9.1.2023).
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Im Zeitraum von September 2022 bis Februar 2023 wurden über 500 Demonstranten und Demonstrantinnen getötet und fast 20 000 inhaftiert. Festgenommene berichten von Folter. Bis Januar wurden 18 Personen zum Tode verurteilt. Vier Todesurteile wurden vollstreckt (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation Iran, Proteste, exilpolitische Tätigkeiten und Vorgehen der iranischen Behörden, vom 23.2.2023).
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Die Protestkundgebungen haben sich auch anlässlich des internationalen Frauentages (8.3.2023) sowie in der Folgezeit fortgesetzt, die sich insbesondere auch gegen die Kopftuchpflicht und für die Freiheit und Gleichheit gerichtet haben. Auch im Zusammenhang mit den aufgetretenen Giftanschlägen gegen Schülerinnen und der deshalb erfolgten Proteste haben die iranischen Behörden den Vorwurf geäußert, dass die jüngsten Ausschreitungen durch Personen erfolgten, die mit ausländischen Medien kooperierten. Zahlreiche Schülerinnen hatten sich an den Demonstrationen nach dem Tod von M* … J* … Amini, einer Kurdin, beteiligt und verstoßen weiterhin gegen das Kopftuchgebot. Der islamische Staat mit seinem riesigen Sicherheitsapparat verfügt über ein dichtes Netzwerk von Überwachungskameras im ganzen Land und ist so fähig zu einer engmaschigen Bespitzelung. Es geht dabei im Iran nicht nur um das Kopftuch, sondern um die systematische Unterdrückung von Frauen. Weiße Foltermethoden werden eingesetzt; „weiße Folter“, also „saubere“ Methoden, weil die Methoden vorrangig die Psyche einer Person zermürben und keine physischen Spuren hinterlassen. Zudem sind unter den Protestierenden sehr viele Kurden, sodass die iranische Regierung umso mehr mit exzessiver Gewalt gegen diese vorgeht, zumal auch des Slogan „Jin Jiyan Azadi“ – Frau Leben Freiheit – aus dem Kurdischen kommt. Die Brutalität des iranischen Staates in seiner ganzen Bandbreite trifft selbst Kinder und Jugendliche (FR, Eine Tochter kämpft für ihre Mutter, vom 28.3.2023; Amnesty Journal, Iran, Widerstand aus Tradition, vom 22.3.2023; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 13.3.2023 und 20.3.2023; Der Spiegel, Folter von Minderjährigen, vom 18.3.2023; FR, Mit Giftgas gegen die Jugend vom 13.3.2023; FZ, Mädchen vergiftet und der Staat schaut zu, vom 11.3.2023; taz, Es geht um so viel mehr als das Kopftuch, vom 7.3.2023).
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In der Folgezeit kam es zu weiteren regimefeindlichen Protesten und auch entsprechenden Repressionen des islamischen Staates, etwa zum Neujahrsfest Mitte März 2023. Auch Minderjährige waren physischer, psychischer und selbst auch sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Unter den Aufständischen im Iran sind sehr viele Kurden und Kurdinnen. Deshalb gehen die Sicherheitskräfte – besonders in kurdischen Gebieten – hart gegen Protestierende vor und wenden exzessive Gewalt an. Auch weitere Foltermethoden werden angesetzt, bei denen es vorrangig darum geht, die Psyche einer Person zu zermürben, ohne dass diese Methoden physische Spuren hinterlassen. Ankündigungen zur Abschaffung der Sittenpolizei haben sich als falsch erwiesen. Verstöße gegen Bekleidungsvorschriften für Frauen werden auf verschiedene Weise geahndet, etwa Ermahnung und Schläge, Teilnahme an Moralunterricht und Geldstrafen bis zur Inhaftierung und Strafverfahren, auch sexualisierte Gewalt gegenüber Gefangenen. Wenn auch im geringen Umfang sind immer noch Demonstranten auf den Straßen Irans zu sehen; ebenso Verstöße gegen die Bekleidungsvorschriften. In sozialen Netzwerken sind die Protestaktivitäten allgegenwärtig. Verstöße gegen Bekleidungsvorschriften werden wieder strenger kontrolliert. Die iranischen Behörden verstärken die Unterdrückung von Frauen und Mädchen, die sich dem Kopftuchzwang widersetzen. Behörden verbannen Frauen ohne Kopftücher aus Hochschulen, öffentlichen Verkehrsmitteln, verwehren ihnen den Zugang zu Finanzdienstleistungen und schließen Unternehmen, die die Kopftuchpflicht nicht umsetzen. Durch Massenüberwachungstechnologien werden unverschleierte Frauen in ihren Autos und in Fußgängerzonen identifiziert. Im April 2023 wurden etwa mehr als eine Million Frauen, die ohne Kopftuch am Steuer gefilmt worden sind, per Textnachrichten davor gewarnt, dass ihre Fahrzeuge beschlagnahmt würden. Frauen wurden von Universitäten suspendiert oder von Abschlussprüfungen ausgeschlossen. Ein neues geplantes Gesetz sieht härtere Haftstrafen vor. Hinzu können Ausreiseverbote, Beschlagnahme von Pässen, Entzug von Bürgerrechten kommen. Gerade im Zusammenhang mit dem Jahrestag des Todes von M* … A* … im September 2023 kommt es verstärkt zu Verhaftungen und repressiven Maßnahmen. Familien Getöteter werden schikaniert, etwa willkürlich festgenommen, inhaftiert, Grabsteine zerstört. Die Straßenproteste im Iran haben zwar mittlerweile nachgelassen, jedoch ist die Opposition gleichwohl noch aktiv, etwa in den sozialen Medien. Zudem gehört ziviler Ungehorsam, Missachtung der Gesetze zum Alltag, ebenso die Repressionen der Behörden. Am 20. September 2023 soll schließlich ein Gesetzentwurf zu Hijab- und Keuschheitsregeln mehrheitlich vom Parlament angenommen worden sein. Der Gesetzentwurf, der noch vom Wächterrat ratifiziert werden muss, sieht erweiterte Strafen bei Verstößen gegen islamische Vorschriften vor, die von zwischenzeitlichen Festnahmen über Geldstrafen und den Entzug von Bürgerrechten bis hin zu Haftstrafen reichen können. Als Verstoß gelten demnach die Verbreitung und die Förderung von Nacktheit, Unsittlichkeit, Hijab-Verletzungen oder unangemessene Kleidung in der Öffentlichkeit, in