Titel:
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Iran)
Normenkette:
AsylG § 3, § 4, § 28 Abs. 1
Leitsätze:
1. Nach aktueller Erkenntnislage droht bei einer Rückkehr in den Iran nicht nur exponierten Oppositionellen, sondern gerade auch aus dem Ausland, explizit auch aus Deutschland kommenden Iranern Verfolgung, da sie damit rechnen müssen, dass ihnen der Vorwurf gemacht wird, westlich beeinflusst zu sein und / oder der Spionage bezichtigt zu werden. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Einer Iranerin, deren Persönlichkeit nach langem Auslandsaufenthalt in einem Maße nachhaltig vom westlichen Lebensstil geprägt ist und die sich zudem vom Islam losgesagt hat, ohne allerdings zu einer anderen Religion konvertiert zu sein, kann nicht mehr zugemutet werden, sich erneut den vom iranischen Regime für Frauen statuierten Verhaltensvorschriften zu unterwerfen. (Rn. 55) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Iran, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Frau, Bedrohung durch Bruder, insgesamt zehnjähriger Aufenthalt in Dänemark und in Deutschland, oppositionelle Aktivitäten im Iran sowie in Dänemark und Deutschland, Demonstrationsteilnahmen und sonstige exilpolitische oppositionelle Aktivitäten in Deutschland sowie in den sozialen Medien, Demokratische Kurdische, Partei Iran, DKPI, identitätsprägender Abfall vom Islam, Atheistin, identitätsprägende Verwestlichung, glaubhafte Angaben, flüchtlingsrelevante Gründe, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung bei einer Rückkehr in den Iran, Gefahrerhöhung durch Ereignisse im Iran seit September 2022, Reisewarnung des Auswärtigen Amtes, exilpolitische oppositionelle Aktivitäten, Demokratische Kurdische Partei Iran (DKPI), gefahrerhöhende Umstände, langjähriger Auslandsaufenthalt, westlicher Lebensstil
Fundstelle:
BeckRS 2023, 37245
Tenor
I. Die Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 1. Februar 2023 werden aufgehoben.Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin.die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
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Die Klägerin, iranische Staatsangehörige, reiste nach eigenen Angaben nach einem ca. achtjährigen Aufenthalt in Dänemark am 21. Juli 2021 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Ein Dublin-Verfahren verlief erfolglos (siehe VG Würzburg, U.v. 28.4.2022 – W 8 K 21.50303; B.v. 17.11.2021 – W 8 S 21.50304 – juris). Eine Überstellung nach Dänemark erfolgte nicht. Die Klägerin stellte am 17. Mai 2022 einen Asylantrag. Zur Begründung des Asylantrages gab sie im Wesentlichen an: Sie akzeptiere keine Religion. Sie sei Atheistin. Die letzte Eheschließung in Dänemark sei nicht religiös geschlossen worden. Ihr Bruder bedrohe sie deswegen mit dem Tode. Zudem sei sie Mitglied der ... (...). Sie habe an Parteiveranstaltungen und an Demonstrationen teilgenommen. Außerdem sei sie psychisch krank.
2
Mit Bescheid vom 1. Februar 2023 erkannte das Bundesamt für ... der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Weiter stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Die Klägerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung, im Falle der Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen. Die Abschiebung in den Iran oder einen anderen Staat wurde angedroht. Die Ausreisefrist wurde bis zum Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist ausgesetzt (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Eine erforderliche Identitätsprägung als Atheistin habe bei der Klägerin nicht festgestellt werden können. Bereits die Abkehr vom islamischen Glauben habe sie nicht veranschaulichen können. Es fehle der Abwägungsprozess. Sie sei nicht in der Lage gewesen, verdeutlichen zu können, welche Bedeutung Atheismus für sie habe. Auch im Übrigen habe sie ihre begründete Furcht vor Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Der Klägerin könne nicht geglaubt werden, dass ihr wegen ihrer Mitgliedschaft und ihrer Aktivitäten für die ... bei der Rückkehr in den Iran Verhaftung oder Folter drohen sollte. Sie sei unverfolgt ausgereist. Sie habe in den Jahren 2014 und 2017 bedenkenlos wieder einreisen können. Sympathiebekundungen bzw. geringfügigste Aktivitäten für die ... reichten nicht aus. Die Angaben der Klägerin zu ihren Aktivitäten seien widersprüchlich und unterschieden sich vom Vortrag gegenüber der dänischen Asylbehörde. Sie habe auch keinen konkreten Zusammenhang zwischen vorgetragenen Verhaftungen von Verwandten und ihrer Person herstellen können. Auch schon vor ihrer Ausreise habe sie sich gänzlich unreligiös verhalten. Der Klägerin könne deshalb nicht geglaubt werden, dass im Falle einer Rückkehr in den Iran nunmehr die Tötung durch ihren Bruder drohen sollte. Außerdem habe sie eine inländische Aufenthaltsalternative und könne sich auch in der Metropole Teheran ohne Gefahr niederlassen. Auch bei der Kontaktaufnahme mit den Kindern sei es der Klägerin möglich und zumutbar, diese Kontakte so zu gestalten, dass eine Kenntnisnahme durch ihren Bruder vermieden werde. Sie könne das notwendige Erwerbsminimum durch eigene Erwerbstätigkeit sicherstellen. Im Übrigen verfüge sie über ein familiäres Netzwerk, insbesondere von ihrer Schwester, vor allem aber von ihrem Sohn und ihrer Tochter könne sie Unterstützung erwarten. Zudem könne die Klägerin bei einer Rückkehr in den Iran Rückkehr- und Integrationsleistungen in Anspruch nehmen. Eine Depression sei im Iran problemlos behandelbar.
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Am 14. Februar 2023 ließ die Klägerin Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben.
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Die Klägerin ließ mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 10. Juli 2023 zur Begründung der Klagebegründung im Wesentlichen ausführen: Die Klägerin wäre im Falle einer Rückkehr in den Iran einer unzumutbaren Gefahr für Leib, Leben und Freiheit ausgesetzt. Sie vertrete westliche Werte. Der Klägerin könne es infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden, den sich im Iran für Frauen geltenden Kleidungs- und Verhaltensvorschriften (wieder) zu unterwerfen. Die Klägerin habe die hiesige Lebensart als selbstverständlich und persönlichkeitsprägend adaptiert. Sie beherrsche die deutsche Sprache hinreichend in Wort und Schrift, sei westlich gekleidet, trage die Haare offen und sei der Auffassung, dass sie als Frau ein Recht auf selbstbestimmtes Leben habe. Dies insbesondere im Hinblick auf die Wahl des Beziehungspartners, des Berufsweges, der politischen Einstellung, des Kindeswunsches (oder des Wunsches, keine Kinder zu haben) und der Verwendung ihrer finanziellen Mittel. Sie sei der Auffassung, dass sie hier in Deutschland elementare Rechte als Frau zustünden, die sie im Iran nicht hätte. Im Iran wäre die Klägerin aufgrund ihrer westlichen Lebensweise massiv beeinträchtigt. Sie sei der festen Überzeugung, dass Frauen auch selbst über ihre Freizeitgestaltung, insbesondere auch Kontakte zu Männern, frei bestimmen dürfen müssten. Die sexuelle Orientierung von Menschen halte sie für deren freie und private Angelegenheit. Die Klägerin besuche das Schwimmbad und im Sommer ein Freibad, dies mit normaler Badekleidung. Sie schminke sich und treffe sich abends mit Bekannten in Cafés und Bars. Sie befinde sich demgemäß aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, der Gruppe der iranischen Frauen, deren Identität aufgrund ihres längeren Aufenthalts in Europa westlich geprägt sei, außerhalb des Iran. Eine Rückkehr könne ihr nicht zugemutet werden.
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Mit Schriftsatz vom 20. September 2023 ließ die Klägerin unter Verweis auf verschiedene Beweise im Wesentlichen weiter vorbringen: Sie sei in erheblichem Maße exilpolitisch aktiv. Sie nehme an Demonstrationen hinsichtlich des ungeklärten Versterbens der Frau M. A. im Iran teil und verbreite über ihren Facebook-Account regimekritische Äußerungen unter ihrem Klarnamen mit ihrem Foto; ebenfalls über ihren Instagram-Account. Beiträge von ihr hätten 418 „Follower“ und seien über 1.300 Mal kommentiert worden. Die Klägerin sei darüber hinaus aktives Mitglied der demokratischen Partei des Iranischen Kurdistan und äußere sich auch im Rahmen dieser Parteimitgliedschaft kritisch gegenüber dem iranischen Regime. Die Klägerin trete im Rahmen von Demonstrationen auch öffentlich auf. Sie arbeite mit Parteifreunden an öffentlichkeitswirksamen Auftritten im Rahmen der Demonstrationen, verteile Flugblätter und spreche bei Kundgebungen. Auch niederschwellige politische Aktivitäten bzw. öffentliche Äußerungen gegen das iranische Regime seien aufgrund der derzeitigen Umstände im Iran, insbesondere für Frauen, mit erheblichen Gefahren für Leib, Leben und Freiheit verbunden. Die Administration im Iran geht drakonisch gegen Abweichler, Andersdenkende und Frauen, die sich den Anforderungen an die iranisch-islamischen Geschlechterrollen verweigerten, vor. Es sei davon auszugehen, dass die exilpolitische Aktivität der Klägerin zudem in einer kurdischen Partei sowie deren verwestlichtes Auftreten im Falle einer Rückkehr in das Herkunftsland eine wesentliche Verfolgung und Drangsalierung nach sich ziehen würde.
