Titel:
Herausgabe eines Führerscheins – einstweiliger Rechtsschutz
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5 S. 1, S. 3, § 123 Abs. 5
StVG § 3 Abs. 2 S. 3
FeV § 22 Abs. 3, § 47 Abs. 2 S. 1
BayAGVwGO Art. 12 Abs. 1 S. 1 Nr. 6
Leitsätze:
1. Gegen eine Anordnung zur Ablieferung des Führerscheins nach einem freiwilligen Verzicht auf die Fahrerlaubnis kann neben der Anfechtungsklage nicht wahlweise nach Art. 12 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 BayAGVwGO Widerspruch eingelegt werden. Zwar sieht der VGH München die Entziehung der Fahrerlaubnis, der ein Verzicht zur Vermeidung der Entziehung gleichgestellt ist (VGH München BeckRS 2010, 6161 Rn. 11), in bestimmten Fällen als personenbezogene Prüfungsentscheidung im Sinne dieser Vorschrift an; allerdings nur, wenn die Behörde eine eigene wertende Prüfung über Eignungszweifel oder die Fahreignung selbst vornimmt (vgl. VGH München BeckRS 2010, 9951 Rn. 11 mwN). Dies ist aber bei einer Anordnung zur Abgabe des Führerscheins infolge einer zum Erlöschen der Fahrerlaubnis führenden freiwilligen Verzichtserklärung nicht der Fall. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Fahrerlaubnisbehörde trägt zwar für die Tatbestandsvoraussetzungen der gesetzliche Pflicht zur Ablieferung des Führerscheins und damit für einen der Fahrerlaubnisentziehung gleichstehenden wirksamen Verzicht grundsätzlich die materielle Beweislast. Das Formular zur Verzichtserklärung zusammen mit der darunter gesetzten Unterschrift stellt aber einen Anscheinsbeweis dafür dar, dass der Betroffene selbst die Verzichtserklärung unterschrieben und zurückgesendet hat, denn diese Annahme kann auf einen typischen Sachverhalt gestützt werden, der auf allgemeinem Erfahrungswissen basiert. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antrag auf einstweilige Herausgabe des Führerscheins und auf Löschung eines Verzichtseintrags im Fahreignungsregister, Bestreiten einer Erklärung des Verzichts auf Fahrerlaubnis, Frage der materiellen Beweislast, Abgrenzung von § 80 Abs. 5 Satz 1, 3 und § 123 VwGO bei Anordnung der Abgabe des Führerscheins und seiner Beschlagnahme außerhalb des fahrerlaubnisrechtlichen Verfahrens, Unstatthafter Widerspruch bei Verzicht auf Fahrerlaubnis, Kein Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch wegen entgegenstehender Bestandskraft, unstatthafter Widerspruch, Anordnung zur Abgabe des Führerscheins, freiwilliger Verzicht auf die Fahrerlaubnis, personenbezogene Prüfungsentscheidung, materielle Beweislast, Anscheinsbeweis, Formular mit Unterschrift
Fundstelle:
BeckRS 2023, 37289
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 3.750,-- € festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller begehrt im einstweiligen Anordnungsverfahren die Herausgabe seines Führerscheins und die Löschung der Eintragung seiner Verzichtserklärung im Fahreignungsregister.
2
Gegen den Antragsteller wurde ein seit dem 3. November 2021 rechtskräftiger Strafbefehl des Amtsgerichts Fürstenfeldbruck (Az. ..., s. Bl. 112 ff. BA) erlassen, durch den eine Gesamtgeldstrafe von 7.500 EUR wegen vorsätzlichen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln nach § 1 Abs. 1 BtMG i.V.m. Anlage II zum BtMG und §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG verhängt wurde. In diesem Verfahren hatte der Antragsteller bei seiner Beschuldigtenvernehmung angegeben, schon seit 5 bis 6 Jahren Chrystal zu konsumieren (Bl. 35 BA).