sozialen oder in ausländischen Medien. Zudem soll eine umfassende Geschlechtertrennung durchgesetzt werden. Eine Erweiterung der Zuständigkeit von Sicherheitsbehörden für die Überwachung und Durchsetzung der Kleiderordnung ist ebenfalls vorgesehen. Ein entsprechender Gesetzentwurf ist zurzeit noch beim Parlament, das zur Nachbesserung aufgefordert worden ist. Im Übrigen hat Iran auch zuletzt wieder seine Repressionen verschärft und nutzt gerade auch den Krieg im Gaza-Streifen, um im eigenen Land hart durchzugreifen (vgl. im Einzelnen die im Regelfall wöchentlich erscheinenden Briefing Notes des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27.3.2023 bis zuletzt 30.10.2023 sowie etwa Der Spiegel, Folter von Minderjährigen, vom 18. März 2023; Amnesty International, Journal Iran, Widerstand aus Tradition, vom 22. März 2023; FR, eine Tochter kämpft für ihre Mutter, vom 28. März 2023; Amnesty International, Auskunft an das OVG SH vom 20. April 2023; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Zum Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie in der islamischen Republik, Entscheiderbrief 5/2023 S. 4 ff.; Amnesty International, Was als Protest gegen den Tod einer jungen Iranerin begann, ist zur dauerhaften Herausforderung für das Regime geworden, vom 11. Juni 2023; Amnesty International, Iran: Zunehmende Unterdrückung von Frauen und Mädchen durch Sittenpolizei und Massenüberwachung vom 26. Juli 2023; Amnesty International, Aktuell, Iran: Familien der Getöteten müssen am Jahrestag der Proteste in Frieden trauern dürfen, vom 21. August 2023; Amnesty International, Journal, Iran, Viel Glut unter der Asche, vom 4. September 2023; NZZ, Iran verschärft die Repression, vom 25.10.2023; taz, Der Nutznießer des Krieges sitzt im Iran, vom 25.10.2023; vgl. zum Ganzen auch BFA, Bundesamt für Fremdenwesen der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran vom 13.4.2023).
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Hinzu kommt des Weiteren, dass die iranische Regierung seit Jahren die sozialen Medien überwacht, um Regimegegner zu identifizieren. Die sozialen Medien sind ein wichtiger Bestandteil in der Protestbewegung. Die iranische Regierung geht auch anlässlich der Proteste in den sozialen Medien gegen aktive Aktivisten und Aktivistinnen vor. Abseits der Überwachung von Inhalten in den sozialen Medien reagieren die iranischen Behörden auf die Proteste unter anderem mit einer Drosselung der Internetgeschwindigkeit. Es wird vermutet, dass die Behörden ein Computersystem verwenden, das hinter den Kulissen der iranischen Mobilfunknetze arbeitet und den Betreibern eine breite Palette von Fernbefehlen zur Verfügung stellt, mit denen sie die Nutzung der Telefone ihrer Kunden verhindern, stören und überwachen können, wie z.B. die Datenverbindungen verlangsamen, die Verschlüsselung von Telefongesprächen hacken, die Bewegungen von Einzelpersonen oder Gruppen verfolgen und detaillierte Zusammenfassungen von Metadaten darüber erstellen, wer mit wem, wann und wo gesprochen hat. Die iranischen Behörden sind dabei in der Lage, sich auch ohne physischen Zugriff auf Geräte in Smartphones zu hacken und private Kommunikationen wie auch Kommunikationspartner in den sozialen Medien zu überwachen. Aber auch Iraner und Iranerinnen, die im Ausland leben und sich dort öffentliche regimekritisch äußern, sind von Repressionen bedroht. Es ist bekannt, dass Vertreter des iranischen Geheimdienstministeriums in Europa präsent sind und die iranische Diaspora unter genauer Beobachtung halten. Iranische Agenten agieren teilweise aus den jeweiligen Botschaften heraus. Auch die gerade in Europa lebenden Iraner werden unter genauer Beobachtung gehalten (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran vom 13.4.2023, S. 12, 33, 49 f.; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Iran, Ahwazi-Aktivisten und -organisationen, Behandlung durch iranische Behörden, vom 10.3.2023, S. 24 f.; Kurzinformation der Staatendokumentation, Iran, Proteste, exilpolitische Tätigkeiten und Vorgehen der iranischen Behörden vom 23.2.2023, S. 2 f.; vgl. auch schon Länderinformation der Staatendokumentation Iran vom 23.5.2022; Accord, Anfragebeantwortung zum Iran, Überwachung von Aktivität im Ausland, exilpolitische Aktivitäten Konversion vom 5.7.2019).
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Denn da ein erheblicher Anteil regimekritischer Debatten im virtuellen Raum und über die sozialen Medien stattfindet, überwacht das iranische Regime entsprechend das Internet und den mobilen Datenweg. Netzaktivitäten besonders engagierter Personen, die Einfluss auf die öffentliche Meinung ausüben können, können in den Blickfang staatlicher Kontrollen geraten. Staatliche Maßnahmen werden seit Jahren vorangetrieben, um regimefeindliche Aktivitäten zu identifizieren und gegen diese vorzugehen. Da das Hauptaugenmerk des Sicherheitsapparates auf dem Schutz des islamischen Regimes liegt, sollen jegliche Aktivitäten identifiziert werden, die dessen Kontrolle und Autorität gefährden und untergraben können. Im Fokus der Überwachung können Online- und Social-Media-Aktivitäten von Personen, Gruppen und Medien stehen, die das politische und religiöse Gefüge anfeinden und in Frage stellen. Besonders gefährdet sind insbesondere diejenigen mit einer hohen Reichweite und Vernetzung (etwa auch aufgrund ihrer Profession, Kontakte, Bekanntheit) sowie mit entsprechend anzunehmendem Einfluss auf die Öffentlichkeit, darunter auch Iranerinnen und Iraner im Ausland (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Informationszentrum Asyl und Migration, Länderanalysen Kurzinformation Iran, Netzaktivitäten – Netzüberwachung, Juli 2023).
