Titel:
Kein vorläufiger Rechtsschutz für afghanische Asylbewerber gegenüber Abschiebungsanordnung nach Belgien
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Art. 2 lit. g, Art. 7 Abs. 3, Art. 9 ff., Art. 16 Abs. 1, Art. 17 Abs. 2
Leitsätze:
1. Bei Art. 7 Abs. 3 Dublin III-VO handelt es sich um eine Regelung über den Zeitpunkt der Beurteilung der Sachlage für die Berücksichtigung familiärer Beziehungen bei der Zuständigkeitsbestimmung. Die Vorschrift selbst enthält indes keine zuständigkeitsbegründende Regelung. (Rn. 17) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Aktuell bestehen keine ausreichenden Anhaltspunkte für das Vorliegen systemischer Mängel im belgischen Asylsystem oder hinsichtlich der dortigen Aufnahmebedingungen, aus denen die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer Verletzung der Rechte von Asylbewerbern aus Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK erwachsen könnten (Rn. 23) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. In der Rechtsprechung ist geklärt, dass selbst drohende Obdachlosigkeit für sich genommen nicht automatisch zu einer mit Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK unvereinbaren Situation führt (VGH München BeckRS 2023, 26269). (Rn. 23) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren (Zielstaat Belgien), Abschiebungsanordnung, Verwandtschaftliche Beziehungen in Deutschland, Keine systemischen Mängel, afghanische Staatsangehörige, Asylantrag, Dublin-Verfahren, Belgien, systemische Mängel, Aufnahmebedingungen, drohende Obdachlosigkeit, familiäre Beziehungen, Schengen-Visum
Fundstelle:
BeckRS 2023, 37268
Tenor
I. Die Anträge werden abgelehnt.
II. Die Antragsteller haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
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Die Antragsteller begehren vorläufigen Rechtsschutz gegen die angeordnete Überstellung nach Belgien im Rahmen des sogenannten „Dublin-Verfahrens“.
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Die Antragsteller, afghanische Staatsangehörige, reisten am 22. April 2023 zusammen mit ihren (volljährigen) Kindern in das Bundesgebiet ein und äußerten Asylgesuche, von denen das Bundesamt durch behördliche Mitteilung vom 31. Mai 2023 schriftlich Kenntnis erlangt hat. Die förmlichen Asylanträge datieren vom 7. Juni 2023.
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Ausweislich zweier Treffermeldungen in der VIS-Datenbank, welche für die Antragsteller von Belgien ausgestellte Schengen-Visa aufweisen (Gültigkeit jeweils 12.4.2023 bis 26.7.2023), ergaben sich für die Antragsgegnerin Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats nach der VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO). Am 10. Juli 2023 richtete die Antragsgegnerin ein Aufnahmegesuch an Belgien, das von den dortigen Behörden mit Schreiben vom 14. Juli 2023 unter Verweis auf Art. 12 Abs. 2 VO Dublin III-VO positiv beantwortet wurde.
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Mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 15. September 2023, als Einschreiben zur Post gegeben am 20. September 2023, lehnte das Bundesamt die Asylanträge als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheids) und stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (Nr. 2 des Bescheids). Die Abschiebung nach Belgien wurde angeordnet (Nr. 3 des Bescheids). Das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 18 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Die Antragsteller haben mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 26. September 2023, bei Gericht eingegangen am gleichen Tag, gegen den Bescheid vom 15. September 2023 Klage erhoben und zugleich beantragt,
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die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung anzuordnen.