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Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 15. Februar 2023,
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Die Kammer übertrug den Rechtsstreit mit Beschluss vom 15. Februar 2023 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung.
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In der mündlichen Verhandlung am 25. September 2023 beantragte der Klägerbevollmächtigte für die Klägerin,
die Beklagte unter Aufhebung der Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für ... vom 1. Februar 2023 zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;
hilfsweise der Klägerin den subsidiären Schutz zuzuerkennen;
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Das Gericht hörte die Klägerin informatorisch an.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte der Verfahren W 8 K 21.50303 und W 8 S 21.50204) und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
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Der Bescheid des Bundesamtes für ... vom 1. Februar 2023 ist in seinen Nrn. 1 und 3 bis 6 rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG). Aus diesem Grund war der streitgegenständliche Bescheid, wie zuletzt beantragt, insoweit aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) war nicht zu entscheiden.
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Unter Berücksichtigung der aktuellen abschiebungsrelevanten Lage im Iran hat die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG.
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Gemäß §§ 3 ff. AsylG darf ein Ausländer in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Bedrohung liegt dann vor, wenn anknüpfend an Verfolgungsgründe (vgl. dazu Art. 10 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 – so genannte Anerkennungsrichtlinie oder Qualifikationsrichtlinie bzw. § 3b AsylG) Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (§ 3a AsylG).
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Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit (siehe zum einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – BVerwGE 140, 22; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377) liegt dann vor, wenn die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist letztlich, ob es zumutbar erscheint, dass der Ausländer in sein Heimatland zurückkehrt (BVerwG, U.v. 3.11.1992 – 9 C 21/92 – BVerwGE 91, 150; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – BVerwGE 89, 162). Über das Vorliegen einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegebenen Gefahr politischer Verfolgung entscheidet eine wertende Gesamtbetrachtung aller möglichen verfolgungsauslösenden Gesichtspunkte, wobei in die Gesamtschau alle Verfolgungsumstände einzubeziehen sind, unabhängig davon, ob diese schon im Verfolgerstaat bestanden oder erst in Deutschland entstanden und von dem Ausländer selbst geschaffen wurden oder ob ein Kausalzusammenhang zwischen dem nach der Flucht eingetretenen Verfolgungsgrund und entsprechend den schon in dem Heimatland bestehenden Umständen gegeben ist (BVerwG, U.v. 18.2.1992 – 9 C 59/91 – Buchholz 402.25, § 7 AsylVfG Nr. 1).
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Nach Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU ist hierbei die Tatsache, dass ein Betroffener bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Betreffenden vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betreffende erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Vorschrift begründet für die von ihr Begünstigten eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bedroht werden. Dadurch wird derjenige, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377 – juris Rn. 23).
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Aufgrund seiner prozessualen Mitwirkungspflicht hat ein Kläger (oder eine Klägerin) seine (ihre) Gründe für seine politische Verfolgung schlüssig und vollständig vorzutragen (§ 25 Abs. 1 und 2 AsylG, § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO). Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich – als wahr unterstellt – bei verständiger Würdigung die behauptete Verfolgung ergibt. Bei den in die eigene Sphäre des Klägers fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, muss er eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, den Abschiebungsschutz lückenlos zu tragen. Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des Vorbringens sind hiermit nicht vereinbar und können dazu führen, dass dem Vortrag im Ganzen nicht geglaubt werden kann. Bleibt ein Kläger hinsichtlich seiner eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 106.84 – BVerwGE 71, 180).
18
Nach der Überzeugung des Gerichts besteht für die Klägerin aufgrund ihrer persönlichen Situation sowie ihrer exilpolitischen Aktivitäten, einschließlich ihrer westlichen Prägung nach einem zehnjährigen Aufenthalt in Dänemark und Deutschland, eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in den Iran, weil aus der Sicht des iranischen Staates die Aktivitäten der Klägerin als regimefeindlich angesehen werden und die Klägerin selbst als Ungläubige und Regimegegnerin gilt, sodass ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staates mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist. Infolgedessen ist der Klägerin nicht zuzumuten, in den Iran dauerhaft zurückzukehren. Vielmehr hat sie einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
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Der Klägerin ist es gelungen, die für ihre Ansprüche relevanten Gründe in der dargelegten Art und Weise geltend zu machen. Unter Zugrundelegung der glaubhaften Angaben der Klägerin ist das Gericht davon überzeugt, dass eine begründete Gefahr politischer Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit besteht. Das Gericht ist nach dem schriftlichen Vorbringen sowie nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung, insbesondere aufgrund des persönlichen Eindrucks von der Klägerin, davon überzeugt, dass das Vorbringen der Klägerin, insbesondere zu ihren exilpolitischen Aktivitäten durch Teilnahme an diversen Demonstrationen, die Teilnahme an Parteiveranstaltungen der im Iran verbotenen Oppositionspartei ... (Demokratische Kurdische Partei Iran) sowie ihr Eintreten für die kurdische Sache auch in den sozialen Medien und darüber hinaus die sie wesentlich prägende Verwestlichung glaubhaft ist.
20
Nach der vorliegenden Erkenntnislage und der darauf fußenden Rechtsprechung ist bei der westlich geprägten Klägerin wegen der von ihr vorgebrachten regimefeindlichen und islamkritischen Aktivitäten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit einer Verfolgung aus politischen Gründen bei einer Rückkehr in den Iran zu rechnen.
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Denn nach der Rechtsprechung ist allgemein mit politischer Verfolgung zu rechnen, wenn eine Klägerin mit ihren oppositionellen und (exil-)politischen Aktivitäten derart nach außen in Erscheinung getreten ist, dass sie zum einen durch die iranischen Sicherheitsbehörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als ernsthafte Regimegegnerin, welcher auf die Verhältnisse im Iran einzuwirken vermag, identifiziert und qualifiziert worden ist, und dass zum anderen wegen der von ihr ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staats besteht (vgl. VG Würzburg, U.v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30707 – juris Rn. 29 ff; U.v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30683 – juris Rn. 28 ff; U.v. 19.12.2022 – W 8 K 22.30631 – juris Rn. 25 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 22.30541 – juris Rn. 27 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 21.30749 – juris Rn. 33 ff.; U.v. 3.6.2022 – W 8 K 22.30034 – juris Rn. 24 ff.; U.v. 31.1.2022 – W 8 K 21.31264 – juris Rn. 66 ff.; VG Würzburg, U.v. 16.10.2017 – W 8 K 17.31567 – juris Rn. 23 und 35; U.v. 15.2.2017 – W 6 K 16.32201 – juris Rn. 31 und 42; jeweils mit weiteren Nachweisen zur Erkenntnislage und zur Rechtsprechung). Dabei ist zu bedenken, dass der iranische Staat sowohl die Überwachung möglicher Regimekritiker verstärkt als auch seine Repressionen deutlich verschärft hat und nach der aktuellen Erkenntnislage im Einzelfall auch Personen gefährdet sein können, die nicht exilpolitisch herausgehoben aktiv waren.
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Nicht nur exponierte Oppositionellen droht bei einer Rückkehr Verfolgung, sondern gerade auch aus dem Ausland, explizit auch aus Deutschland, kommende Iraner müssen damit rechnen, dass ihnen der Vorwurf gemacht wird, westlich beeinflusst zu sein und der Spionage bezichtigt zu werden. Dies gilt erst recht für Personen, die sich während des Auslandsaufenthalts öffentlich regime- oder islamkritisch geäußert haben. Dabei ist zu bedenken, dass es den iranischen Behörden nach den vorliegenden Erkenntnissen gelungen ist, die oppositionellen Gruppierungen zu unterwandern, und dass sich zudem Exil-Iraner und Exil-Iranerinnen auch gegenseitig verraten (vgl. im Einzelnen auch VG Würzburg, U.v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30707 – juris Rn. 29 f.; U. v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30683 – juris Rn. 28 f.; U.v. 19.12.2022 – W 8 K 22.30531 – juris Rn. 25; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 22.30541 – juris Rn. 26 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 21.30749 – juris Rn. 32 ff. sowie VG Aachen, U.v. 5.12.2022 – 10 K 2406/20.A – juris Rn. 35 ff., 50 ff., 52 ff., 59).