3
Nach Mitteilung über das Strafverfahren durch die Polizeiinspektion … hörte die Fahrerlaubnisbehörde des Antragsgegners den Antragsteller mit Schreiben vom 4. März 2022, dem Antragsteller ausweislich der Postzustellungsurkunde zugestellt am 5. März 2022, zur beabsichtigten Fahrerlaubnisentziehung an (Bl. 26, 39 ff. BA). Dem Anhörungsschreiben war ein Formular zur freiwilligen Erklärung des Verzichts auf die Fahrerlaubnis beigefügt.
4
Am 11. März 2022 ging die unterschriebene Erklärung über den Verzicht auf die Fahrerlaubnis bei der Fahrerlaubnisbehörde ein (Bl. 45 BA). Trotz mehrfacher Aufforderung unter entsprechender Fristsetzung (zuletzt bis zum 14.4.2022) seitens des Antragsgegners (Bl. 46 f. BA) gab der Antragsteller seinen Führerschein nicht ab.
5
Mit Bescheid vom 13. Mai 2022 (Az: 42-3-1431-90), dem Antragsteller ausweislich der Postzustellungsurkunde zugestellt am 17. Mai 2022 (Bl. 48 ff. BA), wurde dieser aufgefordert, seinen Führerschein (Nr. A. …) der Klassen 1, 1a und 3, ausgestellt am … September 1997, innerhalb einer Woche ab Zustellung des Bescheids bei der Fahrerlaubnisbehörde abzugeben (Nr. 1 des Bescheids). Für den Fall der Zuwiderhandlung gegen Nr. 1 des Bescheids wurde ein Zwangsgeld i.H.v. 500 EUR angedroht (Nr. 2 des Bescheids). Die sofortige Vollziehbarkeit der Nr. 1 des Bescheids wurde angeordnet (Nr. 3 des Bescheids) und die Kosten für den Bescheid wurden dem Antragsteller auferlegt (Nr. 4 des Bescheids). Der Bescheid wird im Wesentlichen auf die freiwillige Verzichtserklärung des Antragstellers gestützt. Dieser sei im gleichzeitig übersendeten Anhörungsschreiben vom 4. März 2022 darauf hingewiesen worden, dass er ab sofort keine fahrerlaubnispflichtigen Fahrzeuge mehr führen dürfe. Der Verzicht werde der Entziehung der Fahrerlaubnis gleichgestellt und führe wie diese zum Erlöschen des Rechtsverhältnisses zwischen dem Fahrerlaubnisinhaber und der Fahrerlaubnisbehörde. Um den Schein einer wirksamen Fahrerlaubnis zu beseitigen, sei der Antragsteller verpflichtet, seinen Führerschein bei der Fahrerlaubnisbehörde abzuliefern. Trotz mehrfacher Aufforderung habe er den Führerschein nicht innerhalb der gesetzten Frist abgegeben, sodass die zwangsmittelbewehrte Anordnung erforderlich und angemessen sei. Die Anordnung des Sofortvollzugs sei verhältnismäßig, da die Sicherheit des Straßenverkehrs vor Fahrern ohne Berechtigung das private Interesse des Antragstellers überwiege.
6
Trotz mehreren erfolglosen Vollstreckungsversuchen durch die Polizeiinspektion Germering im Wege der Vollstreckungshilfe sowie erfolglosen Vorladungen im Juni 2022 (Bl. 55 ff. BA) erfolgte zunächst keine Reaktion des Antragstellers.
7
Mit am 17. Juni 2022 über das besondere elektronische Behördenpostfach bei der Fahrerlaubnisbehörde eingegangenem Schreiben legte der Antragsteller gegen beide Bescheide bei der Behörde „Rechtsmittel“ mit der Begründung ein, ihm sei der dort dargestellte Sachverhalt so nicht bekannt (Bl. 79 f. BA).