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Nach dieser Erkenntnislage wirken die landesweiten Unruhen, Proteste und sonstigen Aktivitäten im Iran seit September 2022 sowie die repressiven Gegenmaßnahmen durch den iranischen Staat bei einer Rückkehr aus dem (westlichen) Ausland in den Iran gefahrerhöhend jedenfalls, wenn die asylsuchende Person schon zuvor wegen ihres Vorfluchtverhaltens und/oder wegen ihres Verhaltens im Ausland im Fokus der iranischen Sicherheitsbehörden stand und steht.
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Gleichwohl ist nach der Erkenntnislage gesamtbetrachtend nicht davon auszugehen, dass jeder Iraner bzw. jede Iranerin, die sich im Ausland aufgehalten hat, bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politischer Verfolgung zu rechnen hat. Vielmehr ist auf den jeweiligen Einzelfall abzustellen. Konkret bleibt weiter im Einzelfall zu prüfen, ob jemand aufgrund seiner Aktivitäten im Iran bzw. seiner exilpolitischen Aktivitäten von iranischen Behörden als Regimegegner erkannt und identifiziert wird und im Falle einer Rückkehr deswegen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Gefahr gerät. Angesichts der Massenproteste in und außerhalb Iran und auch in Deutschland (auch im Internet) innerhalb des letzten Jahres ist es lebensfremd und unwahrscheinlich, dass jeglicher Teilnehmer unterschiedslos bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit flüchtlingsrelevanten Repressalien rechnen muss (VG Würzburg, U.v. 25.9.2023 – W 8 K 23.30323 – UA S. 26; U.v. 20.3.2023 – W 8 K 22.30683 – juris Rn. 37 m.w.N. sowie etwa VG Braunschweig, U.v. 5.6.2023 – 2 A 222/19 – juris Rn. 39).
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Ausgehend von der gegebenen Bedrohungs- und Gefährdungslage muss die Klägerin nach den Umständen ihres Einzelfalles bei einer Rückkehr in den Iran nicht mit politisch motivierter Verfolgung oder sonst mit ernsthaften Gefahren rechnen.
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Die Klägerin gab auch in der mündlichen Verhandlung – wie auch schon beim Bundesamt – lediglich an, an zwei Demonstrationen im Oktober 2022 in Deutschland teilgenommen zu haben und verwies zu fehlenden eigenen weiteren Aktivitäten auf ihren aufenthaltsrechtlichen Status. Dem ist aber entgegenzuhalten, dass es etwa auch in Würzburg irankritische Demonstrationen gegeben hat, zu denen sie hätte gehen können, ohne dass es ihr aufenthaltsrechtlich verboten gewesen wäre. Im Übrigen wäre es ihr unbenommen gewesen, exilpolitische Aktivitäten in ihrem räumlichen Wohnumfeld, etwa in ihrer Wohnortgemeinde in Deutschland an den Tag zu legen. Angesichts der massenhaften Teilnahmen von iranischen Staatsangehörigen an einer regimekritischen Demonstration und sonstigen Aktionen weltweit ist indes festzuhalten, dass die spärliche vereinzelte Demonstrationsteilnahme der Klägerin, die schon über ein Jahr zurückliegt, nicht für die begründete Annahme einer Verfolgungsgefahr ausreicht, zumal die Klägerin auch nicht angegeben hat, in irgendeiner Weise herausragend oder in auffälliger Funktion aufgetreten zu sein. Sie wirkt vielmehr wie eine von vielen sonstigen Demonstrationsteilnehmern, wie die vorgelegten Fotos belegen.
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Genauso geringfügig und niederschwellig stellen sich die Aktivitäten der Klägerin in den sozialen Medien dar. Die Klägerin gab insofern aufrichtig an, sie habe einmal 500 bis 600 Follower gehabt, aber diese habe sie zuletzt aus Angst gelöscht, noch mehr zu bekommen. Sie habe Angst vor ihrem Vater und, dass ihr Vater sie entdecken könne. Sie habe Angst, dass der Vater ihre Aktivitäten auf den sozialen Medien entdecke und deshalb Druck auf ihre Mutter ausübe.
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Auch insofern ist nicht ersichtlich, dass die Klägerin nach ihrem Vorbringen irgendwie aus der großen Masse der anderen exilpolitisch aktiven Iraner und Iranerinnen herausragt. Sie erklärte nur, sie habe im Zusammenhang und mit den Vorkommnissen im Iran viele Stories abgegeben. Sie habe die Stories von anderen Personen abgegeben, aber gelegentlich habe sie auch selbst welche verfasst. Sie habe diese Informationen auf Instagram verbreitet. Aus dem Vorbringen ist schon nicht ersichtlich, dass die Klägerin damit öffentlich in Erscheinung getreten ist und auch einen breite Zahl von Personen bekannt sein könnte, sodass auch insofern fernliegt, dass sie durch diese Aktivitäten ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staates erweckt haben könnte, selbst wenn die Klägerin identifiziert würde. Näheres Relevantes hat die Klägerin zu aktuellen exilpolitischen oppositionellen Aktivitäten nicht vorgebracht.
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Gesamtbetrachtet fehlt es bei der Klägerin an einem öffentlichkeitswirksamen in Erscheinung treten nach außen und erst recht an einer Exponiertheit, die die Klägerin zum einen identifizierbar macht und die zum anderen so in den Iran hineinwirkt, dass wegen der von ihr ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staates besteht. Bei vereinzelten gebliebenen geringfügigen, niederschwelligen regimekritischen Aktivitäten in Deutschland, wie von der Klägerin vorgebracht, hält das Gericht eine drohende Verfolgungsgefahr nicht für beachtlich wahrscheinlich (vgl. schon VG Würzburg, U.v. 23.10.2023 – W 8 K 23.30233 – UA S. 23 ff.; U.v. 12.6.2023 – W 8 K 23.30105 – UA S. 15 f. sowie BayVGH, B.v. 10.7.2023 – 14 ZB 22.31080 – juris Rn. 13; B.v. 15.1.2013 – 14 ZB 12.30220 – juris Rn. 11).