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Die vorstehend skizzierte Gefährdungslage gilt gerade bei Kurden, zumal wenn sie – insbesondere in den Augen des iranischen Staates – mit exilpolitischen Parteien bzw. Organisationen oder deren Medien in Verbindung stehen (vgl. Nachweise zur Erkenntnislage und zur Rechtsprechung ausführlich VG Würzburg, U.v. 3.6.2022 – W 8 K 22.30034 – juris Rn. 24 ff., 39). Im Einzelfall müssen auch nicht radikale bzw. nicht exponierte Mitglieder kurdischer Oppositionsparteien im Iran flüchtlingsrelevant mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgung rechnen; für diese kann der Grad der Gefährdung höher sein als womöglich bei anderen Oppositionellen (vgl. VG Würzburg, U.v. 3.6.2022 – W 8 K 22.30034 – juris Rn. 39). Aus der Rechtsprechung des VG Würzburg zur AKPI (siehe VG Würzburg, U.v. 31.1.2022 – W 8 K 21.31264 – juris) folgt nichts anderes, weil letztlich auf den Einzelfall abzustellen ist (vgl. auch VG Braunschweig, U.v. 05.06.2023 – 2 A 222/19 – juris Rn. 36 ff; VG Saarland, U.v. 28.7.2022 – juris Rn. 31 ff. zur Komalah; VG Berlin, U.v. 14.7.2022 – 3 K 427.19 A – juris Rn. 11 f. zur DPK-I; VG Bayreuth, U.v. 13.7.2022 – B 2 K 20.30315, 7993388 – juris, UA S. 12 f. zur DPK-I).
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Denn da kurdische Oppositionsparteien im Iran illegal sind, behandelt die iranische Regierung ihre Mitglieder und diejenigen, die sie tatsächlich oder aus Sicht der Regierung unterstützen, einerseits härter als Zivilaktivisten in der kurdischen Region, andererseits sieht die Regierung grundsätzlich jede Art von politischem oder zivilem Aktivismus als potentielle Bedrohung an, sodass auch diese Aktivisten Gefahr laufen, verfolgt zu werden. Auch einfache Tätigkeiten, wie die Teilnahme an Protestmärschen oder Generalstreiks können zu Beschuldigungen führen, mit Oppositionsparteien zu kooperieren. Die iranischen Behörden unterscheiden meist nicht zwischen Parteimitgliedern und Unterstützern bzw. Aktivisten. Die Verfolgung von Personen ist willkürlich und variiert von Fall zu Fall (BFA, Bundesamt für Fremdwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran vom 13.4.2023, S. 16).
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Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 30. November 2022 (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 18.11.2022) ist ausgeführt, dass die aktuelle iranische Regierung innen-, außen- und wirtschaftspolitisch massiv unter Druck geraten ist und daher auf Systemerhalt mit allen Mitteln ausgerichtet ist. Jegliche Formen von Dissens werden mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterdrückt. Teile der iranischen Bevölkerung sind aufgrund ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, politischer, künstlerischer oder intellektueller Betätigung oder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung starken Repressionen ausgesetzt. Jede Person, die öffentlich Kritik an Missständen übt oder sich für die Menschenrechte organisiert, setzt sich der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aus (S. 4). Gegen Regimekritiker und Aktivisten wird unerbittlich vorgegangen. Es kommt regelmäßig zu „ungeklärten“ Todesfällen in Gefängnissen. Die Zahl der Todesurteile und Hinrichtungen steigt (S. 5). Je gefährlicher Proteste in ihrer Größe, Sichtbarkeit, Dauer oder Grad ihrer Politisierung für die Regierung werden, desto härter gehen die Sicherheitskräfte dagegen vor. Tote und verletzte Demonstrierende werden zur Abschreckung sogar gezielt verursacht, zumindest in Kauf genommen. Demonstrierende werden als von außen (neuerdings auch Deutschland) gezielt instrumentalisierte Aufrührer und bedrohliche Straftäter dargestellt, um die Gewalt zu rechtfertigen. Seit dem Tod einer 22-jährigen kurdischen Iranerin (Ma. „D.“ A.) am 16. September 2022 kommt es zu anhaltenden landesweiten Protesten. Bisher sind nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen über 50 Minderjährige im Zusammenhang mit den Protesten getötet worden. Personen, die in den sozialen Medien aktiv waren und über Kontakte zum Ausland verfügen, unterliegen daher vermutlich einer besonderen Gefahr der Strafverfolgung (S. 6). Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivitäten, die als Angriff auf das politische System empfunden werden oder islamische Grundsätze in Frage stellen. Dabei sind Gruppierungen, die die Interessen religiöser oder ethnischer Minderheiten vertreten, besonders stark im Fokus und sind stärkerer Repression ausgesetzt. Als Rechtsgrundlage dienen weitgefasste Straftatbestände. Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der islamischen Republik Iran als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, können der Spionage beschuldigt werden. Strafverfolgung erfolgt selbst bei niederschwelliger Kritik oftmals willkürlich und selektiv. Inhaftierten droht insbesondere bei politischer Strafverfolgung eine Verletzung der körperlichen und mentalen Unversehrtheit (psychische und physische Folter, Isolationshaft als Form der Bestrafung, Misshandlung, sexuelle Übergriffe) (S. 9 f.). Von Seiten des iranischen Regimes werden vor allem „ausländische Medien“ beschuldigt, die Proteste initiiert zu haben und zu lenken. Das Internet wird stark eingeschränkt. Darüber hinaus wird der Internetverlauf „gefiltert“ bzw. mitgelesen. Jede Person, die sich regimekritisch im Internet äußert, läuft Gefahr, mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, einen „Cyber-Krieg“ gegen das Land führen zu wollen und Proteste anzustacheln (S. 11 f.). Das Regime verfolgt (vermeintlich und tatsächlich) militante separatistische Gruppierungen (vor allem die kurdisch-marxistischen Komalah-Partei sowie die DPIK usw.) (S. 14). Muslimen ist es verboten zu konvertieren und auch an Gottesdiensten anderer Religionen teilzunehmen. Die Konversion sowie Missionstätigkeiten unter Muslimen wird strafrechtlich verfolgt. Muslimische Konvertiten und Mitglieder protestantischer Kirchen sind willkürlichen Verhaftungen und Schikanen ausgesetzt (S. 15 f.). Fälle von Sippenhaft existieren, meist in politischen Fällen; üblicher ist jedoch, dass Familienmitglieder unter Druck gesetzt werden, um im Sinne einer Unterlassung politischer Aktivitäten auf die Angeklagten einzuwirken (S. 17). Die exilpolitische Gruppe Mujahedin-e Khalq (MEK/MKO) wird als Terrororganisation eingestuft und gilt als Staatsfeind. Mitglieder werden mit allen Mitteln bekämpft. Auch Aktivitäten kurdischer exilpolitischer Gruppen werden genau beobachtet und sanktioniert. Iraner, die im Ausland leben, sich dort öffentlich regimekritisch äußerten, sind von Repressionen bedroht, nicht nur, wenn sie in den Iran zurückkehren. Ihre im Iran lebenden Familien werden regelmäßig unter Druck gesetzt (S. 19). Auf eine Vielzahl von Verbrechen steht die Todesstrafe, wie auch die im November 2022 im Zusammenhang mit der angeblich gewaltsamen Teilnahme an Protesten verhängten Todesurteile erneut zeigen (S. 21). Hinweise auf extralegale Tötungen existieren, besonders im Rahmen von Folter in Gefängnissen. Glaubhafte Hinweise liegen vor, dass Sicherheitskräfte ab September 2022 gezielt auf Köpfe und lebenswichtigen Organe von Demonstrierenden schossen bzw. dass Personen durch sonstige rohe Gewaltanwendung bei den Protesten ums Leben kamen. Willkürliche Festnahmen, Haft und unverhältnismäßige Strafen sind in politischen Fällen üblich (S. 22). Allein der Umstand, dass eine Person in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, löst bei Rückkehr keine staatlichen Repressionen aus. Ausgenommen davon sind Personen, die seitens iranischer Sicherheitsbehörden als ernsthafte Regimegegner identifiziert werden und an denen ein Verfolgungsinteresse besteht. Die Auswirkungen der aktuellen Proteste und deren blutigen Niederschlagung auf Rückkehrende lässt sich im Augenblick nicht abschließend einschätzen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Rückkehrende verstärkt von den Sicherheitsbehörden überprüft werden. Bereits vor den aktuellen Protesten ist es in Einzelfällen zu einer Befragung durch die Sicherheitsbehörden über den Auslandsaufenthalt gekommen, deren Ausgang sich der Kenntnis des Auswärtigen Amtes entzieht. Insbesondere in Fällen, in denen der Iran illegal verlassen worden ist, muss mit einer Befragung gerechnet werden. Bisher wurde kein Fall bekannt, in dem Zurückgeführte im Rahmen der Befragung psychisch oder physisch gefoltert worden sind. Der Chef der Judikativen hat explizit Exil-Iraner und Iranerinnen ermutigt, nach Iran zurückzukehren, und ihnen eine Rückkehr ohne Inhaftierung in Aussicht gestellt, sofern dies mit der iranischen Justiz koordiniert wird (S. 25).