8
Mit Schreiben vom 12. August 2022 teilte die Fahrerlaubnisbehörde dem Antragsteller mit, dass sie den Widerspruch gegen den Bescheid vom 13. Mai 2022 als unstatthaft erachte; die Behörde verwies insoweit auf die dem Bescheid beigefügte Rechtsbehelfsbelehrunghinsichtlich einer unmittelbaren Klage vor dem Verwaltungsgericht. Sie forderte den Antragsteller zudem zur Abgabe einer Begründung des Widerspruchs bis zum 29. August 2022 auf, worauf jedoch keine Reaktion erfolgte. Am 28. September 2022 legte die Fahrerlaubnisbehörde den Widerspruch des Antragstellers mit Unterlagen der Regierung von Oberbayern als Widerspruchsbehörde zur Entscheidung vor (Bl. 126 ff. BA).
9
Am 4. Januar 2023 wurde der Führerschein des Antragstellers im Rahmen eines anderweitigen polizeilichen Einsatzes beim Antragsteller aufgefunden und vor dem Hintergrund des seit Juni 2022 bestehenden Vollstreckungshilfeersuchens der Fahrerlaubnisbehörde beschlagnahmt sowie an die Fahrerlaubnisbehörde übersandt (Bl. 129 ff. BA).
10
Bei einer persönlichen Vorsprache des Antragstellers am 20. März 2023 gab dieser gegenüber der Fahrerlaubnisbehörde an, dass er die Verzichtserklärung nie unterschrieben habe und die Unterschrift nicht von ihm stamme (Bl. 196 BA).
11
Der Antragsteller erhob am 22. Mai 2023 zu Protokoll der Geschäftsstelle des Bayerischen Verwaltungsgerichts München Hauptsacheklage (M 19 K 23.2474) mit dem Antrag, die Beklagte zu verpflichten, „festzustellen, dass der Verwaltungsvorgang beim Landratsamt F. (Az: …) rechtswidrig ist.“
12
Gleichzeitig beantragte er,
13
im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO das Landratsamt F. zu verpflichten, dem Antragsteller seinen Führerschein unverzüglich auszuhändigen und den entsprechenden Eintrag beim Kraftfahrtbundesamt zu löschen.
14
Zur Begründung führt er aus, er habe die Verzichtserklärung vom 11. März 2022 nicht abgegeben.
15
Mit Antragserwiderung vom 1. Juni 2023 beantragte der Antragsgegner,
16
den Antrag abzulehnen.
17
Der Antragsteller habe vor Erlass des Bescheids vom 13. Mai 2022 trotz mehrfacher Gelegenheit zur Stellungnahme nie vorgetragen, dass die Unterschrift auf der Verzichtserklärung vom 11. März 2022 nicht von ihm stamme. Hierfür habe es für die Fahrerlaubnisbehörde auch sonst keinerlei Anhaltspunkte gegeben. Die der Fahrerlaubnisbehörde – auch über die Polizeiinspektion … – vorliegenden Unterschriften des Antragstellers variierten zu verschiedenen Anlässen so erheblich, dass von der Unterzeichnung durch den Antragsteller auszugehen gewesen sei. Seine Einlassung in den persönlichen Vorsprachen, er habe die Schreiben nicht oder nur unvollständig erhalten, da sein Briefkasten wegen seines Nachbarn anders als das von ihm eingerichtete Postfach keinen sicheren Zugang gewährleiste, sei nicht glaubhaft.
18
Der Antragsteller erwiderte hierauf, seine Unterschrift habe sich – wie sich aus mehreren der Fahrerlaubnisbehörde vorliegenden Unterlagen ergebe – nicht geändert. Anlässlich einer Akteneinsicht bei der Behörde am 11. April 2023 habe er zum ersten Mal eine Kopie der Verzichtserklärung gesehen und sofort darauf hingewiesen, dass diese nicht von ihm stamme.
19
Mit Widerspruchsbescheid vom 20. Juli 2023 (Bl. 32 BA der Widerspruchsbehörde) wies die Regierung von Oberbayern den Widerspruch des Antragstellers vom 17. Juni 2022 gegen den Bescheid vom 13. Mai 2022 als unzulässig – da unstatthaft – und unbegründet zurück.
