Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 24.10.2023 – W 1 K 23.816
Titel:

Vorliegen eines "tätlichen Angriffs"

Normenketten:
BayBG Art. 97 Abs. 1 S. 1
BayBeamtVG § 54 Abs. Nr. 1
Leitsatz:
Ein "Angriff" iSd Art. 97 Abs. 1 S. 1 BayBG erfordert eine objektive unmittelbare räumlich-zeitliche Gefährdung (objektives Element) aufgrund einer zielgerichteten Verletzungshandlung (subjektives Element). "Tätlich" ist er, wenn er auf einen physischen Schaden gerichtet ist; damit werden grundsätzlich nur vollendete körperliche Beeinträchtigungen oder Gesundheitsschädigungen erfasst. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Erfüllungsübernahme von Schmerzensgeldansprüchen, Begriff des „tätlichen Angriffs“, Fehlen einer unmittelbaren körperlichen Einwirkung, tätlicher Angriff, Schmerzensgeld, körperliche Einwirkung, Erfüllungsübernahme, Körperverletzung, Fremdeinwirkung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 20.02.2024 – 3 ZB 23.2144
Fundstelle:
BeckRS 2023, 37676

Tenor

I.Die Klage wird abgewiesen.
II.Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. 
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt die Erfüllungsübernahme eines rechtskräftig festgestellten Schmerzensgeldanspruchs durch den Beklagten.
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1. Der Kläger steht als Polizeihauptmeister mit Amtszulage im Dienst des Beklagten und ist als solcher an der Polizeiinspektion E. tätig.
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Im Zusammenhang mit einem Polizeieinsatz am 1. Oktober 2017 gab die Schädigerin R. gegenüber Beamten der Polizeiinspektion E. im Wesentlichen an, dass der Kläger Betäubungsmittel erwerben und konsumieren würde. Im Rahmen einer für den 12. Oktober 2017 anberaumten Zeugenvernehmung durch Beamte der Kriminalpolizei S. hielt R. an ihrem bisherigen Vorbringen fest und trug im Wesentlichen ergänzend vor, dass der Kläger, den sie vor vielen Jahren über gemeinsame Bekannte in einer Gaststätte in E. kennengelernt habe, seit etwa 2011 verschiedene Betäubungsmittel erwerbe, einnehme und unter deren Einfluss bisweilen auch seinen Dienst als Polizist versehe.
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Die Angaben der R. führten zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Kläger wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. In diesem Zusammenhang wurde der Kläger am 26. Oktober 2017 in das Büro des Dienststellenleiters der Polizeiinspektion E. beordert, wo er von der Dienststellenleitung und Beamten der Kriminalpolizei erwartet wurde. Am selben Tag wurden gegenüber dem Kläger folgende Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt: Sicherstellung des privaten Mobiltelefons, Durchsuchung der persönlichen Gegenstände auf der Polizeidienststelle in E., Durchsuchung der Wohnung in E., Durchsuchung einer weiteren Wohnung mit Nebenräumen im Elternhaus des Klägers in U. mittels Diensthund, Durchsuchung des Kraftfahrzeugs des Klägers, Urintest, Blutentnahme und Entnahme einer Haarprobe im oberen Kopfbereich (Durchmesser 4 cm). Die Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden ergaben keinerlei Hinweise auf ein strafbares Verhalten des Klägers. Mit staatsanwaltlicher Verfügung vom 8. Februar 2018 wurde das Verfahren eingestellt.
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Mit Adhäsionsantrag vom 31. August 2018 beantragte der Kläger die Schädigerin R. – im Rahmen des nunmehr von den Strafverfolgungsbehörden gegen R. eingeleiteten Strafverfahrens – zu der Zahlung von Schadensersatz und einem angemessenen Schmerzensgeld zu verurteilen. Zur Begründung des Schmerzensgeldanspruchs verwies der Kläger auf die Ansehensschädigung in seinem Wohnumfeld und Kollegenkreis sowie der körperlichen Eingriffe in Gestalt eines Einstichs in den Unterarm bei der erfolgten Blutentnahme sowie der bis zur Kopfhaut abgeschnittene Haare (Durchmesser 4 cm) und der psychischen Belastung als Folge der falschen Anschuldigungen.