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Zur Begründung wird ausgeführt, dass große Teile der Familie in und um M. leben würden. Ein weiterer Sohn der Antragsteller sei arbeitsbedingt zunächst nach Belgien umgezogen und habe seine Eltern von dort aus im Visumverfahren wesentlich unterstützt. Kurz vor Erteilung des Visums an die Antragsteller habe der Sohn allerdings die Arbeitsstelle in Belgien verloren und sei zurück nach M. gezogen. Die Antragsteller seien deshalb nach ihrer Ankunft in Belgien (gemeinsam mit den beiden mitgereisten Kindern) nach M. weitergereist und hätten dort einen Antrag auf Durchführung des Asylverfahrens gestellt. Der Bescheid des Bundesamts vom 15. September 2023 gehe an der Sache vorbei, soweit er Erwägungen über das Bestehen/Nichtbestehen eines generellen Abschiebungsverbots nach Belgien anstelle. Die Antragsteller würden nicht bezweifeln, dass in Belgien die europäischen Standards für die Durchführung von Asylverfahren gewahrt würden. Es werde auch nicht bezweifelt, dass eine ausreichende Unterstützung von Asylsuchenden in Belgien gewahrt werde. Die gesamte Familie der Antragsteller (über die mit den Antragstellern mitgereisten Kindern hinaus) wohne im M. Raum, wobei ein Großteil der Familienangehörigen über tragfähige und langfristige Aufenthaltstitel verfüge und teilweise auch schon eingebürgert seien. Nach der Dublin III-VO seien familiäre Beziehungen in einem der Mitgliedstaaten das vorrangig zu berücksichtigende Kriterium bei der Bestimmung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Soweit in dem Bescheid vom 15. September 2023 diesbezüglich festgestellt werde, dass die genannten Verwandtschaftsverhältnisse nicht von Art. 2 Buchst. g Dublin III-VO umfasst seien, sei jedenfalls die Schlussfolgerung falsch, dass die vorgebrachten Bindungen im vorliegenden Fall nicht berücksichtigungsfähig seien. Diese erheblichen familiären Bindungen seien nach Art. 7 Abs. 3 Dublin III-VO zu berücksichtigen. Die Antragstellerin zu 2 sei zudem krank. Sie benötige daher, auch wegen der psychischen Belastungen aufgrund der Flucht, besondere Unterstützung der Familie im M. Raum.
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Die Antragsgegnerin beantragt mit Schriftsatz vom 29. September 2023,
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Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
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Mit Beschlüssen vom 21. und 22. September 2023 wurden die jeweiligen Eilanträge der mitgereisten Kinder abgelehnt (B.v. 21.9.2023 – M 10 S 23.50963 [Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO verspätet gestellt]; B.v. 22.9.2023 – M 10 S 23.50969, n.v.).
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, auch im Verfahren M 10 K 23.51032, sowie die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
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Die zulässigen Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klagen nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO sind nicht begründet.
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1. Entfaltet ein Rechtsbehelf – wie hier (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG) – von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es abzuwägen hat zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse der Antragsteller an der aufschiebenden Wirkung ihrer Rechtsbehelfe. Dabei sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Eilverfahren gebotene summarische Prüfung, dass die Klagen voraussichtlich erfolglos sein werden, tritt das Interesse der Antragsteller regelmäßig zurück.
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2. Gemessen an diesen Maßstäben geht die Interessenabwägung im vorliegenden Fall zu Lasten der Antragsteller aus. Nach summarischer Prüfung sind die Erfolgsaussichten ihrer Klagen gegen die Abschiebungsanordnung im streitgegenständlichen Bescheid als gering anzusehen. Die Abschiebungsanordnung erweist sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als rechtmäßig, da die Asylanträge zutreffend nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG als unzulässig abgelehnt worden sind.
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a) Nach Art. 12 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO ist Belgien für die Asylverfahren der Antragsteller zuständig, weil sie im Zeitpunkt der Stellung ihrer Asylanträge (vgl. Art. 7 Abs. 2, Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO) am 31. Mai 2023 im Besitz gültiger Schengen-Visa waren. Dies haben die belgischen Behörden in ihrem Antwortschreiben vom 14. Juli 2023 auch ausdrücklich anerkannt. Die verfahrensrechtlichen Fristen gemäß Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO und Art. 22 Abs. 1 Dublin III-VO wurden jeweils eingehalten.