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In einer neueren Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Schleswig-Holstein (Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG SH vom 14.6.2023) ist weiter ausgeführt, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass Rückkehrende verstärkt von den Sicherheitsbehörden überprüft werden. Die Behörden können erkennen, wann der Iran bei legaler Ausreise verlassen worden ist und wie lange der Auslandsaufenthalt gedauert hat, und ob der Iran auf dem legalen Weg verlassen worden ist. Das Auswärtige Amt kann nicht ausschließen, dass sich die Befragungen angesichts der aktuellen Lage verstärkt auf Aktivitäten im Ausland beziehen, etwa auch zur Teilnahme an Demonstrationen. Flächendeckende Befragungen zur politischen Überzeugung werden jedoch nicht durchgeführt. Ein längerer Auslandsaufenthalt führt allein zu keinen Repressionen. Repressionen dürften abhängig vom Einzelfall sein, insbesondere von der Einschätzung der iranischen Behörden über die jeweiligen Aktivitäten im Ausland. Eine Asylantragstellung im Ausland genügt nicht. Wenn der Iran illegal verlassen worden ist, muss mit einer Befragung gerechnet werden. In Betracht kommt auch eine Bestrafung wegen illegaler Ausreise. Erschwerend wirkt, wenn weitere Umstände hinzutreten, etwa wenn eine Person flüchtig und zuvor untergetaucht gewesen ist. Regimekritische Aktivitäten und Äußerungen im Ausland, unter anderem in den sozialen Medien, können nach Rückkehr in den Iran zur strafrechtlicher Verfolgung und Repressionen führen. Bei Kontrolle der Nichteinhaltung von Bekleidungsvorschriften kommt im Iran eine Gesichtserkennungstechnologie zum Einsatz. Auch Warn-SMS wurden schonverschickt, z. B. im Straßenverkehr, an Ladeninhaber oder bei Aufenthalt an bestimmten Orten. Das iranische Rechtssystem ist von Willkür geprägt. Es ist Teil der Repressionsstrategie des Regimes, Unsicherheit dadurch zu schaffen, dass es keine klaren Regeln oder rote Linien gibt. Die Bevölkerung lebt so immer in Ungewissheit, welche Verhaltensweisen gegebenenfalls als Vorwand für ein Gerichtsverfahren oder andere Formen der Bestrafung, wie beispielsweise Erziehungsseminare, Geldbußen, vorübergehende Autobeschlagnahmen, Ausreisesperren, Passentzug, Hausarrest, Sperrung von Konten, Drohung mit und gegebenenfalls auch Anwendung von sexualisierter Gewalt und Ähnlichem, genutzt werden. Das Auswärtige Amt geht davon aus, dass der iranische Staat seine Staatsangehörigen auch im Ausland überwacht und damit auch Informationen über eine Mitgliedschaft in christlichen Kirchen und Aktivitäten sammelt. Dem Auswärtigen Amt liegen widersprüchliche Aussagen dazu vor, ob allein das Bekanntwerden des formalen Glaubensübertritts genügt, um im Iran staatliche Repressionen zu erfahren. Die Verfolgung von Angehörigen anderer Religionsformen hat auch unter der Regierung des jetzigen Präsidenten noch einmal deutlich zugenommen. Regimekritische Äußerungen und Aktivitäten – auch außerhalb Irans – können, je nach Einzelfall, bei Rückkehr strafrechtliche Verfolgung und Repressionen nach sich ziehen. Die konkreten Repressionen hängen davon ab, wie das häufig willkürlich handelnde Regime die Aktivitäten und Äußerungen im Einzelfall bewertet. Dem Auswärtigen Amt sind Fälle bekannt, in denen Aktivitäten im Ausland zur Verhaftung und Anklage wegen unterschiedlicher Delikte geführt haben. Personen, die aus der Sicht des Regimes besonders gefährlich für das System erscheinen, beispielsweise durch große Sichtbarkeit ihrer kritischen Äußerungen oder aufgrund realer oder perzipierter Umsturzabsichten, können sogar im Ausland entführt und ermordet werden. Repressionsmaßnahmen hängen davon ab, wie das Regime die Äußerungen/Aktivitäten im Einzelfall einschätzt. Das Vorgehen der Behörden ist häufig willkürlich.
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Nach den aktuellen Reise- und Sicherheitshinweisen des Auswärtigen Amtes für Iran, einschließlich Reisewarnung, droht selbst deutschen Staatsangehörigen bzw. Doppelstaatlern die konkrete Gefahr, willkürlich festgenommen, verhört und zu langen Haftstrafen verurteilt zu werden. In jüngster Zeit kam es zu einer Vielzahl willkürlicher Verhaftungen auch unbeteiligter ausländischer Staatsangehöriger, etwa im räumlichen Umfeld von Demonstrationen. Selbst Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt willkürlich aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden. Strafrechtliche Vorschriften sind häufig so vage formuliert, dass eine Vielzahl möglicher Verhaltensweisen erfasst werden kann, ohne dass dies dem Betroffenen vorher deutlich sein muss. Die Rechtsprechung ist mitunter eindeutig politisch motiviert. Aufgrund im Iran weit ausgelegter Begriffe, wie zum Beispiel „nationale Sicherheit“, „Spionage“, „Terrorismus“ oder so genannter „Korruption auf Erden“ können zum Beispiel bloße Äußerungen, das Teilen, Kommentieren oder Liken von Beiträgen in sozialen Medien, aber auch persönliche Aufzeichnungen wie Tagebücher oder Notizen für eine Strafverfolgung ausreichen. Es kommt oft ohne nachvollziehbare Gründe zu Verhören und/oder Verhaftungen. Auch Familienangehörige von Inhaftierten werden regelmäßig unter Druck gesetzt. Auch in Deutschland getätigte Meinungsäußerungen und Handlungen können im Iran als regierungskritisch wahrgenommen werden und deshalb zu strafrechtlichen Konsequenzen führen. Gleiches gilt für regierungskritische Äußerungen im Internet bzw. das bloße Teilen oder Liken eines fremden Beitrags. Vor Reisen nach Iran wird gewarnt. Personen, die sich beabsichtigt oder zufällig am Umfeld von Demonstrationen aufhalten, droht die Festnahme und Verurteilung (Auswärtiges Amt, Iran: Reise- und Sicherheitshinweise, Reisewarnung, Stand: 25.9.2023, unverändert gültig seit 14.9.2023).
28
Medienberichten ist zu entnehmen, dass seit Beginn der landesweiten Proteste bis in den November hinein, schon allein nach offiziellen Angaben, mehr als tausend Personen angeklagt worden sind. Fast 15.000 Menschen sind festgenommen worden, denen schwere Strafen drohen, um einen abschreckenden Effekt zu erzielen. Bei den seit Mitte September anhaltenden Protesten sind mindestens 318 Menschen getötet worden, darunter 49 Minderjährige und 38 Einsatzkräfte. Mit scharfer Munition wird direkt in Menschenmengen geschossen, teilweise auch mit kleinen Metallgeschossen, die wie Schrot zersplittern. Ärzte, die Verletzte behandeln wollen, werden daran gehindert und sind selbst von Repressalien bedroht. Selbst wer nicht direkt an den Demonstrationen teilnimmt, sondern sich selbst nur solidarisch erklärt oder die Gewalt des Staates verurteilt, gerät ins Visier des Regimes. Mehr als 14.000 Personen sind festgenommen worden; nicht alle davon sind selbst auf der Straße gewesen. Verhaftete werden im Staatsfernsehen öffentlich vorgeführt und vorverurteilt. Verschiedene Vorwürfe, wie etwa Krieg gegen Gott oder Korruption auf Erden, werden erhoben, auf denen in der islamischen Republik Iran die Todesstrafe steht. Die iranische Justiz wirft den Demonstranten subversive Aktivitäten vor, wie Angriffe auf die Sicherheitskräfte oder öffentliche Gebäude (vgl. Zeit-Online, Bereits mindestens tausend iranische Demonstranten angeklagt, vom 8.11.2022; tagesschau.de, Droht Protestteilnehmern die Todesstr…, vom 7.11.2022; NZZ, Irans Regime droht seinen Gegnern mit der Todesstrafe, vom 3.11.2022; FAZ, 1.000 Demonstranten im Teheran angeklagt, vom 1.11.2022).