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Mit rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts H. vom 20. November 2020 wurde die Schädigerin R. wegen der falschen Verdächtigung im Sinne von § 164 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Zur subjektiven Tatseite führte das Amtsgericht H. in seinen Urteilsgründen aus, dass R. die wahrheitswidrigen und den Kläger belastenden Angaben gemacht habe, damit gegen diesen ein Ermittlungsverfahren eingeleitete werde, in dem R. als Zeugin eine immens wichtige Rolle spielen würde.
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Mit demselben rechtskräftigen Urteil des Amtsgerichts H. – hinsichtlich der Schmerzensgeldhöhe berichtigt durch den Beschluss des Amtsgerichts H. vom 3. Dezember 2020 – wurde die Schädigerin R. auf den vorgenannten Adhäsionsantrag des Klägers hin zu der Zahlung eines Schadensersatzes in Höhe von 1.116,98 EUR für materielle Schäden (Zeitaufwand, Verdienstausfall, entgangene Handynutzung, Fahrtkosten, Anwaltskosten, Aufwandspauschale) sowie zur Zahlung eines Schmerzensgelds in Höhe von 2.000,00 EUR, jeweils nebst Zinsen, verurteilt. Zur Begründung führte das Amtsgericht H. in seinem Urteil aus, dass R. mit der Tat eine unerlaubte Handlung im Sinne des § 823 Abs. 2 Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) begangen habe und dem Kläger daher gemäß §§ 249 ff. BGB Ersatz seines materiellen und immateriellen Schadens zustünde. In Anbetracht der durch die Tat beim Kläger verursachten Unannehmlichkeiten und Beeinträchtigungen sei ein Schmerzensgeld von 2.000,00 EUR angemessen. Ausweislich des Urteils des Amtsgerichts H. vom 20. November 2020 liegt dem Schmerzensgeldanspruch im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde: „Die Angaben der Angeklagten waren frei erfunden und führten zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Zeugen H. Gegen ihn wurde ein Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts B. erwirkt; auch wurde die Entnahme einer Haarprobe angeordnet. Nach Eröffnung der Vorwürfe gab der Zeuge H. freiwillig Urin-, Blut- und Haarproben für Drogenscreening ab. Seine Waffe musste er abgeben; sein Handy wurde sichergestellt und ausgewertet. Für die nachfolgende Nachschicht meldete sich der Zeuge H. krank, weil er durch die Vorwürfe völlig geschockt war. Seine Wohnung mit Nebenräumen, die Wohnung seiner Eltern samt Garage, sein privater Pkw sowie auch sein Spind bei der PI E. wurden von Kriminalbeamten mit Rauschgifthunden durchsucht. Der Zeuge, der bei den Ermittlungen uneingeschränkt kooperierte, wusste einerseits, dass sich im weiteren Fortgang der Ermittlungen seine Unschuld erweisen würde. Ihm war andererseits aber auch bewusst, dass der Ausgang des Verfahrens aus Sicht der ermittelnden Beamten und aus Sicht seiner Vorgesetzten und Kollegen objektiv ungewiss war. Die oben genannten Maßnahmen führten bei ihm zu einer erheblichen psychischen Belastung. Die umfangreichen Ermittlungen ergaben keinerlei Hinweise darauf, dass der Zeuge H. Betäubungsmittel besessen oder konsumiert hätte; das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt.“
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2. Die Vollstreckung des dem Kläger mit vorgenanntem Urteil zugesprochenen Schmerzensgeldanspruchs in Höhe von 2.000,00 EUR gegenüber der Schädigerin R. blieb erfolglos.
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Mit Antrag vom 28. Mai 2021 stellte der Kläger unter Vorlage einer vollstreckbaren Ausfertigung des Urteils des Amtsgerichts H. vom 20. November 2019, einer beglaubigen Abschrift des Berichtigungsbeschlusses des Amtsgerichts H. vom 3. Dezember 2020, einer Kopie der Klageschrift vom 31. August 2018 und eines Vermögensverzeichnisses aufgrund der Vermögensauskunft der Schädigerin R. gemäß § 802f Zivilprozessordnung (ZPO) vom 13. Februar 2020 beim Beklagten einen Antrag auf Erfüllungsübernahme des Schmerzensgeldanspruches nach Art. 97 Bayerisches Beamtengesetz (BayBG) in Höhe von 2.000,00 EUR.