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Vorstehendes gilt auch hinsichtlich der aktuellen Ereignisse im Iran, weil trotz der sich verschlechternden Sicherheitslage gleichwohl gesamtbetrachtend davon auszugehen ist, dass nicht jede(r) Iraner bzw. Iranerin, der/die sich im Ausland aufgehalten hat, bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politischer Verfolgung zu rechnen hat. Vielmehr ist auf den jeweiligen Einzelfall abzustellen und zu prüfen, ob jemand aufgrund seiner exilpolitischen Aktivitäten von iranischen Behörden als Regimegegner qualifiziert und identifiziert wird. Angesichts der Massenproteste von September 2022 bis heute im Iran und in anderen Staaten, auch in Deutschland, ist es lebensfremd und unwahrscheinlich, dass jeglicher Teilnehmer unterschiedslos bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit flüchtlingsrelevanten Repressalien rechnen muss. Aufgrund der Masse an regimekritischen Aktionen in Deutschland und andernorts sowie der Anzahl der Teilnehmer an diesen Aktionen einschließlich der damit verbundenen Masse an Veröffentlichungen auch in sozialen Medien und der begrenzten Kapazitäten der iranischen Behörden hat das Gericht – nach den vorliegenden Erkenntnissen – keine Anhaltspunkte, dass gleichsam jeder Teilnehmer ohne weiteres mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr verfolgt würde. Bedeutung für eine relevante Verfolgungsgefahr im Einzelfall kann einer Gesamtschau, insbesondere vom Ausmaß der Aktivitäten vor der Ausreise sowie Umfang, Inhalt, Ausmaß der Tätigkeiten im Ausland und dem zu erwartenden Grad der zu Aktivitäten bei einer Rückkehr in den Iran, zukommen. Relevant sind dabei zum Beispiel auch die Intensität der Aktivitäten in Deutschland, die Erkennbarkeit nach außen, die Identifizierbarkeit der Person bei ihren Aktivitäten und neben der Qualität auch die Quantität der Aktivitäten, um letztlich auf ein beachtlich wahrscheinliches Verfolgungsinteresse des iranischen Staates schließen zu können. Denn maßgeblich für die Frage, ob ein Iraner (oder eine Iranerin) bei einer Rückkehr in den Iran mit Verfolgung rechnen müsste, ist, ob dieser sich in Deutschland ernsthaft, offen und kontinuierlich regimekritisch betätigt hat und ob gerade diese Betätigung die Annahme rechtfertigt, dass der freie Ausdruck seiner regimekritischen Haltung für die Identität insofern so wichtig ist, dass er auch bei einer Rückkehr in den Iran den Drang verspüren würde, sich an regimekritischen Protesten zu beteiligen. Umgekehrt ist der Schluss gerechtfertigt, dass der Betreffende bei der Rückkehr in den Iran sich auch dort nicht aktiv an oppositionellen Tätigkeiten beteiligten würde, wenn er sich selbst schon in Deutschland bei den sich ihm gefahrlos bietenden Möglichkeiten und Freiheiten nur sehr rudimentär an regimekritischen Protesten sowohl tatsächlich als auch online beteiligt und auch sonst nicht das Verfolgungsinteresse des iranischen Staates weckt, so dass keine Verfolgungsgefahr anzunehmen ist (vgl. m.w.N VG Würzburg, U.v. 23.10.2023 – W 8 K 23.30223, UA S. 25 ff.; U.v. 12.6.2023 – W 8 K 23.30105 – UA S. 16 f.; U.v. 2.1.2023 – W 8 K 22.30737 – juris Rn. 47; ebenso etwa zuletzt VG Köln, U.v. 21.7.2023 – 12 K 319/20.A – juris Rn. 22 ff.; VG Hamburg, U.v. 20.7.2023 – 10 A 4016/21 – juris Rn. 27; BayVGH B.v. 10.7.2023 – 14 ZB 22.31080 – juris Rn. 13; VG Braunschweig, U.v. 5.6.2023 – 2 A 222/19 – juris Rn. 36 ff., 39 ff.; VG Meiningen, U.v. 6.3.2023 – 5 K 1368/22 Me, 9331572 – juris S. 9 f. und 11 f.; VG Gießen, U.v. 28.4.2023 – 3 K 2214/19.GI.A – juris Rn. 30; VG Aachen, U.v. 18.4.2023 – 10 K 2279/20.A – juris Rn. 49 ff., 59 f. U.v. 5.12.2022 – 10 K 2406/20.A – juris Rn. 35 ff., 50 ff., 52 ff.; VG Berlin, U.v. 17.1.2023 – VG 17 K 4/23 A – juris UA S. 7).
54
Ein anderes Ergebnis folgt auch nicht aus dem Vorbringen, dass die Klägerin kein Kopftuch trage und auch bei einer Rückkehr kein Kopftuch mehr tragen wolle, insbesondere ist bei ihr (noch) nicht von einer identitätsprägenden Verwestlichung auszugehen. Das dahingehende Vorbringen belegt nicht schlüssig eine westliche Prägung in dem Sinne, dass die Klägerin infolge eines längeren Aufenthalts in Deutschland in ihrer Identität derart westlich geprägt worden wäre, dass ihr bei einer Rückkehr in den Iran entweder nicht mehr in der Lage wäre ihren Lebensstil den dort erwartenden Verhältnissen und Traditionen anzupassen, oder ihr dies infolge des erlangen Grades ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden könnte (vgl. BayVGH, B.v. 30.3.2023 – 14 ZB 23.30010 – juris Rn. 6).
55
Nach Überzeugung des Gerichts liegt keine mit dem Aufenthalt in Europa und insbesondere in Deutschland verbundene Prägung vom westlichen Lebensstil vor, wodurch sie bei einem dauerhaften Aufenthalt im Iran nunmehr zwangsläufig aufgrund der aktuellen Gegebenheiten dort staatlichen Repressionen ausgesetzt wäre. Voraussetzung für die Annahme einer solchen Verfolgungsgefahr wäre eine bereits eingetretene identitätsprägende Verwestlichung der Klägerin.