20
Hiergegen erhob der Antragsteller mit Schriftsatz vom 24. Juli 2023 über das besondere elektronische Behördenpostfach eine weitere Klage vor dem Verwaltungsgericht München (M 19 K 23.3666) mit dem Antrag festzustellen, dass der Widerspruchsbescheid „rechtswidrig, weil unzulässigerweise erlassen worden und daher aufzuheben ist.“ Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, sein bei der Behörde eingelegter Widerspruch gegen den Bescheid vom 13. Mai 2022 hätte durch diese als Klage ausgelegt und an das Verwaltungsgericht weitergeleitet werden müssen. Hinsichtlich des von ihm am 17. Juni 2022 bei der Fahrerlaubnisbehörde eingelegten Rechtsbehelfs beantragt er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
21
Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz hat keinen Erfolg.
22
1. Der Antrag ist bereits unzulässig. Der vom Antragsteller seinem Wortlaut nach gemäß § 123 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – gestellte Antrag ist unstatthaft. Soweit der Antrag im Wege der Auslegung (§§ 88, 122 Abs. 1 VwGO) in einen dem Grunde nach statthaften Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 und Satz 3 VwGO umgedeutet werden kann, ist er im Hinblick auf den bestandskräftig gewordenen Bescheid vom 13. Mai 2022 mangels Rechtsschutzbedürfnisses ebenfalls unzulässig.
23
a) Der Antrag nach § 123 VwGO ist unstatthaft, da er subsidiär zum Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist (vgl. § 123 Abs. 5 VwGO).
24
Ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist statthaft, wenn die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs begehrt wird, die kraft Gesetzes (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 bis 3a) oder durch Sofortvollzugsanordnung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) entfallen ist, d.h. wenn streitgegenständlich in der Hauptsacheklage die Rechtmäßigkeit eines angegriffenen Verwaltungsakts ist.
25
Der Antragsteller beantragt in der Hauptsacheklage vom 22. Mai 2022 wörtlich die Feststellung, dass der Verwaltungsvorgang (Az: …) rechtswidrig ist. Der Vorgang mit diesem Aktenzeichen betrifft aber den Bescheid über die Anordnung zur Ablieferung des Führerscheins vom 13. Mai 2023 als Verwaltungsakt nach Art. 35 Satz 1 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz – BayVwVfG – und eine Feststellungsklage nach § 43 VwGO kann insoweit nicht erhoben werden, weil sie subsidiär im Verhältnis zur Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO gegen den Bescheid vom 13. Mai 2022 ist (vgl. § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO). Statthaft ist in der Hauptsache daher die Anfechtungsklage. Hinsichtlich des auf Herausgabe des Führerscheins gerichteten Begehrens wäre in der Hauptsache der Annexantrag nach § 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO statthaft. Im Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht insoweit die Aufhebung der Vollziehung anordnen, wenn der Verwaltungsakt – wie hier – zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung schon vollzogen ist (§ 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO).
26
Die Statthaftigkeit des Antrags nach § 123 VwGO ergibt sich hier auch nicht daraus, dass der Führerschein des Antragstellers von der Polizei außerhalb des fahrerlaubnisrechtlichen Verfahrens als „Zufallsfund“ beschlagnahmt wurde. Dies ändert nichts daran, dass die Beschlagnahme – unabhängig von der Frage ihrer Rechtmäßigkeit – auf das noch nicht abgeschlossene (unselbstständige) Vollstreckungshilfeersuchen der Fahrerlaubnisbehörde zurückging, der Führerschein also in unmittelbarer sowie zeitnaher Vollziehung des Bescheids vom 13. Mai 2022 erlangt wurde (vgl. hierzu Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 80 Rn. 177 ff.; vgl. auch VG München, B.v. 12.2.2014 – M 6a E 14.212 – juris Rn. 23).
27
b) Der Eilantrag des Antragstellers kann zwar als Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner in der Hauptsache als Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 13. Mai 2022 zu verstehenden Klage sowie auf vorläufige Rückgängigmachung der Vollzugsfolgen durch Herausgabe des Führerscheins gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 und Satz 3 VwGO ausgelegt werden. Da der Antragsteller unvertreten ist und seinen Eilantrag vor der Geschäftsstelle des Gerichts gestellt hat, ist dieser einer Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont zugänglich (§§ 86 Abs. 3, 88, 122 Abs. 1 VwGO). Der so verstandene Antrag ist allerdings ebenfalls unzulässig, da ihm aufgrund der mit Ablauf des 20. Juni 2022 eingetretenen Bestandskraft des Bescheids vom 13. Mai 2022 jedenfalls das Rechtsschutzbedürfnis fehlt.