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Mit Bescheid vom 30. Juni 2021 lehnte der Beklagte den Antrag auf Erfüllungsübernahme ab, da bei dem diesem zugrundeliegenden Ereignis eine zielgerichtete Verletzungshandlung der Schädigerin R., die auf einen physischen Schaden gerichtet gewesen sei, nicht erkennbar sei.
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Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 24. August 2021 Widerspruch ein und trat darin der Ansicht des Beklagten entgegen.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 12. Mai 2023 wies die Widerspruchsbehörde den Widerspruch vom 24. August 2021 gegen den Bescheid vom 30. Juni 2021 zurück, da nach Ansicht des Beklagten kein tätlicher Angriff vorliege. Ein solcher setze eine zielgerichtete Verletzungshandlung und eine unmittelbare räumlich-zeitliche Gefährdung voraus, was bedeute, dass der Schädiger durch bewusstes und gewolltes Handeln eine Körperverletzung des Beamten herbeiführen könne und wolle, ohne dass es dafür noch des Hinzutretens anderer Faktoren bedürfe, die er selbst nicht beeinflussen könne. Hieran fehle es vorliegend, da der Kläger Opfer falscher Verdächtigungen geworden sei und sich in diesem Zusammenhang zahlreicher polizeilicher Maßnahmen, wie etwa einer Blutentnahme oder Haarprobe, habe stellen müssen. Eine unmittelbare und zielgerichtete Fremdeinwirkung auf den Körper des Klägers durch die Schädigerin habe es jedoch nicht gegeben.
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3. Gegen diese Entscheidung hat der Kläger am 9. Juni 2023 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg erheben und zu deren Begründung im Wesentlichen vortragen lassen, dass er einen tätlichen rechtswidrigen Angriff erlitten habe, da die Schädigerin R. ihn wider besseres Wissens falsch verdächtigt habe, um ein Verfahren bzw. behördliche Maßnahmen herbeizuführen. Wenn dem Schmerzensgeldanspruch eine „gemischte“ Rechtsgutbeeinträchtigung zugrunde liege, das titelzusprechende Gericht diesen also sowohl auf körperliche als auch auf psychische Schäden stütze, erscheine es weder angebracht noch tatsächlich durchführbar, hierbei eine Aufschlüsselung der einzelnen Schadenspositionen durchzuführen. Beruhe nach der allgemeinen Lebenserfahrung die Verbindung zwischen tätlichem Angriff, Körperschaden und psychischer Erkrankung auf einem zusammenhängenden Lebenssachverhalt, sollte der Schmerzensgeldanspruch – vorbehaltlicher sonstiger Angemessenheits- oder Plausibilitätskontrollen – damit grundsätzlich in Gänze von Art. 97 BayBG abgedeckt sein. Die Schädigerin habe die bei ihm durchgeführte Blutentnahme sowie das Abschneiden seiner Haare und die weiteren polizeilichen Ermittlungen und Untersuchungen zumindest billigend in Kauf genommen. Jedenfalls die Blutentnahme und das Abschneiden der Haare seien Eingriffe in seine körperliche Integrität gewesen und seien von einem Dritten ausgegangen. Dass die vorgenannten Handlungen nicht von der Schädigerin unmittelbar selbst ausgeführt worden seien, dürfe an der Annahme eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs nichts ändern.
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Der Kläger beantragt,
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 30. Juni 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Mai 2023 verpflichtet, über den Antrag des Klägers vom 28. Mai 2012 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
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Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Der Beklagte verweist zur Begründung auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid und trägt im Wesentlichen ergänzend vor, dass angesichts der Beschränkung des Erfüllungsübernahmeanspruchs auf physische Schäden und dem Ausschluss eines Ersatzes von psychische Schäden eine Zusammenrechnung im Falle von gemischten Beeinträchtigungen nicht nachvollziehbar und wider den Willen des Gesetzgebers sei. Daher müsse auch bei gemischten Rechtsgutbeeinträchtigungen eine Aufteilung hinsichtlich eines grundsätzlich übernahmefähigen körperlichen Schadens und eines nicht berücksichtigungsfähigen psychischen Schadens erfolgen.