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Entgegen der Rechtsansicht der Antragsteller besteht keine vorrangige Zuständigkeit der Antragsgegnerin für die Prüfung der Asylanträge gemäß Art. 7 Abs. 3 bzw. Art. 9 Dublin III-VO. Anders als die Antragsteller ausführen, ergibt sich aus Art. 7 Abs. 3 Dublin III-VO keine Zuständigkeit Deutschlands. Diese Vorschrift enthält keine zuständigkeitsbegründende Regelung. Maßgebliche Zuständigkeitsregelungen sind im Hinblick auf die hier geltend gemachten familiären Beziehungen vielmehr Art. 9 ff. und Art. 16 Dublin III-VO. Art. 7 Abs. 3 Dublin III-VO ist eine Regelung über den Zeitpunkt der Beurteilung der Sachlage in Abweichung von Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO (vgl. Thomann in BeckOK MigR, Stand 15.7.2023, Art. 7 Dublin III-VO Rn. 29). Er bestimmt den maßgeblichen Zeitpunkt für die Berücksichtigung familiärer Beziehungen bei der Zuständigkeitsbestimmung gemäß Art. 8, 10 und 6 Dublin III-VO. Eine vorrangige Zuständigkeit aus Art. 9 Dublin III-VO besteht nicht, weil der in M. lebende Sohn nicht minderjährig ist und damit nicht unter Art. 2 Buchst. g Dublin III-VO fällt. Die übrigen aufgeführten Personen unterfallen ebenfalls nicht der Definition des „Familienangehörigen“ gemäß Art. 2 Buchst. g Dublin III-VO. Daran ändert die von den Antragstellern beanstandete Formulierung der Antragsgegnerin im streitbefangenen Bescheid, dass verwandtschaftliche Beziehungen nach der Dublin III-VO „nicht berücksichtigungsfähig“ seien, nichts. Selbst wenn man diese Formulierung als (etwas) überdehnend ansehen würde (vgl. etwa die Möglichkeit gemäß Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO), ist sie jedenfalls insofern ergebnisrichtig, dass verwandtschaftliche Beziehungen im Sinne von Art. 2 Buchst. h Dublin III-VO nicht zuständigkeitsbegründend für die Antragsgegnerin im Sinn von Art. 9 ff. Dublin III-VO sind.
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Für ein Abhängigkeitsverhältnis der Antragstellerin zu 2 aus Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO ist vorliegend nichts ersichtlich. Soweit in der Klageschrift ausgeführt wird, dass die Antragstellerin zu 2 an psychischen Belastungen leide und insofern zur Unterstützung auf die im M. Raum lebenden Verwandten als Unterstützung zurückgreifen könnte, wird damit kein Abhängigkeitsverhältnis im Rechtsinn dargelegt, geschweige denn glaubhaft gemacht.
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b) Die Zuständigkeit für die Durchführung der Asylverfahren ist auch nicht gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen.
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aa) Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für den Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011, a.a.O.). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18 ff.; BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 9; VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris Rn. 41; grundlegend EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, „Abdullahi“ – NVwZ 2012, 417, Rn. 80 ff.). Dabei ist nach der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu berücksichtigen, dass der Begriff der systemischen Schwachstellen nicht notwendigerweise gesamtbezogen auf das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im Überstellungsstaat insgesamt zu verstehen ist, sondern auch Teilbereiche hiervon erfasst sein können, die mit individuellen Umständen des Asylbewerbers verknüpft sind (EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 70 ff. = NVwZ 2017, 691 ff.). Demnach ist mittlerweile geklärt, dass auch die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK eine Überstellung i.S.v. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO unmöglich machen kann, selbst wenn diese Rechtsverletzung nicht die Konsequenz aus der Existenz systemischer Schwachstellen im zuständigen Mitgliedstaat ist (EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 91). Erforderlich, aber auch ausreichend ist daher, wenn auf Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben dem Gericht Anhaltspunkte für Schwachstellen vorliegen, welche eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen und den Antragsteller betreffen. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist (auch) erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass sich eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Bedürfnissen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C 297/17 „Ibrahim“ u.a. – juris Rn. 89 ff. und C-163/17, „Jawo“ – juris Rn. 91 ff.).