28
aa) Der nach §§ 57 Abs. 2 VwGO, 122 Abs. 1, 2 Zivilprozessordnung – ZPO – i.V.m. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 Alt. 1 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB – am 17. Juni 2022 fristgerecht innerhalb der Monatsfrist des § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO eingelegte Rechtsbehelf, der aufgrund seiner Einlegung bei der Behörde als Widerspruch auszulegen zu sein dürfte, ist unstatthaft und konnte daher den Eintritt der Bestandskraft des Bescheids vom 13. Mai 2022 nicht verhindern. Zwar sieht der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 3 Abs. 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 Satz 1 Fahrerlaubnisverordnung – FeV –, der ein Verzicht zur Vermeidung der Entziehung gleichgestellt ist (BayVGH, B.v. 12.1.2010 – 11 CS 09.1967 – juris Rn. 11; VG Bayreuth, U.v. 12.1.2010 – B 1 K 09.469 – juris Leitsatz 1; VG Bremen, B.v. 11.2.2021 – 5 V 2834/20 – BeckRS 2021, 1944 Rn. 21), in bestimmten Fällen als personenbezogene Prüfungsentscheidung i.S.d. Art. 12 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Gesetz zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung – AGVwGO – an (BayVGH, B.v. 7.8.2008 – 11 CS 08.1854 – juris Rn. 10 ff.; BayVGH, B.v. 26.1.2009 – 11 CS 08.2028 – juris Rn. 15). Dies gilt aber nur, wenn die Behörde eine eigene wertende Prüfung unter Berücksichtigung der spezifischen Besonderheiten des Einzelfalls vornimmt, um das Bestehen von Eignungszweifeln oder sogar der Fahrungeeignetheit entweder zu bejahen oder zu verneinen (BayVGH, B.v. 4.2.2010 – 11 CS 09.2935 – juris Rn. 11). Dies ist hinsichtlich der Anordnung zur Abgabe des Führerscheins im Bescheid vom 13. Mai 2022 infolge der zum Erlöschen der Fahrerlaubnis führenden freiwilligen Verzichtserklärung gerade nicht der Fall. Die Behörde hatte dabei nur die Wirksamkeit des Verzichts zu prüfen, auf die Fahrtauglichkeit des Antragstellers kam es nicht an.
29
bb) Auch die in der Hauptsache erhobene Klage (M 19 K 23.2474) ist unzulässig und kann die Bestandskraft des Bescheids vom 13. Mai 2022 nicht gehemmt haben. Diese ist als Anfechtungsklage jedenfalls verfristet, da sie nicht innerhalb der gemäß § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO ab Zustellung geltenden Monatsfrist erhoben wurde. Die Postzustellungsurkunde erbringt insoweit als öffentliche Urkunde den vollen Beweis für die Zustellung an den Antragsteller am 17. Mai 2022 (§ 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 418 Abs. 1 ZPO) und wurde seinerseits nicht durch Gegenbeweis widerlegt (§ 418 Abs. 2 ZPO). Soweit der Rechtsbehelf vom 17. Juni 2022 als Klageschrift aufgefasst werden könnte, wahrt die Einreichung bei der Fahrerlaubnisbehörde jedenfalls nicht die aufgrund der zutreffenden Rechtsbehelfsbelehrunggeltende Monatsfrist des § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO (vgl. Wöckel in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 74 Rn. 9 m.w.N.). Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 Abs. 1 VwGO hinsichtlich des am 17. Juni 2022 eingelegten Rechtsbehelfs wegen unverschuldeten Versäumnisses der Klagefrist kommt hier schon deshalb nicht in Betracht, weil der Antragsteller über seine Klagemöglichkeit zum Verwaltungsgericht München ordnungsgemäß belehrt wurde. Überdies hat er den Wiedereinsetzungsantrag vom 24. Juli 2023 nicht innerhalb eines Jahres seit dem Ende der versäumten Frist (Ende der Klagefrist mit Ablauf des 17. Mai 2022) gestellt.