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4. Mit Schriftsatz vom 14. Juli 2023 bzw. 4. August 2023 erklärten die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung.
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5. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die dem Gericht vorliegende Verwaltungsakte und die beigezogene Strafakte (Az. 1 Ds 2101 Js 2552/18) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Mit – hier vorliegender – Zustimmung der Beteiligten kann das Gericht nach § 101 Abs. 2 VwGO über die Verwaltungsstreitsache ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
20
Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Dem Kläger steht der von ihm geltend gemachte Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Erfüllungsübernahme betreffend den Antrag auf Erfüllungsübernahme seines durch Urteil des Amtsgerichts H. vom 20. November 2019 festgestellten Schmerzensgeldanspruchs nicht zu. Der Bescheid des Beklagten vom 30. Juni 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Mai 2023 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Rechtsgrundlage für die Erfüllungsübernahme ist Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG. Danach kann der Dienstherr die Erfüllung eines rechtskräftig festgestellten Anspruchs auf Schmerzensgeld übernehmen, welcher daraus resultiert, dass ein Beamter in Ausübung des Dienstes oder außerhalb dessen wegen seiner Eigenschaft als Beamter einen tätlichen rechtswidrigen Angriff erleidet. Der Dienstherr kann den Anspruch bis zur Höhe des festgestellten Schmerzensgeldbetrages übernehmen, soweit dies zur Vermeidung einer unbilligen Härte notwendig ist.
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2. Die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 97 Abs. Satz 1 BayBG sind vorliegend nicht erfüllt.
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Denn dem rechtskräftig festgestellten Schmerzensgeldanspruch des Klägers gegen die Schädigerin R. lag kein rechtswidriger tätlicher Angriff ihrerseits zugrunde. Der vom Kläger geltend gemachte Geschehensablauf stellt sich weder auf objektiver noch auf subjektiver Seite als tätlicher Angriff dar.
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2.1 Der unbestimmte Rechtsbegriff des „tätlichen rechtswidrigen Angriffs“ bestimmt als Eingangsmerkmal des Art. 97 BayBG die geschützten Rechtsgüter, zu denen in erster Linie die körperliche Unversehrtheit des Beamten zählt. Der Gesetzgeber wollte – vor dem Hintergrund der ihm aus § 45 Beamtenstatusgesetz (BeamtStG) obliegenden Fürsorgepflicht – mit der zum 1. Januar 2015 eingeführten Vorschrift den jeweiligen Dienstherrn verpflichten, einen in dienstlichem Zusammenhang erlangten (uneinbringlichen und rechtskräftig festgestellten) Schmerzensgeldanspruch seines Beamten zu übernehmen. Die Vorschrift sollte im Rahmen eines auf schwerwiegende Übergriffe beschränkten Ausnahmetatbestands Fälle erfassen, in denen der Beamte ein erhebliches Sonderopfer für die Allgemeinheit erbracht hat (Begründung des Gesetzentwurfs, LT-Drs. 17/2871, S. 48) (vgl. zum Ganzen BayVGH, B.v. 18.01.2021 – 3 ZB 20.591 – BeckRS 2021, 2832 Rn. 4 und B.v. 03.12.2021 – 3 ZB 21.216 – BeckRS 2021, 41350 Rn. 7).