56
Denn wegen einer identitätsprägenden Verwestlichung oder aus religiösen Gründen ist eine Rückkehr für eine Iranerin in ihr Heimatland unzumutbar, wenn die begründete Annahme getroffen werden kann, dass sie tatsächlich etwas aus einem inneren Zwang heraus gegen die Bekleidungsvorschriften verstoßen müsste und ihr deswegen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen drohen würden (vgl. schon VG Würzburg, U.v. 27.2.2023 – W 8 K 22.30881 – juris Rn. 68 ff.; U.v. 2.1.2023 – W 8 K 22.30737 – juris Rn. 50 mit Bezug auf OVG LSA, U.v. 2.3.2022 – 4 LB 785/20 OVG – juris Rn. 55; VG Trier, U.v. 21.1.2022 – 11 K 3538/20.TR, 8036505 – juris S. 7 f.; VG Hamburg, U.v. 20.7.2021 – 10 A 5156/18 – juris Rn. 34; U.v. 7.7.2021 – 10 A 2109/19 – juris Rn. 43; VG Gießen, U.v. 4.6.2021 – 5 K 513/20.GI.A, 7758789 – juris S. 9 f.). Davon ist bei der Klägerin nicht auszugehen.
57
Insbesondere, wenn sie sich als Nicht-Muslima zu erkennen geben, laufen Iranerinnen Gefahr, strafrechtlich belangt zu werden. Es ist verboten zu konvertieren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 18.11.2022, vom 30.11.2022, S. 15; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG SH vom 24.6.2023 S. 8 ff.; siehe auch BFA Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Iran, Gesetzeslage zu Apostasie, Behandlung von Atheisten). Dabei genügt auch für ein Todesurteil allein der bloße Abfall vom Islam unabhängig vom Wechsel in eine andere Religion. Infolgedessen ist auch dann wegen Apostasie mit Repressionen und strafrechtlicher Verfolgung zu rechnen, wenn keine Konversion zu einer anderen Religion erfolgt, sondern die Betreffende nur Atheistin ist. Hinzu kommt, dass die politische Situation im Iran dazu führt, dass westlich geprägte Frauen zu einer in diesem Sinne unzumutbaren Anpassung an religiöse Vorschriften gezwungen werden. Die im Iran geltenden Verhaltens- und Bekleidungsvorschriften bewirken bei Frauen deutlich stärkere Einschränkungen als für Männer und tragen zu einer niedrigeren sozialen Stellung und schlechteren Entfaltungsmöglichkeiten bei. Wenn Frauen sich dem nicht unterwerfen und deshalb bestraft werden, erhält das diese Bedingungen aufrecht. Derartige Strafen haben politischen Charakter. Sie gelten zwar für alle Frauen. Strafen für die Durchbrechung den islamischen Vorschriften treffen jedoch nur die Frauen, die sich nicht daran halten. Tun sie das aus politischer und/oder religiöser Überzeugung oder wird ihnen deshalb eine solche Überzeugung unterstellt, liegt darin eine Verfolgung im Sinnen von § 3 Abs. 1 AsylG. Frauen, die in Folge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt sind, dass sie bei einer Rückkehr in eine islamische Republik entweder nicht mehr in der Lage wären, ihren Lebensstil im dort erwarteten Verhaltensweisen und Tradition anzupassen, oder denen dies in Folge des erlangten Grade ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann, können eine soziale Gruppe darstellen. Abzustellen ist auf die Umstände des Einzelfalles (siehe nur VG Bremen, U.v. 18.1.2023 – 1 K 1738/21 – juris Rn. 30 ff.; m.w.N.).
58
Hintergrund ist die rechtliche und tatsächliche Situation von Frauen im Iran. Nach der Erkenntnislage (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Iran, Stand: 18.11.2022, vom 30.11.2022, S. 12 f.; Auskunft vom 14.6.2023 an das OVG SH S. 7 f.) sind Frauen im Iran erheblichen vielfältigen Diskriminierungen unterworfen. Frauen werden im Iran wegen ihres Geschlechts in wesentliche Lebensbereiche im Vergleich zu Männern rechtlich und tatsächlich systematisch und kategorisch benachteiligt. Die Frauen sind den Männern untergeordnet. Da insoweit alle einfachgesetzlichen Normen mit der Scharia vereinbar sein müssen und im Iran einer traditionellen Rechtsauslegung der Scharia erfolgt, kommt es vor allem in den Bereichen zum Ehe- und Scheidungsrecht, dem Sorgerecht und in Erbschaftsangelegenheiten zu erheblichen Benachteiligungen für Frauen. Es kommt zu häuslicher Gewalt, zu Zwangsverheiratung und Kinderehen. Frauen werden durch die islamische Rechts- und Werteordnung diskriminiert. Es gibt Diskriminierungen im Ehe- und Scheidungsrecht, im Sorgerecht und in Erbschaftsangelegenheiten, weiter Diskriminierungen im Selbstbestimmungsrecht, im Vertragsrecht, beim Zugang zum Arbeitsmarkt, beim Zugang zu politischen und öffentlichen Ämtern, im Strafrecht, auch im Arbeitsbereich in öffentlichen Institutionen und im gesellschaftlichen Leben. Die Bekleidungsvorschriften, insbesondere der Kopftuchzwang haben Symbolkraft. Es geht dabei auch vor allem um die Frage, ob sich die Frauen der Herrschaft der islamischen Regierung und der nationalen Sicherheit unterwerfen oder eine moderne Auslegung des Islams begehren und Reformen einfordern. Alleinstehende bzw. geschiedene Frauen sind Benachteiligungen durch kulturelle und traditionelle Gewohnheiten ausgesetzt. Inflation und Frauenfeindlichkeit treffe sie härter. Unabhängige, ledige Frauen haben aufgrund der wirtschaftlichen sozialen Unsicherheit häufig Schwierigkeiten Mietverträge zu erhalten und bekommen stattdessen in einigen Fällen bei der Suche nach Mietwohnungen unmoralische, sexuelle Angebote. Im Strafrecht zeigt sich die Benachteiligung von Frauen besonders bei Zeugenaussagen. Opfer sexueller Gewalt könne nicht auf den Schutz von Behörden vertrauen (vgl. ausführlich Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport Iran – Länderreport 56, Rechtliche Situation der Frauen, Stand: Januar 2023; vgl. auch VG Regensburg, U.v. 29.8.2023 – RN 4 K 22.30942, 8349084 – juris UA S. 14 ff.; U.v. 11.5.2023 – RN 4 K 21.31337, 82033422 – juris S. 8 ff.; VG Hamburg, U.v. 8.11.2022 – 10 A 2821/20, 7472832- juris UA S. 9 ff.; siehe auch VG Würzburg, U.v. 25.9.2023 – W 8 K 23.30109 – UA S. 28 ff.; U.v. 2.1.2023 – W 8 K 22.30758 – juris Rn. 26.ff.; jeweils m.w.N.).