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Mittlerweile bis in den Dezember 2022 hinein ziehen sich Proteste durch das ganze Land und die gesamte iranische Bevölkerung. Es gab Kundgebungen in 160 Städten. Das iranische Regime machte – nicht zum ersten Mal – das Ausland verantwortlich. Die Regierung ging und geht mit großer Brutalität gegen die Muslimen vor. Es gibt viele Videos von Polizeigewalt und Repressionen. Immer wieder gehen auch Einsatzkräfte in zivil gegen Demonstrierende vor. Inzwischen soll es nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen rund 500 Tote geben, außerdem sollen mehr als 18.000 Menschen festgenommen worden sein. Auf Seiten der Einsatzkräfte des Regimes gab es demnach mehr als 60 Tote. Es gibt eine Reihe von Todesurteilen. Die ersten Verurteilten wurden hingerichtet, teilweise nach einem erzwungenen Geständnis, wobei das erpresste Geständnis seit vielen Jahren im Iran System hat. Auch auf Seiten der Demonstrierenden kommt es zu Gewalt bis hin zur Tötung von Einsatzkräften. Die iranische Regierung kennt ausdrücklich keine Gnade. Sie sieht Feinde des Iran und deren Verbündete im Inland hinter den Protesten. Als Feinde begreift die iranische Führung die USA und Israel aber auch Saudi-Arabien, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Der Revolutionsführer Al Chamenei hat entschieden, auf nackte Gewalt zu setzen. Die Staatskräfte sind angewiesen, mit Härte vorzugehen und auch den Tod von Protestierenden in Kauf zu nehmen. Die Gewalt wird wahllos eingesetzt. Selbst zufällige Passanten, Jugendliche und Kinder bleiben nicht verschont. Des Weiteren gibt es schwere Vorwürfe gegen Sicherheitskräfte im Iran, bewusst sexualisierte Gewalt gegen Demonstrantinnen einzusetzen bis hin zur Vergewaltigung. Inhaftierte berichten über lange Verhöre, Schläge, Schlafentzug und Drohungen, auch Familienangehörige festzunehmen. Geständnisse oder Reuebekenntnisse werden unter Folter erpresst und auf Video aufgenommen. Auch Augenzeugen und Familienangehörige werden drangsaliert. (vgl. etwa Deutschlandradio – Drei Monate Proteste im Iran, vom 17.12.2022; Die Zeit, Gehängt im Namen Gottes, vom 15.12.2022; FAZ, Iran warnt vor einem Bürgerkrieg, vom 18.11.2022 sowie Amnesty International, Journal, „Frau, Leben, Freiheit“, vom 7.12.2022; „Mullah muss weg“, vom 5.12.2022; „Mindestens 21 Menschen von Todesstrafe bedroht“ vom 18.11.2022; FR, Keine Gnade im Iran vom 28.12.2022; NZZ, Schwere Vorwürfe gegen Polizisten im Iran: Vergewaltigen sie Demonstrantinnen? vom 25.12.2022 sowie Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes, Zusammenfassung Iran – Juli bis Dezember 2022, vom 1.1.2023; Amnesty International, Report 2022, Länderbericht „Iran“, vom 28.3.2023).
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Die Protestaktionen und Repressionen gehen auch nach dem Jahreswechsel im Jahr 2023 weiter, auch wenn die Proteste zwischenzeitlich etwas abgenommen haben. Auf der Straße finden sich teilweise subtilere Formen, z.B. Anti-Regimeslogans, beschriftete Geldscheine, Slogans auf Wänden, übermalte Plakate, Rufe von Dächern und aus Fenstern. Immer mehr Frauen, gerade auch in Teheran, legen öffentlich das Kopftuch ab. So drücken insbesondere viele Frauen inzwischen durch zivilen Ungehorsam ihren Unmut aus. Der iranische Staat geht mit brutaler Gewalt gegen die Proteste vor. Weiterhin werden echte und vermeintliche Gegner verhaftet und misshandelt. Oppositionelle werden in unfairen Gerichtsverfahren zu hohen Haftstrafen verurteilt. Die Haftbedingungen wirken wie eine zusätzliche Bestrafung. Verhaftete kommen in Isolationshaft bzw. verschwinden direkt nach ihrer Festnahme. Oft beginnen unmittelbar nach der Inhaftierung meist Folter oder andere Misshandlungen um die Inhaftierten zu bestrafen, zu erniedrigen und zu Geständnissen zu zwingen. Schläge, auch mit einer Peitsche, und Aufhängen an den Gliedmaßen sind dabei die häufigsten Formen. Es werden auch Elektroschocks und Erstickungstechniken wie „waterboarding“ eingesetzt, ebenso sexualisierte Gewalt bis hin zu Vergewaltigungen oder Scheinhinrichtungen angewendet. Hinzu kommen verschiedene Formen psychischer Folter. Man droht etwa, nahe Verwandte zu inhaftieren, zu foltern und zu töten. Gleichzeitig wird vor Ort medizinische Behandlung verweigert. Sicherheitsbehörden gehen gezielt gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor und setzen mit Gewalt die diskriminierende Kleiderordnung auch für Frauen durch. Das iranische Regime kennt keine Gnade. Es sieht ausländische Mächte hinter den Protesten und begreift neben der USA und Israel auch weitere Staate wie Deutschland als Feinde (vgl. etwa FR, Das Regime sitzt auf einem Pulverfass, vom 23.2.2023; NZZ, Die nächste Etappe der Proteste beginnt, vom 21.2.2023; NZZ, Proteste im Iran: In mehreren Iranischen Städten wird erneut demonstriert, vom 17.2.2023; TAZ, Drei Journalistinnen im Iran festgenommen vom 24.1.2023; SZ, Der Staat im Staate, vom 23.1.2023; Der Spiegel, Tödliches Patt, vom 21.1.2023; Amnesty Journal Iran, Doppelt bestraft, vom 20.1.2023; HRW World Report 2023, Iran, vom 12.1.2023; NZZ, Schwere Vorwürfe gegen Polizisten im Iran: Vergewaltigen sie die Demonstrantin…, vom 25.12.2022; FR, Keine Gnade im Iran, vom 28.12.2022 sowie Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 27.2.2023, 13.2.2023, 30.1.2023, 16.1.2023, 9.1.2023).
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Im Zeitraum von September 2022 bis Februar 2023 wurden über 500 Demonstranten und Demonstrantinnen getötet und fast 20 000 inhaftiert. Festgenommene berichten von Folter. Bis Januar wurden 18 Personen zum Tode verurteilt. Vier Todesurteile wurden vollstreckt (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation Iran, Proteste, exilpolitische Tätigkeiten und Vorgehen der iranischen Behörden vom 23.2.2023).
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Die Protestkundgebungen haben sich auch anlässlich des internationalen Frauentages (8.3.2023) sowie in der Folgezeit fortgesetzt, die sich insbesondere auch gegen die Kopftuchpflicht und für die Freiheit und Gleichheit gerichtet haben. Auch im Zusammenhang mit den aufgetretenen Giftanschlägen gegen Schülerinnen und der deshalb erfolgten Proteste haben die iranischen Behörden den Vorwurf geäußert, dass die jüngsten Ausschreitungen durch Personen erfolgten, die mit ausländischen Medien kooperierten. Zahlreiche Schülerinnen hatten sich an den Demonstrationen nach dem Tod von M. Ji. A., einer Kurdin, beteiligt und verstoßen weiterhin gegen das Kopftuchgebot. Der islamische Staat mit seinem riesigen Sicherheitsapparat verfügt über ein dichtes Netzwerk von Überwachungskameras im ganzen Land und ist so fähig zu einer engmaschigen Bespitzelung. Es geht dabei im Iran nicht nur um das Kopftuch, sondern um die systematische Unterdrückung von Frauen. Weiße Foltermethoden werden eingesetzt; „weiße Folter“, also „saubere“ Methoden, weil die Methoden vorrangig die Psyche einer Person zermürben und keine physischen Spuren hinterlassen. Zudem sind unter den Protestierenden sehr viele Kurden, sodass die iranische Regierung umso mehr mit exzessiver Gewalt gegen diese vorgeht, zumal auch des Slogan „Jin Jiyan Azadi“ – Frau Leben Freiheit – aus dem Kurdischen kommt. Die Brutalität des iranischen Staates in seiner ganzen Bandbreite trifft selbst Kinder und Jugendliche (FR, Eine Tochter kämpft für ihre Mutter, vom 28.3.2023; Amnesty Journal, Iran, Widerstand aus Tradition, vom 22.3.2023; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 20.3.2023 und 13.3.2023; Der Spiegel, Folter von Minderjährigen, vom 18.3.2023; FR, Mit Giftgas gegen die Jugend vom 13.3.2023; FZ, Mädchen vergiftet und der Staat schaut zu, vom 11.3.2023; taz, Es geht um so viel mehr als das Kopftuch, vom 7.3.2023).