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Ein „Angriff“ im Sinne des Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG umfasst demnach die von einem Menschen ausgehende vorsätzliche Verletzung der Rechtsgüter Leben und körperliche Integrität. Der Angriff erfordert eine objektive unmittelbare räumlich-zeitliche Gefährdung (objektives Element) aufgrund einer zielgerichteten Verletzungshandlung (subjektives Element; vgl. auch BayVV-Versorgung Nr. 46.4.1). „Tätlich“ ist ein Angriff, wenn er auf einen physischen Schaden gerichtet ist; damit werden grundsätzlich nur vollendete körperliche Beeinträchtigungen oder Gesundheitsschädigungen erfasst. Entgegen der Ansicht des Klägervertreters wird in der Gesetzesbegründung (Begründung des Gesetzentwurfs, LT-Drs. 17/2871, S. 48) an mehreren Stellen klar erkennbar, dass der Gesetzgeber die Formulierung „tätlicher Angriff“ bewusst gewählt hat, um nur auf den Körper zielende, gewaltsame Einwirkungen zu erfassen und um demgegenüber verbale Angriffe in Form von Beleidigungen oder Bedrohungen vom Anwendungsbereich der Norm auszuschließen. So sind auch nach dem allgemeinen Wortverständnis die Begriffe „tätlich“ und „verbal“ als Gegensatzpaar zu verstehen. Ein Rückgriff auf die für § 114 Abs. 1 StGB („Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte“) oder § 1 Abs. 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) anwendbaren Definitionen des Begriffs ist nicht erforderlich und kommt auch noch wegen der Eigenständigkeit der damit jeweils verfolgten Gesetzeszwecke (Strafrecht, Opferentschädigungsrecht, Beamtenrecht) nicht in Betracht (zum Ganzen grundlegend BayVGH, B.v. 18.01.2021 – 3 ZB 20.591 – BeckRS 2021, 2832 Rn. 5 und B.v. 03.12.2021 – 3 ZB 21.216 – BeckRS 2021, 41350 Rn. 8 – jeweils m.w.N.; siehe auch VG Würzburg, U.v. 09.08.2022 – W 1 K 22.298 – juris).
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Insofern ist ausdrücklich festzuhalten, dass nach der gegenwärtigen Gesetzeslage von einem tätlichen Angriff in dem obig dargestellten Sinne solche Angriffe zu unterscheiden sind, die sich insbesondere als rein verbale Angriffe auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht oder die Ehre des Beamten durch bloße Beleidigungen, Androhungen oder Bedrohungen darstellen, auch wenn diese zwar unter Umständen für sich alleine einen Schmerzensgeldanspruch begründen können, aber sowohl objektiv als auch aus Sicht des Schädigers nicht auf die körperliche Unversehrtheit gerichtet waren (vgl. VG Augsburg, U.v. 23.01.2020 – Au 2 K 19.872 – BeckRS 2020, 2418 Rn. 29; VG Regensburg, U.v. 20.07.2016 – RO 1 K 16.690 – juris Rn. 39).
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2.2 Gemessen daran handelt es sich weder bei den von der Schädigerin R. ausgesprochenen falschen Verdächtigungen noch den daraufhin gegenüber dem Kläger ergriffenen Ermittlungsmaßnahmen in Gestalt der Blutentnahme und Haarprobe bzw. den von ihm durch den gesamten Vorgang erlittenen psychischen Beeinträchtigungen um einen tätlichen Angriff im Sinne des Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG.
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Für die Frage, welches Rechtsgut des Klägers in einer das zugesprochene Schmerzensgeld begründenden Art und Weise verletzt wurde, ist der das Urteil des Amtsgerichts H. vom 20. November 2019 als feststehend angenommene und tragende Sachverhalt maßgeblich in den Blick zu nehmen (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 18.01.2021 – 3 ZB 20.591 – BeckRS 2021, 2832 Rn. 6 und 12; VG Augsburg, U.v. 23.01.2020 – Au 2 K 19.872, BeckRS 2020, 2418 Rn. 32; siehe auch VG Würzburg, U.v. 09.08.2022 – W 1 K 22.298 – juris). Danach beruht der dem Kläger zuerkannte Schmerzensgeldanspruch darauf, dass durch die Tat der Schädigerin R. bei dem Kläger „Unannehmlichkeiten und Beeinträchtigungen“ verursacht worden waren. Zwar konkretisiert das Amtsgericht H. in seiner Urteilsbegründung die Art der Unannehmlichkeiten und Beeinträchtigungen nicht weiter. Der Inhalt des dem Verfahren zugrundeliegenden Adhäsionsantrags, in dem der Kläger zur Begründung des Schmerzensgeldanspruchs auf die Ansehensschädigung in seinem Wohnumfeld und Kollegenkreis, auf den Einstich in den Unterarm bei der erfolgten Blutentnahme sowie die bis zur Kopfhaut abgeschnittenen Haare und die psychische Belastung als Folge der falschen Anschuldigungen abgestellt hat, sowie der vom Amtsgericht H. festgestellte Sachverhalt lassen jedoch für die Kammer den Schluss zu, dass der Kläger für die ihm durch die Tat der Schädigerin R. erwachsenen immateriellen Schäden gemäß § 253 Abs. 2 BGB umfassend entschädigt werden sollte, mithin unter „Unannehmlichkeiten und Beeinträchtigungen“ auch die Haarprobe, die Blutentnahme sowie die durch den gesamten Ermittlungsvorgang ausgelöste psychische Belastungsreaktion gefasst werden können.