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Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen uns Asyl befasst sich ebenfalls ausführlich mit der Situation der Frauen im Iran, gerade nach den Ereignissen seit September 2022 (siehe BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran vom 13.4.2023, S. 99 ff.). Dort ist gerade betont, dass Frauen eine zentrale Rolle bei den landesweiten Protesten gespielt haben, die ihren Protest auch gerade durch zivilen Ungehorsam, etwa durch Ignorierung des Kopftuchzwangs ausdrücken. Verschiedene gesetzliche Verbote machen es Frauen unmöglich, im gleichen Maße wie Männer am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen (z.B. strenge Kleiderordnung, Verbot des Zuganges zu Sportveranstaltungen, Genehmigungsvorbehalt des Ehemannes oder Vaters bezüglich Arbeitsaufnahme oder Reisen). In rechtlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht sind iranische Frauen vielfältigen Diskriminierungen unterworfen. Frauen haben das aktive Wahlrecht, sind jedoch von einigen staatlichen Funktionen ausgeschlossen. Nach dem Gesetz müssen alle Frauen im Iran ab dem Alter von neun Jahren den Islam sowie Vorschriften in der Öffentlichkeit einhalten. Andernfalls können sie zu Auspeitschen oder Bußgeld verurteilt werden. Bei der Beurteilung sind die Frauen dem Ermessen der Disziplinarund Sicherheitskräfte ausgesetzt. Grundsätzlich ist wegen Verstoßes gegen die öffentliche Moral neben Geldbuße oder Freiheitsstrafe auch eine Verhängung von Peitschenhieben möglich. Die Sittenpolizei wendet bei Kontrollen regelmäßig Gewalt an. Die Patrouillen haben zugenommen. Auch nach den landesweiten Protesten seit September 2022 bekräftigen gerade die iranischen Regierungsvertreter ihre Entschlossenheit, die Kopftuchpflicht auch durchzusetzen. Dabei erfolgt die Überwachung nicht nur physisch, sondern auch im Wege der automatischen Gesichtserkennung an öffentlichen Plätzen und in öffentlichen Gebäuden. Zahlreiche Beschränkungen zielen auf Frauen im Sport und der Kultur (Verbot des Singens, außer im Chor, Verbot des Tanzens, Verbot des Zugangs zu Fußballstadien usw., weiterhin Verbot, Rad- oder Motorrad zu fahren). Die Arbeitslosenrate von Frauen ist doppelt so hoch wie bei Männern. Nur etwa 15% aller Frauen über 15 Jahren sind berufstätig. Die verstärkte Rezession und die Covid-19-Pandemie vergrößert die Kluft zwischen Männern und Frauen. Die ultrakonservative Regierung wird der Integration der Frauen auf dem Arbeitsmarkt nicht vorantreiben, weil sie die traditionelle Rolle der Frau in der islamischen Familie stärken und die Geburtenrate erhöhen wolle. Der Zugang zum Arbeitsmarkt und die beruflichen Möglichkeiten für Frauen sind durch soziale und rechtliche Regelungen eingeschränkt. Oftmals wird von Frauen das Einverständnis des Ehemannes oder Vaters verlangt, um eine Erwerbstätigkeit aufnehmen zu können. Ein Ehemann kann seiner Frau jederzeit verbieten, arbeiten zu gehen. Eine verheiratete Frau ohne schriftliche Genehmigung darf des Weiteren etwa keinen Reisepass erhalten oder ins Ausland reisen. Der Ehemann hat das Recht, den Wohnort zu wählen, und kann seine Frau daran hindern, bestimmte Berufe auszuüben. Zeugenaussagen von Frauen werden nur zur Hälfte gewichtet und auch die finanzielle Entschädigung für eine getötete Frau ist geringer. Eine Frau kann sich nur unter bestimmten Voraussetzungen scheiden lassen. Die Vormundschaft für Minderjährige liegt beim Vater bzw. Großvater väterlicherseits. Ehrenmorde sind in ländlichen Gebieten verbreitet.
60
Aufgrund der dargestellten Erkenntnislage ist im Falle einer weiblichen Schutzsuchenden ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegeben, wenn der geschlechtsspezifische Aspekt für sie bedeutsam für ihre Identität oder das Gewissen ist, dass sie nicht gezwungen werden sollte, auf ihn zu verzichten. Es darf hier – ausnahmsweise und einzelfallbezogen – nicht zumutbar erscheinen, sich im Iran den dortigen rechtlichen und gesellschaftlichen iranisch-islamischen und Frauen im Vergleich zu Männern benachteiligenden Regeln zu unterwerfen. Es muss für die betroffene Frau unzumutbar sein, sich künftig regelkonform zu verhalten. Dies gilt gerade dann, wenn eine weiblich Schutzsuchende in Folge des längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität aufgrund der hiesigen Wertevorstellungen hinsichtlich der Gleichberechtigung von Frauen und Männern geprägt worden ist, dass sie entweder nicht mehr in der Lage wäre oder es ihr nicht zugemutet werden kann, bei einer Rückkehr in den Iran ihren Lebensstil den dort erwartenden Verhaltensweisen und Tradition anzupassen (VG Hamburg, U.v. 8.11.2022 – 10 A 2821/20, 7472832 – juris S. 12 ff.). Überdies verletzt eine Verfolgung, die an einem während des Asylverfahrens westlich geprägtes Selbstbild als Frau anknüpft, die Menschenwürde und die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen in besonderer Weise (siehe zum Ganzen VG Bremen, U.v. 18.1.2023 – 1 K 1738/21 – juris Rn. 32 ff.; U.v. 21.12.2022 – 1 K 1535/20 – juris Rn. 25. ff.; U.v. 30.11.2022 – 1 K 1527/20, 7867276 – juris S. 6 ff.; vgl. auch VG Düsseldorf, U.v.6.2.2023 – 2 K 4255/20.A – juris, vgl. auch VG Würzburg, U.v. 25.9.2023 – W 8 K 23.30109 – UA S. 28 ff.).