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In der Folgezeit kam es zu weiteren regimefeindlichen Protesten und auch entsprechenden Repressionen des islamischen Staates, etwa zum Neujahrsfest Mitte März 2023. Auch Minderjährige waren physischer, psychischer und selbst auch sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Unter den Aufständischen im Iran sind sehr viele Kurden und Kurdinnen. Deshalb gehen die Sicherheitskräfte – besonders in kurdischen Gebieten – hart gegen Protestierende vor und wenden exzessive Gewalt an. Auch weitere Foltermethoden werden angesetzt, bei denen es vorrangig darum geht, die Psyche einer Person zu zermürben, ohne dass diese Methoden physische Spuren hinterlassen. Ankündigungen zur Abschaffung der Sittenpolizei haben sich als falsch erwiesen. Verstöße gegen Bekleidungsvorschriften für Frauen werden auf verschiedene Weise geahndet, etwa Ermahnung und Schläge, Teilnahme an Moralunterricht und Geldstrafen bis zur Inhaftierung und Strafverfahren, auch sexualisierte Gewalt gegenüber Gefangenen. Wenn auch im geringen Umfang sind immer noch Demonstranten auf den Straßen Irans zu sehen; ebenso Verstöße gegen die Bekleidungsvorschriften. In sozialen Netzwerken sind die Protestaktivitäten allgegenwärtig. Verstöße gegen Bekleidungsvorschriften werden wieder strenger kontrolliert. Die iranischen Behörden verstärken die Unterdrückung von Frauen und Mädchen, die sich dem Kopftuchzwang widersetzen. Behörden verbannen Frauen ohne Kopftücher aus Hochschulen, öffentlichen Verkehrsmitteln, verwehren ihnen den Zugang zu Finanzdienstleistungen und schließen Unternehmen, die die Kopftuchpflicht nicht umsetzen. Durch Massenüberwachungstechnologien werden unverschleierte Frauen in ihren Autos und in Fußgängerzonen identifiziert. Im April 2023 wurden etwa mehr als eine Million Frauen, die ohne Kopftuch am Steuer gefilmt worden sind, per Textnachrichten davor gewarnt, dass ihre Fahrzeuge beschlagnahmt würden. Frauen wurden von Universitäten suspendiert oder von Abschlussprüfungen ausgeschlossen. Ein neues geplantes Gesetz sieht härtere Haftstrafen vor. Hinzu können Ausreiseverbote, Beschlagnahme von Pässen, Entzug von Bürgerrechten kommen. Gerade im Zusammenhang mit dem Jahrestag des Todes von Ma. A. im September 2023 kommt es verstärkt zu Verhaftungen und repressiven Maßnahmen. Familien Getöteter werden schikaniert, etwa willkürlich festgenommen, inhaftiert, Grabsteine zerstört. Die Straßenproteste im Iran haben zwar mittlerweile nachgelassen, jedoch ist die Opposition gleichwohl noch aktiv, etwa in den sozialen Medien. Zudem gehört ziviler Ungehorsam, Missachtung der Gesetze zum Alltag, ebenso die Repressionen der Behörden. Am 20. September 2023 soll schließlich ein Gesetzentwurf zu Hijab- und Keuschheitsregeln mehrheitlich vom Parlament angenommen worden sein. Der Gesetzentwurf, der noch vom Wächterrat ratifiziert werden muss, sieht erweiterte Strafen bei Verstößen gegen islamische Vorschriften vor, die von zwischenzeitlichen Festnahmen über Geldstrafen und den Entzug von Bürgerrechten bis hin zu Haftstrafen reichen können. Als Verstoß gelten demnach die Verbreitung und die Förderung von Nacktheit, Unsittlichkeit, Hijab-Verletzungen oder unangemessene Kleidung in der Öffentlichkeit, in sozialen oder in ausländischen Medien. Zudem soll eine umfassende Geschlechtertrennung durchgesetzt werden. Eine Erweiterung der Zuständigkeit von Sicherheitsbehörden für die Überwachung und Durchsetzung der Kleiderordnung ist ebenfalls vorgesehen (vgl. im Einzelnen die im Regelfall wöchentlich erscheinenden Briefing Notes des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. März 2023 bis zuletzt 25. September 2023 sowie etwa der Spiegel, Folter von Minderjährigen, vom 18. März 2023; Amnesty International, Journal Iran, Widerstand aus Tradition, vom 22. März 2023; FR, eine Tochter kämpft für ihre Mutter, vom 28. März 2023; Amnesty International, Auskunft an das OVG SH vom 20. April 2023; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Zum Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie in der islamischen Republik, Entscheiderbrief 5/2023 S. 4 ff.; Amnesty International, Was als Protest gegen den Tod einer jungen Iranerin begann, ist zur dauerhaften Herausforderung für das Regime geworden, vom 11. Juni 2023; Amnesty International, Iran: Zunehmende Unterdrückung von Frauen und Mädchen durch Sittenpolizei und Massenüberwachung vom 26. Juli 2023; Amnesty International, Aktuell, Iran: Familien der Getöteten müssen am Jahrestag der Proteste in Frieden trauern dürfen, vom 21. August 2023; Amnesty International, Journal, Iran, Viel Glut unter der Asche, vom 4. September 2023; vgl. zum Ganzen auch BFA, Bundesamt für Fremdenwesen der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran vom 13.4.2023).
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Hinzu kommt des Weiteren, dass die iranische Regierung seit Jahren die sozialen Medien überwacht, um Regimegegner zu identifizieren. Die sozialen Medien sind ein wichtiger Bestandteil in der Protestbewegung. Die iranische Regierung geht auch anlässlich der Proteste in den sozialen Medien gegen aktive Aktivisten und Aktivistinnen vor. Abseits der Überwachung von Inhalten in den sozialen Medien reagieren die iranischen Behörden auf die Proteste unter anderem mit einer Drosselung der Internetgeschwindigkeit. Es wird vermutet, dass die Behörden ein Computersystem verwenden, das hinter den Kulissen der iranischen Mobilfunknetze arbeitet und den Betreibern eine breite Palette von Fernbefehlen zur Verfügung stellt, mit denen sie die Nutzung der Telefone ihrer Kunden verhindern, stören und überwachen können, wie z.B. die Datenverbindungen verlangsamen, die Verschlüsselung von Telefongesprächen hacken, die Bewegungen von Einzelpersonen oder Gruppen verfolgen und detaillierte Zusammenfassungen von Metadaten darüber erstellen, wer mit wem, wann und wo gesprochen hat. Die iranischen Behörden sind dabei in der Lage, sich auch ohne physischen Zugriff auf Geräte in Smartphones zu hacken und private Kommunikationen wie auch Kommunikationspartner in den sozialen Medien zu überwachen. Aber auch Iraner und Iranerinnen, die im Ausland leben und sich dort öffentliche regimekritisch äußern, sind von Repressionen bedroht. Es ist bekannt, dass Vertreter des iranischen Geheimdienstministeriums in Europa präsent sind und die iranische Diaspora unter genauer Beobachtung halten. Iranische Agenten agieren teilweise aus den jeweiligen Botschaften heraus. Auch die gerade in Europa lebenden Iraner werden unter genauer Beobachtung gehalten (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran vom 13.4.2023, S. 12, 33, 49 f.; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Iran, Ahwazi-Aktivisten und -Organisationen, Behandlung durch iranische Behörden, vom 10.3.2023, S. 24 f.; Kurzinformation der Staatendokumentation, Iran, Proteste, exilpolitische Tätigkeiten und Vorgehen der iranischen Behörden vom 23.2.2023, S. 2 f.; vgl. auch schon Länderinformation der Staatendokumentation Iran vom 23.5.2022; Accord, Anfragebeantwortung zum Iran, Überwachung von Aktivität im Ausland, exilpolitische Aktivitäten Konversion vom 5.7.2019).
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Denn da ein erheblicher Anteil regimekritischer Debatten im virtuellen Raum und über die sozialen Medien stattfindet, überwacht das iranische Regime entsprechend das Internet und den mobilen Datenweg. Netzaktivitäten besonders engagierter Personen, die Einfluss auf die öffentliche Meinung ausüben können, können in den Blickfang staatlicher Kontrollen geraten. Staatliche Maßnahmen werden seit Jahren vorangetrieben, um regimefeindliche Aktivitäten zu identifizieren und gegen diese vorzugehen. Da das Hauptaugenmerk des Sicherheitsapparates auf dem Schutz des islamischen Regimes liegt, sollen jegliche Aktivitäten identifiziert werden, die dessen Kontrolle und Autorität gefährden und untergraben können. Im Fokus der Überwachung können Online- und Social-Media-Aktivitäten von Personen, Gruppen und Medien stehen, die das politische und religiöse Gefüge anfeinden und in Frage stellen. Besonders gefährdet sind insbesondere diejenigen mit einer hohen Reichweite und Vernetzung (etwa auch aufgrund ihrer Profession, Kontakte, Bekanntheit) sowie mit entsprechend anzunehmendem Einfluss auf die Öffentlichkeit, darunter auch Iranerinnen und Iraner im Ausland (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Informationszentrum Asyl und Migration, Länderanalysen Kurzinformation Iran, Netzaktivitäten – Netzüberwachung, Juli 2023).
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Nach dieser Erkenntnislage wirken die landesweiten Unruhen, Proteste und sonstigen Aktivitäten im Iran seit September 2022 sowie die repressiven Gegenmaßnahmen durch den iranischen Staat bei einer Rückkehr aus dem (westlichen) Ausland in den Iran gefahrerhöhend jedenfalls, wenn die asylsuchende Person schon zuvor wegen ihres Vorfluchtverhaltens und/oder wegen ihres Verhaltens im Ausland im Fokus der iranischen Sicherheitsbehörden stand und steht.
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Gleichwohl ist nach der Erkenntnislage gesamtbetrachtend nicht davon auszugehen, dass jeder Iraner bzw. jede Iranerin, die sich im Ausland aufgehalten hat, bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politischer Verfolgung zu rechnen hat. Vielmehr ist auf den jeweiligen Einzelfall abzustellen. Konkret bleibt weiter im Einzelfall zu prüfen, ob jemand aufgrund seiner Aktivitäten im Iran bzw. seiner exilpolitischen Aktivitäten von iranischen Behörden als Regimegegner erkannt und identifiziert wird und im Falle einer Rückkehr deswegen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Gefahr gerät. Angesichts der aktuellen Massenproteste im Iran und auch in Deutschland (auch im Internet) innerhalb des letzten Jahres ist es lebensfremd und unwahrscheinlich, dass jeglicher Teilnehmer unterschiedslos bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit flüchtlingsrelevanten Repressalien rechnen muss (VG Würzburg, U.v. 20.3.2023 – W 8 K 22.30683 – juris Rn. 37 m.w.N. sowie etwa VG Braunschweig, U.v. 5.6.2023 – 2 A 222/19 – juris Rn. 39).