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a) Ausgehend hiervon ist festzuhalten, dass die vom Amtsgericht H. festgestellten falschen Verdächtigungen der Schädigerin R. für sich genommen als rein verbale Äußerungen keinen tätlichen Angriff darstellen und damit den Tatbestand des Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG nicht erfüllen. Dies bedarf nach den obigen Ausführungen unter 2.1 keiner näheren Erläuterung.
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Lediglich ergänzend ist anzumerken, dass es für die Annahme eines tätlichen Angriffs bereits an einer auf die Handlungen der Schädigerin zurückzuführende objektive, unmittelbare räumlich-zeitliche Gefährdung der körperlichen Integrität des Klägers fehlt.
31
Eine räumliche Gefährdung erfordert, dass sich der Beamte in Reichweite des Angreifers bzw. der Angreiferin dergestalt befand, dass dieser oder diese in der Lage war, mit den ihm oder ihr aktuell zur Verfügung stehenden Kenntnissen und Hilfsmitteln das Ziel zu erreichen (vgl. Nr. 46.4.1.1 BayVV-Versorgung). Daran fehlt es hier. Die Schädigerin hat ihre sich in Falschaussagen erschöpfenden Handlungen gerade nicht in Anwesenheit des Klägers bzw. ihm persönlich gegenüber geäußert, sondern allein gegenüber Dritten, namentlich den entsprechenden Vernehmungsbeamten der Polizei. Darüber hinaus ist nach Aktenlage nichts dafür erkennbar, dass sich der Kläger zum Zeitpunkt der Falschaussagen der Schädigerin in deren räumlichen Zugriffsbereich befand. Ebenso spricht der erhebliche zeitliche Abstand zwischen den in Rede stehenden Falschaussagen der Schädigerin, die sie im Rahmen der Vernehmungen am 1. bzw. 12. Oktober 2017 geäußert hat, und der Vornahme der konkreten Ermittlungsmaßnahmen gegenüber dem Kläger, die erst am 26. Oktober 2017 stattgefunden haben, gegen eine unmittelbare Gefährdung des Klägers durch die Schädigerin. Auch die Krankmeldung wegen der – nachvollziehbaren – psychischen Belastungsreaktion des Klägers erfolgte erst für die Nachtschicht vom 26. Oktober auf den 27. Oktober 2017, mithin mehr als zwei bzw. drei Wochen nach den Falschaussagen der Schädigerin. Insofern ist zwar unbestritten, dass die Handlungen der Schädigerin zunächst einen Kausalverlauf in Gang gesetzt haben, indem ausgehend von ihren wahrheitswidrigen Anschuldigungen ein Ermittlungsverfahren gegen den Kläger eingeleitet worden war. Die im Rahmen des Ermittlungsverfahrens im Einzelnen ergriffenen Ermittlungsmaßnahmen wurden jedoch nur aus Anlass der Falschaussagen der Schädigerin angeordnet, aber nicht durch diese. Vielmehr lagen den Ermittlungsmaßnahmen entsprechende Anordnungen der zuständigen Ermittlungsbehörden zugrunde, was zu einer Unterbrechung des von der Schädigerin in Gang gesetzten Kausalverlaufes führt.