61
Das Gericht hat nach Würdigung aller Gesamtumstände unter Beachtung des schriftlichen Vorbringens und aufgrund des persönlichen Eindrucks von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung nicht die Überzeugung gewinnen können, dass es für sie einen so hohen Stellenwert hat, ihr Leben selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu führen, dass ihr nicht mehr von Rechts wegen zugemutet werden könne, dauerhaft in den Iran zurückzukehren und sich erneut der Lebenssituation der Frauen dort anzupassen.
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Denn die Klägerin reiste erst vor knapp zwei Jahren im Dezember 2021 nach Deutschland ein und brachte erstmals mit Schriftsatz vom 15. Oktober 2023 vor, dass sie kein Kopftuch mehr trage und dies auch im Iran nicht tun würde, ohne dieses Vorbingen zu vertiefen. In der mündlichen Verhandlung erklärte sie auf entsprechende Frage des Gerichts, sie wolle das Kopftuch nicht mehr aufsetzen. Sie trage jetzt auch kein Kopftuch. Sie habe aber im Iran Kopftuch getragen und ihr Vater habe sie dazu gezwungen. Dies sei wegen seines religiösen Glaubens gewesen. Sie selbst sei zwar geborene Sunnitin, aber sie glaube nicht an die Religion. Sie habe alles nur wegen der Drohung des Vaters gemacht. Später erwähnte sie auch nochmals, sie würde im Iran niemals ein Kopftuch tragen; sie würde eine zweite M* … A* … und auch das Mädchen, das gestern verstorben sei (A* … G* …*), habe 27 Tage im Koma gelegen bloß, weil sie kein Kopftuch getragen habe. Nähere Äußerungen zu ihren Beweggründen und jegliche Angaben, die auf eine dahingehende Identitätsprägung schließen lassen könnten, ließ die Klägerin aber vermissen. Lediglich ihr Klägerbevollmächtigter erklärt am Schluss der mündlichen Verhandlung, die Klägerin sei von den hiesigen Wertvorstellungen von Gleichberechtigung und Selbstbestimmung geprägt, so dass es ihr nicht mehr zumutbar wäre, bei einer Rückkehr in den Iran sich den dortigen traditionellen Lebensverhältnissen anzupassen. Eine nähere Begründung zu Plausibilisierung des Vorbringens erfolgte ebenfalls nicht, sodass die Behauptung ohne weitere Untermauerung in der Luft hängt.
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Die Klägerin erklärte daraufhin lediglich noch, sie sei im Iran 19 Jahre im „Gefängnis“ gewesen, sie habe nichts allein machen dürfen, sie habe nicht allein weggehen dürfen. Ihr sei ein normales Leben nicht möglich gewesen. Als Mensch und als junges Mädchen mit 18 Jahren müsse sie das Recht haben, so leben zu können, wie sie möchte.
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Jedoch allein der Wunsch, ein besseres Leben zu haben als im Iran, bedeutet nicht gleichsam, dass sie nunmehr aufgrund einer Verwestlichung den westlichen Lebensstil angenommen hätte und nunmehr ihre Identität davon geprägt wäre. Denn der Wunsch, in Deutschland bzw. in einem anderen Land als den Iran zu leben, um dort besser zu leben und über alles frei entscheiden zu können, genügt für sich nicht, um eine Bleiberecht zu erlangen (vgl. schon VG Würzburg, U.v. 3.4.2023 – W 8 K 22.30692 – UA S. 8 f.). Die Klägerin hat unter anderen nicht dargelegt, dass sich ihre grundsätzliche Einstellung im Vergleich zu der Iran nunmehr in Europa bzw. gerade in Deutschland geändert habe. Sie schilderte auch nicht ihre etwaigen Beweggründe für einen Einstellungswandel bzw. einer schon im Iran verfestigten, dort verpönten Einstellung.
65
Das Gericht ist so insgesamt nicht überzeugt, dass die Persönlichkeit der Klägerin im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in einem Maße nachhaltig vom westlichen Lebensstil geprägt ist, dass es ihr nicht mehr zugemutet werden könne, sich erneut den vom iranischen Regime für Frauen statuierten Verhaltensvorschriften zu unterwerfen, und, dass diese Prägung Ausdruck der heutigen Persönlichkeit der Klägerin wäre. Auch den Hinweis, dass sie zwar als Sunnitin geboren sei, aber nicht daran glaube hat sie nicht einmal ansatzweise vertieft und in Verbindung mit ihrer nunmehr möglicherweise geänderten Einstellung gebracht. Insofern ist auch bei einer Rückkehr in den Iran nicht anzunehmen, dass der Klägerin seitens staatlicher Stellen nunmehr eine regime- und islamfeindliche politische Gesinnung unterstellt bzw. vorgeworfen würde, verbunden mit der Befürchtung, die Klägerin werde sich islam- und regimekritisch verhalten, ihren westlichen Lebensstil pflegen und sich somit als „Ungläubige“ zu erkennen geben und auch entsprechend äußern.
66
Diese Einschätzung deckt sich auch mit den niederschwellig und geringfügigen gebliebenen exilpolitischen Aktivitäten der Klägerin.
67
Selbst wenn nach alledem eine politische oder sonstige Verfolgung der Klägerin bei einer potentiellen Rückkehr in den Iran nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden kann, steht nach seinem Vorbringen sowie nach der Auskunftslage und der daraus resultierenden Rechtsprechung nach Überzeugung des Gerichts jedenfalls keine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung bzw. einer ernsthaften Gefahr bei einer Rückkehr in den Iran.
68
Falls sich bei der Klägerin künftig die exilpolitischen Aktivitäten intensivieren und/oder die Gewöhnung an den westlichen Lebensstil fortentwickeln würde, so dass von einer westlichen Prägung der Persönlichkeit im Sinne der zitierten Rechtsprechung auszugehen wäre, bzw. sich sonst die Sach- und Rechtslage ändern oder neue Beweismittel vorliegen würden, bleibt es der Klägerin unbenommen, einen Folgeantrag zu stellen.