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In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dabei geklärt, dass der verwaltungsgerichtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) besonders dann verfassungsrechtliches Gewicht zukommt, wenn hinreichend substantiierte Behauptungen von Schutzsuchenden oder andere für das Verfahren relevante Erkenntnisse auf Umstände zielen, die, ihr Vorliegen unterstellt, für die Verwirklichung hochrangiger grundrechtlicher Gewährleistungen von ausschlaggebender Bedeutung sind. So kann im Einzelfall ein Verstoß gegen die Verpflichtung zur umfassenden und hinreichend aktuellen Sachaufklärung und erschöpfenden Ausnutzung prozessualer Aufklärungsmöglichkeiten eine Verletzung der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes begründen, wenn das Gericht eine im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt durchführbare Aufklärungsmaßnahme, die zudem eine Vielzahl von Fällen betrifft, unterlassen hat. Dies kann besonders dann der Fall sein, wenn nicht nur aussichtsreiche Aufklärungsmöglichkeiten seitens des Gerichts unterblieben sind, sondern dabei auch spezifische institutionalisierte Quellen, die den Gerichten gerade für die Aufklärung asylrechtlicher Sachverhalte aufbereitet und bereitgestellt werden, außer Acht gelassen werden (vgl. jüngst zum Ganzen: BVerfG, B.v. 2.8.2023 – 2 BvR 593/23 – juris Rn. 11).
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Unter Umständen kann es deshalb ungeachtet des Prinzips der normativen Vergewisserung bzw. des gegenseitigen Vertrauens sowohl verfassungsrechtlich als auch europa- und konventionsrechtlich geboten sein, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor der Rückführung eines Asylsuchenden in einen anderen Staat über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen. Soweit entsprechende Erkenntnisse und Zusicherungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht vorliegen und nicht eingeholt werden können, ist es zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes geboten, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (vgl. BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 16). Dies gilt jedenfalls in solchen Fällen, in denen die Auskunftslage im Eilverfahren nicht hinreichend eindeutig erscheint und eine weitere Sachaufklärung im Hauptsacheverfahren naheliegt (vgl. BVerfG, B.v. 21.4.2016 – 2 BvR 273/16 – juris Rn. 14). Dabei ist auch in den Blick zu nehmen, dass die Ablehnung des Antrags nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO ungeachtet sich stellender komplexer Rechts- oder Tatsachenfragen im Hauptsacheverfahren die Rechtsweggarantie eines Antragstellers aus Art. 19 Abs. 4 GG in rechtlich unzulässiger Weise abschneiden kann (BVerfG, B.v. 20.11.2018 – 2 BvR 80/18 – juris Rn. 8, mit Verweis auf § 80 AsylG).