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b) Die Kammer vermag jedoch auch hinsichtlich der mittelbaren Folgen der von der Schädigerin R. ausgesprochenen falschen Verdächtigungen, namentlich der hierdurch veranlassten Ermittlungsmaßnahmen in Form der Blutentnahme und der Haarprobe sowie der psychischen Belastungsreaktion des Klägers auf den gesamten Ermittlungsvorgang keinen tätlichen Angriff im obigen Sinne zu erkennen.
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Sowohl unter Zugrundelegung des allgemeinen Sprachgebrauchs als auch unter Anwendung des bereits umrissenen aus der Gesetzesbegründung und obergerichtlichen Rechtsprechung gewonnenen Begriffsverständnisses erweisen sich die beschriebenen Maßnahmen bereits auf objektiver Ebene nicht als tätlicher Angriff. Denn bei den beschriebenen Maßnahmen fehlt es an einer für einen tätlichen Angriff erforderlichen, aktiv und gegen den Körper des Beamten gerichteten Handlung durch die Schädigerin R. selbst. Die Schädigerin hat sich mit ihren Handlungen gerade nicht unmittelbar und zielgerichtet gegen die körperliche Integrität des Klägers gerichtet, vielmehr erschöpft sich ihr Verhalten allein im Versuch, den Kläger durch bewusst wahrheitswidrige Aussagen gegenüber der Polizei falsch zu verdächtigen und somit in Verruf zu bringen, was allenfalls ein Angriff auf die persönliche Ehre des Klägers darstellt. Weder die von den Strafverfolgungsbehörden vorgenommene Blutentnahme noch das Abschneiden der Haare des Klägers zum Zwecke einer Haarprobe sind von der Schädigerin R. selbst ausgeführt worden. Gleiches gilt für die psychische Belastungsreaktion des Klägers auf das gegen ihn eingeleitete Ermittlungsverfahren, die die Schädigerin durch ihr (Aussage-)Verhalten allenfalls mittelbar verursacht hat. Die zu Eingriffen in die körperliche Integrität des Klägers führenden Ermittlungsmaßnahmen waren nicht unmittelbar dem geschilderten Aussageverhalten der Schädigerin R. zuzuschreiben, sondern vielmehr dem Umstand, dass die Strafverfolgungsbehörden die entsprechenden Ermittlungsmaßnahmen angeordnet haben. Denn es hatte sich im objektiven Geschehensablauf dadurch eine Zäsur ergeben, dass die Strafverfolgungsbehörden die entsprechenden Maßnahmen aufgrund ihres gesetzlichen Ermittlungsauftrags sowie auf eigenen Willensentschluss hin angeordnet haben, so dass der erforderliche Zurechnungszusammenhang zwischen dem Verhalten der Schädigerin und dem Eintritt des Körperschadens fehlt. Die geschilderten falschen Verdächtigungen der R., die diese in der Absicht getätigt hat, ein Ermittlungsverfahren gegen den Kläger zu erwirken, waren somit lediglich Anlass, aber nicht der Grund für die vorgenommenen Ermittlungsmaßnahmen.
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c) Ohne dass es hierauf noch entscheidungserheblich ankommt, fehlt es neben einer objektiven Verletzungshandlung auch am erforderlichen subjektiven Element eines tätlichen Angriffs. Das Erfordernis einer „zielgerichteten Verletzungshandlung“ ist zwar nicht dahingehend zu verstehen, dass ein direkter Verletzungsvorsatz des Schädigers erforderlich ist. Ihm muss es bei der Vornahme der Verletzungshandlung also nicht gerade darauf ankommen, bei dem betroffenen Beamten einen Körperverletzungserfolg herbeizuführen. Er muss dabei jedoch erkennen und billigend in Kauf nehmen, dass seine Handlung zu einer Verletzung des Beamten führen kann (BayVGH, B.v. 3.12.2021 – 3 ZB 21.216 – juris Rn.10). Den Beamten nur zufällig treffende Schädigungshandlungen sind damit nicht erfasst (vgl. VG Würzburg, U.v. 26.6.2012 – W 1 K 11.900 – juris Rn. 18 zum Begriff des „tätlichen Angriffs“ im Rahmen der eine vergleichbare Zielsetzung verfolgenden Vorschrift § 54 Abs. 2 Nr. 1 BayBeamtVG). Dies deckt sich weiterhin mit den einschlägigen Verwaltungsvorschriften des Beklagten, wonach für das Vorliegen einer zielgerichteten Verletzungshandlung die Sicht des mutmaßlichen Angreifers entscheidend ist und diese bei der Vornahme der konkreten Handlung die Schädigung des Beamten billigend in Kauf nehmen muss (vgl. Nr. 46.4.1. BayVV-Versorgung).