30
2. Ein Eilantrag wäre im Übrigen auch unbegründet.
31
Im Rahmen der gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung erwiese sich der Bescheid vom 13. Mai 2022 mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als rechtmäßig; ein Anspruch auf Aushändigung des Führerscheins (vgl. § 22 Abs. 3 FeV) und entsprechende Löschung des Eintrags im Fahreignungsregister (vgl. § 28 Abs. 3 Nr. 7, 14 und Abs. 4 Satz 1 StVG) bestünde nicht. Nach Aktenlage durfte der Antragsgegner zurecht davon ausgehen, dass die Unterschrift auf der Verzichtserklärung vom Antragsteller stammt, sodass der Verzicht des Antragstellers wirksam ist.
32
a) Der Antragsgegner trägt für die Tatbestandsvoraussetzungen nach § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG i.V.m. § 47 Abs. 2 Satz 1 FeV (gesetzliche Pflicht zur Ablieferung des Führerscheins) und damit für einen der Fahrerlaubnisentziehung gleichstehenden wirksamen Verzicht grundsätzlich die materielle Beweislast. Hierbei ist zu beachten, dass das Formular zur Verzichtserklärung – das dem Antragsteller mit dem Bescheid vom 13. Mai 2022 zugestellt worden ist – zusammen mit der darunter gesetzten Unterschrift einen Anscheinsbeweis dafür darstellt, dass der Antragsteller selbst die Verzichtserklärung unterschrieben und zurückgesendet hat. Denn im Sinne der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann diese Annahme der eigenen Unterzeichnung durch den Antragsteller auf einen typischen Sachverhalt gestützt werden, der auf allgemeinem Erfahrungswissen basiert; zum anderen sind hier keine tatsächlichen Umstände gegeben, die ein atypisches Geschehen im Einzelfall ernsthaft möglich erscheinen lassen (vgl. BVerwG, B.v. 23.1.2018 – 6 B 67/17 – juris Rn. 6).
33
b) Diesen Anscheinsbeweis kann der Antragsteller nach Aktenlage nicht erschüttern. Der Antragsteller hat nicht plausibel dargelegt, wer an seiner statt die Erklärung aus dem Briefkasten des Antragstellers genommen, unterschrieben und zurückgesendet haben sollte und daran ein Interesse gehabt hätte.
34
Soweit dieser vorbringt, seine Unterschrift auf den der Fahrerlaubnisbehörde vorliegenden Unterlagen sei immer gleich, habe sich nicht verändert und entspreche nicht dem Schriftbild auf der Verzichtserklärung, ist dem entgegenzuhalten, dass er zwar häufig, aber nicht immer die gleiche Unterschrift verwendet (s. Unterschriften auf Bl. 237 ff. BA und auf dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz vor der Geschäftsstelle des Gerichts vom 22.5.2023).
35
Überdies ist der Vortrag des Antragstellers vor dem Hintergrund wenig glaubhaft, dass er seit dem Eingang der Verzichtserklärung bei der Behörde am 11. März 2022 eine Vielzahl von Möglichkeiten gehabt hätte, die Echtheit seiner Unterschrift der Behörde gegenüber vorzubringen, von dieser Möglichkeit jedoch trotz rechtswirksamer Zustellung sämtlicher Schreiben durch die Behörde erst am 20. März 2023 – also ca. ein Jahr nach der Zustellung des streitgegenständlichen Bescheids vom 13. Mai 2022 – Gebrauch gemacht hat. Seine Einlassung gegenüber der Behörde, er habe die Post der Behörde nicht oder nur unvollständig erhalten, ist unglaubhaft, weil der Antragsteller selbiges schon erfolglos im Strafverfahren behauptete (Bl. 128, 158 BA).
36
Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
37
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 1.5 sowie Nr. 46 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Stand: 2013) i.V.m. § 6 Abs. 3 Satz 1 FeV.