69
Schließlich ist auch nicht anzunehmen, dass der Klägerin sonst bei einer Rückkehr politische Verfolgung droht, etwa wegen des Auslandsaufenthalts oder der Asylantragstellung in Deutschland. Auslandsaufenthalte sind nicht verboten. Allein der Umstand, dass eine Person in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, löst bei Rückkehr keine staatlichen Repressionen aus; ausgenommen davon sind Personen, die – anders als hier – seitens der iranischen Sicherheitsbehörden als ernsthafte Regimegegner identifiziert wurden und an denen ein Verfolgungsinteresse besteht. Die Auswirkungen der aktuellen Proteste und der blutigen Niederschlagung auf mögliche Rückkehrende lässt sich im Augenblick nicht abschließend einschätzen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Rückkehrende verstärkt von den Sicherheitsdiensten überprüft werden. Bereits vor den aktuellen Protesten ist es in Einzelfällen zu einer Befragung durch Sicherheitsbehörden über den Auslandsaufenthalt gekommen. Insbesondere in Fällen, in denen Iran illegal verlassen worden ist, muss mit einer Befragung gerechnet werden. Bisher ist kein Fall bekannt geworden, in dem Zurückgeführte im Rahmen der Befragung psychisch oder physisch gefoltert wurden. Exiliraner werden explizit ermutigt zurückzukehren; ihnen wird bei Koordinierung mit der iranischen Justiz eine Rückkehr ohne Inhaftierung in Aussicht gestellt. Personen, die das Land illegal verlassen und sonst keine weiteren Straftaten begangen haben, können von iranischen Auslandsvertretungen ein Passersatzpapier bekommen und in den Iran zurückkehren. Abgesehen davon akzeptiert die iranische Regierung unter Verweis auf die Verfassung grundsätzlich ausschließlich freiwillige Rückkehr (Freizügigkeit). Nur bei unterstützter Rückkehr (also im weiteren Sinne auch Umwandlung von Abschiebung in „freiwillige“ Rückkehr durch finanzielle oder sonstige Anreize) ist eine Kooperation realistisch. Konsularkonsultationen über eine Zusammenarbeit bei der Rückführung sind, insbesondere hinsichtlich der Rücknahme schwerer Straftäter, waren noch nicht erfolgreich (siehe zum Ganzen Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Iran, Stand Dezember 2020 vom 5.2.2021, S. 25 f.; Stand 23.12.2021 vom 28.1.2022, S. 4 f. und 21 f.; Stand 18.11.2022 vom 30.11.2022, S. 5 und S. 25 sowie OVG NRW, U.v. 6.9.2021 – 6 A 139/19.A – juris Rn. 74; vgl. im Übrigen VG Würzburg, U.v. 2.1.2020 – W 8 K 19.31960 – juris Rn. 36; U.v. 19.8.2019 – W 8 K 19.30846 – juris Rn. 42; jeweils m.w.N. zur Rspr.).
70
Ergänzend ist noch anzumerken, dass nach der – bereits ausführlich zitierten – Auskunft des Auswärtigen Amtes (Auskunft an das OVG SH vom 14.6.2023, S. 2 ff.) bei der Rückkehr einer iranischen Staatsangehörigen aus dem Ausland die reguläre Passkontrolle stattfindet. Die Behörden können erkennen, wann der Iran verlassen wurde und wie lange der Auslandsaufenthalt gedauert hat, wenn der Iran auf dem legalen Weg verlassen worden ist. Diese Rückkehrer können im Einzelfall über ihren Auslandsaufenthalt befragt und sogar verhaftet werden. Nach Erkenntnis des Auswärtigen Amtes werden weder bei der Einreise nach Iran generell, noch nach längerem Auslandsaufenthalt flächendeckende Befragungen zur politischen Überzeugung durchgeführt. Das heißt aber nicht, dass im Einzelfall solche Befragungen erfolgen. Auch ein alleiniger längerer Aufenthalt im westlichen Ausland hat keine Repression zur Folge. Anders könnte es – anders als bei der Klägerin – nur bei jeweiligen Aktivitäten im Einzelfall sein. Bei einer illegalen Ausreise muss bei einer Rückkehr mit einer Befragung gerechnet werden. Im Rahmen der Befragung wird regelmäßig der Reisepass einbehalten und eine Ausreisesperre ausgesprochen. Die illegale Ausreise ist im Passgesetz geregelt. Eine Strafe ist davon abhängig, wie das Land verlassen wurde. Je nachdem ist mit einer Haftstrafe oder Geldstrafe zu rechnen. Strafverschärfend ist, wenn eine Person – anders als die Klägerin – flüchtig ist, zuvor untergetaucht war oder das Land illegal verlassen hat. Dem Auswärtigen Amt liegen jedoch keine Erkenntnisse darüber vor, ob der iranische Staat eine illegale Ausreise aus dem Iran als Ausdruck regimekritischer Gesinnung ansieht. Infolgedessen würde der Klägerin bei einer illegalen Ausreise allenfalls eine Bestrafung wegen Verstoßes gegen das Passgesetz drohen, die aber gemäß § 60 Abs. 6 AufenthG kein Abschiebungsverbot begründen würde (vgl. näher VG Würzburg, U.v. 23.20.2032 – W 8 K 23.30233 – UA S. 30 u. 32 f.).
71
Nach alledem rechtfertigen weder die einzelnen Aspekte, wie die aktuellen Verhältnisse im Iran, die exilpolitischen Aktivitäten sowie die Ablehnung des Kopftuchs oder die Umstände der Ausreise samt Auslandsaufenthalt, je für sich noch in ihrer Zusammenschau die Voraussetzungen für die Annahme einer mit beachtlichen Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgungsgefahr seitens des iranischen Staates.
72
Nach dem vorstehend Gesagten sind weiter insgesamt betrachtet keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG vorliegen, weil wie schon ausgeführt bei der Klägerin aufgrund ihres letztlich unglaubhaften Vorbringens ein ernsthafter Schaden nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht und zudem eine inländische Aufenthaltsalternative besteht.
73
Des Weiteren bestehen auch keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG, wie das Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid ebenfalls schon zutreffend ausgeführt hat.
74
Schließlich sind auch die Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung sowie die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht zu beanstanden. Auch insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Bundesamtsbescheid Bezug genommen und von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
75
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.