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Im vorliegenden Fall ergibt jedoch bereits das objektive Verhalten der Schädigerin keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass diese die Möglichkeit einer Verletzung des Klägers durch eine von ihr vorgenommene Handlung in Betracht gezogen und billigend in Kauf genommen hat. Vielmehr hat sich das aktive Verhalten der Schädigerin allein darauf beschränkt, im Rahmen zweier polizeilicher Zeugenvernehmungen am 1. Oktober 2017 bzw. 12. Oktober 2017 den Kläger – wahrheitswidrig – des Drogenkonsums, verschiedener Dienstvergehen sowie diverser Straftaten zu bezichtigen. Gleichzeitig lassen sich weder aus der Begründung des Urteils des Amtsgerichts H. vom 20. November 2019 noch aus dem aus den (Straf-)Akten bekannten äußeren Geschehensablauf und dem ihm zugrundeliegenden natürlichen Handlungsvorsatz Indizien dafür entnehmen, dass die Schädigerin mit oder über die Äußerung von falschen Verdächtigungen eine vorsätzliche Körperverletzung des Klägers beabsichtigte. Es ist also davon auszugehen, dass auch auf subjektiver Seite allein das Ziel, die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Kläger zu erreichen und ihn somit in Misskredit zu bringen, handlungsbestimmend war und die Verletzung seiner körperlichen Integrität dabei nicht in Erwägung gezogen wurde. Allein mit der Motivation der Rufschädigung und Ehrverletzung kann jedoch kein Angriff auf die körperliche Unversehrtheit durch im weiteren Verlauf durch Ermittlungsbehörden angeordnete Ermittlungsmaßnahmen begründet werden, denn die Gefahr eines körperlichen Schadens und die Realisierung dieser Gefahr durch Vornahme körperlicher Eingriffe in Gestalt einer Blutentnahme und Haarprobe beruhen, wie bereits dargestellt, in erster Linie auf einem eigenen Willensentschluss der Ermittlungsbehörden und nicht auf der Falschaussage der Schädigerin.
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3. Dahinstehen kann letztlich, ob die dem Schmerzensgeldanspruch zugrundeliegende Begebenheit sich in Ausübung des Dienstes oder außerhalb des Dienstes wegen der Eigenschaft als Beamter oder Beamtin zugetragen hat. Hierauf käme es nur dann entscheidungserheblich an, wenn der Kläger einen tätlichen rechtswidrigen Angriff erlitten hätte, was nach den vorstehenden Ausführungen zu verneinen war.
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Ebenso muss der von dem Klägervertreter aufgeworfenen Frage, ob der Fall einer „gemischten“ Rechtsgutbeeinträchtigung, bei dem sich – wie vorliegend – der titulierte Schmerzensgeldanspruch sowohl auf körperliche als auch auf psychische Schäden stützt, in Gänze von Art. 97 BayBG abgedeckt sein soll (so auch BeckOK BeamtenR Bayern/Buchard, 29. Ed. 01.09.2022, BayBG Art. 97 Rn. 13 ff.), mangels Entscheidungserheblichkeit nicht weiter nachgegangen werden. Lediglich ergänzend sei angemerkt, dass eine solche Auslegung des Art. 97 BayBG zwar aus Sicht der betroffenen Beamten wünschenswert wäre, aber – unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen – der ausdrücklichen Regelungsintention des Gesetzgebers zuwiderlaufen dürfte.
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4. Da der Beklagte mangels Vorliegen eines tätlichen Angriffs die Erfüllungsübernahme des Schmerzensgeldanspruchs zu Recht abgelehnt hat, konnte die Klage keinen Erfolg haben. Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.