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bb) Gemessen an diesen rechtlichen Grundsätzen liegen dem Gericht aktuell keine ausreichenden Anhaltspunkte für das Vorliegen systemischer Mängel im belgischen Asylsystem oder hinsichtlich der dortigen Aufnahmebedingungen, aus denen die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer Verletzung der Rechte der Antragsteller aus Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK erwachsen könnte, vor (vgl. auch VG München, B.v. 5.9.2022 – M 30 S 22.50300 – juris Rn. 27 ff.). Dem Gericht ist lediglich bekannt, dass insbesondere im Herbst letzten Jahres offenbar größere Probleme bei der Unterbringung von Asylsuchenden in Belgien bestanden und in diesem Zusammenhang selbst gerichtliche Eilentscheidungen der belgischen Gerichte von den dortigen Behörden nicht umgesetzt worden sind (vgl. EGMR, U.v. 18.7.2023 – Camara/Belgien, Nr. 49255/22 – HUDOC; vgl. auch Pressemitteilung des EGMR vom 18.7.2023, ECHR 229 [2023]). Dem Gericht ist in diesem Zusammenhang bekannt, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte damals in 1.350 Fällen einstweilige Anordnungen gemäß Art. 39 EGMR-VerfO erlassen hatte, die zwischenzeitlich aber wieder aufgehoben wurden, nachdem die Betroffenen keine Individualbeschwerde gemäß Art. 34 EMRK erhoben hatten (vgl. Pressemitteilung vom 1.6.2023 – https://www.echr.coe.int/w/interim-measures-lifted-concerning-belgium – aufgerufen am 18.10.2023). Aktuell scheinen die genannten Probleme vor allem noch für alleinstehende Männer zu bestehen, die in der Regel an gemeinnützige Einrichtungen verwiesen werden (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 4.9.2023: „Warum Belgien systematisch gegen das Recht von Migranten verstößt“, https://www.sueddeutsche.de/politik/belgien-migranten-rechtsbruch-obdachlosigkeit-1.6193777 – aufgerufen am 18.10.2023). Einen generellen systemischen Mangel hinsichtlich der Aufnahmebedingungen sieht das Gericht allerdings darin nicht, zumal in der Rechtsprechung geklärt ist, dass selbst drohende Obdachlosigkeit für sich genommen nicht automatisch zu einer mit Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK unvereinbaren Situation führt (vgl. BayVGH, B.v. 27.9.2023 – 24 B 22.30953 – juris Rn. 31; OVG Rhpf, U.v. 27.3.2023 – 13 A 10948/22.OVG – juris Rn. 59 ff. m.w.N.). Ungeachtet dessen, dass die Antragsteller die Aufnahmebedingungen in Belgien selbst nicht in Zweifel gezogen haben, erkennt das Gericht damit auch im Rahmen seiner Amtsaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) bzw. unter Berücksichtigung der verfügbaren Erkenntnismittel in den einschlägigen Datenbanken wie Asylfact nicht, dass den Antragstellern konkret eine Unterbringung in Belgien entgegen den Vorgaben der Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU) verwehrt würde (vgl. auch AIDA v. 21.4.2023, Country Report Belgium, Update 2022, S. 101 [zur Priorisierung der Unterbringung von Familien mit Kindern]).
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3. Individuelle in der Person der Antragsteller wurzelnde Umstände, welche die Antragsgegnerin zwingend zur Ausübung ihres Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO hätten veranlassen müssen (vgl. näher dazu BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 22 ff.), sind von den Antragstellern nicht vorgetragen worden und liegen nach Aktenlage auch nicht vor.
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4. Gründe, dass die Abschiebung nicht im Sinn von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG durchgeführt werden könnte, sind derzeit ebenso nicht ersichtlich, da weder zielstaatsbezogene noch inländische Abschiebungshindernisse vorliegen (vgl. diesbezüglich zur Prüfungskonzentration beim Bundesamt: BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – AuAS 2014, 244). Insbesondere folgt aus den Ausführungen, die Antragstellerin zu 2 leide an psychischen Belastungen aufgrund ihrer Flucht, weder ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG noch ein inländisches Abschiebungshindernis gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Unabhängig davon, dass kein qualifiziertes ärztliches Attest (vgl. § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG) vorgelegt wurde, wäre die Antragstellerin zu 2 im Bedarfsfall an das belgische Gesundheitssystem zu verweisen.
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Das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot von 18 Monaten begegnet voraussichtlich ebenso keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Antragsgegnerin hat bei der Befristungsentscheidung die Tatsache des Bestehens verwandtschaftlicher Beziehungen im Bundesgebiet erkannt und berücksichtigt. Wie schutzwürdig die Antragsgegnerin das Gewicht dieser verwandtschaftlichen Beziehungen im Rahmen der Befristungsentscheidung konkret hält, unterliegt nur eingeschränkter gerichtlicher Nachprüfung (vgl. § 114 Satz 1 VwGO, § 40 VwVfG).
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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6. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).