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Ausgehend von der gegebenen Bedrohungs- und Gefährdungslage muss die Klägerin nach den Umständen ihres Einzelfalles, die diese letztlich im Wesentlichen glaubhaft dargelegt hat, bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politisch motivierter Verfolgung rechnen.
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Denn bei der Klägerin fällt nicht nur ins Gewicht, dass sie Kurdin ist, sondern dass sie ihre exilpolitischen Aktivitäten auch im Zusammenhang mit der im Iran verbotenen Demokratischen Kurdischen Partei Iran (DKPI) tätigt und dies auch nach außen zeigt und dass sie zudem durch den zehnjährigen Aufenthalt in Europa als Frau westlich geprägt sowie vom Islam abgefallen ist.
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Die Klägerin legte glaubhaft dar, dass sie schon über ihren Bruder im Iran Kontakt zur ... hatte und im Jahr 2009 dort aufgenommen worden sei. Trotz einiger Aktivitäten für die ... sei sie gleichwohl im Wege der Familienzusammenführung mit dem Ehemann in Dänemark unverfolgt ausgereist. In Dänemark habe sie sich zunächst mit Aktivitäten im Hintergrund gehalten, sodass ihr offenbar auch eine wiederholte Reise in den Iran, zuletzt im Jahr 2017, gefahrlos möglich war, wobei zu betonen ist, dass es – abgesehen von den sich mittlerweile verschärften Verhältnissen im Iran – einen Unterschied macht, für einige Wochen unter gewissen Vorsichtsmaßnahmen in den Iran gereist zu sein, als jetzt dauerhaft dorthin zurückzukehren und unter den dortigen Verhältnissen zu leben. Gleichwohl hat die Klägerin sich auch im Jahr 2013 wieder in Dänemark an die Partei gewandt und dazu erklärt, dass sie ihre Aktivität wiederaufgenommen habe, sodass auch ihre Parteimitgliedschaft erneuert worden sei. Stimmig dazu ist die vorgelegte Bestätigung der Partei vom 3. August 2023, in der ausgeführt ist, dass sie seit 2013 Mitglied der Partei sei. Die Klägerin schilderte weiter, dass sie zunächst ihre Aktivitäten im Untergrund entwickelt habe, auch auf Rat der Partei, um sich nicht zu gefährden. Ab 2018 sei sie weiter in die Öffentlichkeit gerückt. Sie habe zuvor eine Sonnenbrille getragen und habe sich im Hintergrund gehalten. 2018 habe sie anlässlich entsprechender Demonstrationen in Kurdistan auch vor dem Generalkonsulat sowie später auch in Deutschland demonstriert. Sie habe sich dabei – gerade auch zuletzt – in Deutschland nicht im Hintergrund gehalten, sondern sei vorne mitmarschiert, wie sie auch mit Lichtbildern dokumentiert hat. Dabei habe sie auch die kurdische Flagge sowie ein Bild von Ji. A. in der Hand gehalten.
41
Die Klägerin erklärte, sie habe an sieben bis acht Demonstrationen in Deutschland teilgenommen, in B., F. und H. Ihre Partei habe zwar die Demonstrationen nicht organisiert, aber sie hätten ihre Mitglieder aufgefordert, daran teilzunehmen. Die Demonstration in Berlin sei sehr groß gewesen. Eine konkrete Zahl könne sie nicht nennen. Ansonsten könnten es 100 oder 200 Teilnehmer gewesen sein. In F. seien es vielleicht 300 Teilnehmer gewesen. Die letzte Demonstration vom 16. September 2023 sei bis zum iranischen Generalkonsulat in F. gegangen. Die Demonstration sei unter dem Motto gelaufen „Frau Leben Freiheit“. Bei den Demonstrationen hätten sie – auch sie selbst – kurdische Flaggen getragen, außerdem hätte sie Slogans gerufen. Eine Rede oder so habe sie nicht gehalten. Sie habe auch nicht die Demonstration organisiert. Damit hat die Klägerin wiederholt nach außen deutlich gemacht, dass sie sich mit der Protestaktion im Iran solidarisiert hat.
42
Des Weiteren erklärte dir Klägerin an verschiedenen Parteiveranstaltungen teilgenommen zu haben, in H. sowie in K. Dabei räumte sie ein, dass sie in der ersten Zeit in Deutschland aus gesundheitlichen Gründen (wohl aus psychischen Gründen) insoweit nicht sehr aktiv gewesen sei. Im September dieses Jahres sei sie in F. bei Parteiveranstaltungen gewesen. Weiter sei sie bei einer Feierlichkeit anlässlich des Gründungstages der Partei sowie zum Neujahrsfest sie in K. gewesen. Bei einer Veranstaltung am 8. September 2023 in F. sei ein Verein der Kurden in F. gegründet worden.
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Des Weiteren poste sie auf Instagram neue Nachrichten, insbesondere über die Verfolgung von Personen seitens des iranischen Staates in Kurdistan. Sie übernehme Nachrichten von kurdischen Medien, vervielfältige sie und poste sie. Die Klägerin räumte ehrlich ein, dass sie keine eigenen Artikel schreibe. Allerdings poste sie die Nachrichten unter ihrem richtigen Namen und ihrem eigenen Foto.
44
Das Gericht hat keine Zweifel, dass die Aktivitäten, wie von der Klägerin beschrieben, erfolgt sind. Allerdings ist festzuhalten, dass die exilpolitischen oppositionellen Aktivitäten auch angesichts des massenweisen Auftretens exilpolitischer regimekritischer Aktivitäten von Iranern im Ausland auch in den sozialen Medien nicht herausragen. Die Klägerin hat sich nicht in besonderer Weise exponiert, sodass nicht anzunehmen ist, dass die Klägerin allein deswegen schon mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staates erweckt, weil sie nicht als in den Iran hineinwirkende Staatsfeindin erscheint, gerade im Vergleich zu anderen (vgl. zur differenzierten Betrachtung auch VG Köln, U.v. 21.7.2023 – 12 K 319/20.A – juris Rn. 22 ff.; VG Braunschweig, U.v. 5.6.2023 – 2 A 222/19 – juris Rn. 36 ff.; VG Gießen, U.v. 28.4.2023 – 3 K 2214/19.GI.A – juriss Rn. 28 ff.; VG Düsseldorf, U.v. 27.4.2023 – 9 K 3234/21.A, 8092846 – juris UA S. 16 ff.; VG Aachen, U.v. 18.4.2023 – 10 K 2279/20.A – juris Rn. 49 ff.; VG Meiningen, U.v. 6.3.2023 – 5 K 1368/22 Me 9331572 – juris UA S. 9 ff.; VG Berlin, U.v. 17.1.2023 – VG 17 K 4/23 A – juris UA S. 7 f.).
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Gleichwohl ist das Gericht – wegen zusätzlicher gefahrerhöhender Umstände in ihrem Einzelfall – von einer der Klägerin drohenden flüchtlingsrelevanten Verfolgung seitens des iranischen Staates mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit überzeugt, weil die Klägerin aufgrund ihres zehnjährigen Aufenthaltes in Europa – konkret ab 2013 in Dänemark und seit 2021 in Deutschland – und der damit verbundenen Prägung vom westlichen Lebensstil bei einem dauerhaften Aufenthalt im Iran zwangsläufig aufgrund der aktuellen Gegebenheiten dort staatlichen Repressionen ausgesetzt wäre. Denn eine beachtliche wahrscheinliche Verfolgungsgefahr begründet sich ausgehend von der regime- und islamkritischen Haltung der Klägerin, versinnbildlicht durch die Ablehnung der iranischen Bekleidungsvorschriften, insbesondere des Kopftuches bzw. des Verschleierungszwangs, aus der daraus resultierenden identitätsprägenden Verwestlichung der Klägerin.
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Denn wegen einer identitätsprägenden Verwestlichung oder aus religiösen Gründen ist eine Rückkehr für eine Iranerin in ihr Heimatland unzumutbar, wenn die begründete Annahme getroffen werden kann, dass sie tatsächlich etwas aus einem inneren Zwang heraus gegen die Bekleidungsvorschriften verstoßen müsste und ihr deswegen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen drohen würden (vgl. schon VG Würzburg, U.v. 27.2.2023 – W 8 K 22.30881 – juris Rn. 68 ff.; U.v. 2.1.2023 – W 8 K 22.30737 – juris Rn. 50 mit Bezug auf OVG LSA, U.v. 2.3.2022 – 4 LB 785/20 OVG – juris Rn. 55; VG Trier, U.v. 21.1.2022 – 11 K 3538/20.TR, 8036505 – juris S. 7 f.; VG Hamburg, U.v. 20.7.2021 – 10 A 5156/18 – juris Rn. 34; U.v. 7.7.2021 – 10 A 2109/19 – juris Rn. 43; VG Gießen, U.v. 4.6.2021 – 5 K 513/20.GI.A, 7758789- juris S. 9 f.). Davon ist bei der Klägerin auszugehen.
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Denn die Klägerin hat sich bei der informatorischen Anhörung im Rahmen der mündlichen Verhandlung offen und authentisch verhalten. Sie hat ausgehend davon, dass sie sich vom Islam abgewendet hat und dessen Regeln nicht einhält, glaubhaft dargelegt, dass sie die westlichen Werte und den westlichen Lebensstil in sich aufgenommen hat und davon geprägt ist. Insbesondere wendet sie sich gegen die Unterdrückung der Frauen im Iran und das dortige Regime und gegen alle Benachteiligungen der Frauen dort.
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Insbesondere, wenn sie sich als Nicht-Muslima zu erkennen geben, laufen Iranerinnen Gefahr, strafrechtlich belangt zu werden. Es ist verboten zu konvertieren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 18.11.2022, vom 30.11.2022, S. 15; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG SH vom 24.6.2023 S. 8 ff.; siehe auch BFA Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Iran, Gesetzeslage zu Apostasie, Behandlung von Atheisten). Dabei genügt auch für ein Todesurteil allein der bloße Abfall vom Islam unabhängig vom Wechsel in eine andere Religion. Infolgedessen ist auch dann wegen Apostasie mit Repressionen und strafrechtlicher Verfolgung zu rechnen, wenn keine Konversion zu einer anderen Religion erfolgt, sondern die Betreffende nur Atheistin ist. Hinzu kommt, dass die politische Situation im Iran dazu führt, dass westlich geprägte Frauen zu einer in diesem Sinne unzumutbaren Anpassung an religiöse Vorschriften gezwungen werden. Die im Iran geltenden Verhaltens- und Bekleidungsvorschriften bewirken bei Frauen deutlich stärkere Einschränkungen als für Männer und tragen zu einer niedrigeren sozialen Stellung und schlechteren Entfaltungsmöglichkeiten bei. Wenn Frauen – wie die Klägerin – sich dem nicht unterwerfen und deshalb bestraft werden, erhält das diese Bedingungen aufrecht. Derartige Strafen haben politischen Charakter. Sie gelten zwar für alle Frauen. Strafen für die Durchbrechung den islamischen Vorschriften treffen jedoch nur die Frauen, die sich nicht daran halten. Tun sie das aus politischer und/oder religiöser Überzeugung oder wird ihnen deshalb eine solche Überzeugung unterstellt, liegt darin eine Verfolgung im Sinnen von § 3 Abs. 1 AsylG. Frauen, die in Folge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt sind, dass sie bei einer Rückkehr in eine islamische Republik entweder nicht mehr in der Lage wären, ihren Lebensstil im dort erwarteten Verhaltensweisen und Tradition anzupassen, oder denen dies in Folge des erlangten Grade ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann, können eine soziale Gruppe darstellen. Abzustellen ist auf die Umstände des Einzelfalles (siehe nur VG Bremen, U.v. 18.1.2023 – 1 K 1738/21 – juris Rn. 30 ff.; m.w.N.).
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Hintergrund ist die rechtliche und tatsächliche Situation von Frauen im Iran. Nach der Erkenntnislage (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Iran, Stand: 18.11.2022, vom 30.11.2022, S. 12 f.; Auskunft vom 14.6.2023 an das OVG SH S. 7 f.) sind Frauen im Iran erheblichen vielfältigen Diskriminierungen unterworfen. Frauen werden im Iran wegen ihres Geschlechts in wesentliche Lebensbereiche im Vergleich zu Männern rechtlich und tatsächlich systematisch und kategorisch benachteiligt. Die Frauen sind den Männern untergeordnet. Da insoweit alle einfachgesetzlichen Normen mit der Scharia vereinbar sein müssen und im Iran einer traditionellen Rechtsauslegung der Scharia erfolgt, kommt es vor allem in den Bereichen zum Ehe- und Scheidungsrecht, dem Sorgerecht und in Erbschaftsangelegenheiten zu erheblichen Benachteiligungen für Frauen. Es kommt zu häuslicher Gewalt, zu Zwangsverheiratung und Kinderehen. Frauen werden durch die islamische Rechts- und Werteordnung diskriminiert. Es gibt Diskriminierungen im Ehe- und Scheidungsrecht, im Sorgerecht und in Erbschaftsangelegenheiten, weiter Diskriminierungen im Selbstbestimmungsrecht, im Vertragsrecht, beim Zugang zum Arbeitsmarkt, beim Zugang zu politischen und öffentlichen Ämtern, im Strafrecht, auch im Arbeitsbereich in öffentlichen Institutionen und im gesellschaftlichen Leben. Die Bekleidungsvorschriften, insbesondere der Kopftuchzwang haben Symbolkraft. Es geht dabei auch vor allem um die Frage, ob sich die Frauen der Herrschaft der islamischen Regierung und der nationalen Sicherheit unterwerfen oder eine moderne Auslegung des Islams begehren und Reformen einfordern. Alleinstehende bzw. geschiedene Frauen sind Benachteiligungen durch kulturelle und traditionelle Gewohnheiten ausgesetzt. Inflation und Frauenfeindlichkeit treffe sie härter. Unabhängige, ledige Frauen haben aufgrund der wirtschaftlichen sozialen Unsicherheit häufig Schwierigkeiten Mietverträge zu erhalten und bekommen stattdessen in einigen Fällen bei der Suche nach Mietwohnungen unmoralische, sexuelle Angebote. Im Strafrecht zeigt sich die Benachteiligung von Frauen besonders bei Zeugenaussagen. Opfer sexueller Gewalt könne nicht auf den Schutz von Behörden vertrauen (vgl. ausführlich Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport Iran – Länderreport 56, Rechtliche Situation der Frauen, Stand: Januar 2023; vgl. auch VG Hamburg, U.v. 8.11.2022 – 10 A 2821/20, 7472832- juris S. 9 ff.; siehe auch VG Würzburg, U.v. 2.1.2023 – W 8 K 22.30758 – juris Rn. 26.ff.; jeweils m.w.N.).
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Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen uns Asyl befasst sich ebenfalls ausführlich mit der Situation der Frauen im Iran, gerade nach den Ereignissen seit September 2022 (siehe BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran vom 13.4.2023, S. 99 ff.). Dort ist gerade betont, dass Frauen eine zentrale Rolle bei den landesweiten Protesten gespielt haben, die ihren Protest auch gerade durch zivilen Ungehorsam, etwa durch Ignorierung des Kopftuchzwangs ausdrücken. Verschiedene gesetzliche Verbote machen es Frauen unmöglich, im gleichen Maße wie Männer am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen (z.B. strenge Kleiderordnung, Verbot des Zuganges zu Sportveranstaltungen, Genehmigungsvorbehalt des Ehemannes oder Vaters bezüglich Arbeitsaufnahme oder Reisen). In rechtlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht sind iranische Frauen vielfältigen Diskriminierungen unterworfen. Frauen haben das aktive Wahlrecht, sind jedoch von einigen staatlichen Funktionen ausgeschlossen. Nach dem Gesetz müssen alle Frauen im Iran ab dem Alter von neun Jahren den Islam sowie Vorschriften in der Öffentlichkeit einhalten. Andernfalls können sie zu Auspeitschen oder Bußgeld verurteilt werden. Bei der Beurteilung sind die Frauen dem Ermessen der Disziplinarund Sicherheitskräfte ausgesetzt. Grundsätzlich ist wegen Verstoßes gegen die öffentliche Moral neben Geldbuße oder Freiheitsstrafe auch eine Verhängung von Peitschenhieben möglich. Die Sittenpolizei wendet bei Kontrollen regelmäßig Gewalt an. Die Patrouillen haben zugenommen. Auch nach den landesweiten Protesten seit September 2022 bekräftigen gerade die iranischen Regierungsvertreter ihre Entschlossenheit, die Kopftuchpflicht auch durchzusetzen. Dabei erfolgt die Überwachung nicht nur physisch, sondern auch im Wege der automatischen Gesichtserkennung an öffentlichen Plätzen und in öffentlichen Gebäuden. Zahlreiche Beschränkungen zielen auf Frauen im Sport und der Kultur (Verbot des Singens, außer im Chor, Verbot des Tanzens, Verbot des Zugangs zu Fußballstadien usw., weiterhin Verbot, Rad- oder Motorrad zu fahren). Die Arbeitslosenrate von Frauen ist doppelt so hoch wie bei Männern. Nur etwa 15% aller Frauen über 15 Jahren sind berufstätig. Die verstärkte Rezession und die Covid-19-Pandemie vergrößert die Kluft zwischen Männern und Frauen. Die ultrakonservative Regierung wird der Integration der Frauen auf dem Arbeitsmarkt nicht vorantreiben, weil sie die traditionelle Rolle der Frau in der islamischen Familie stärken und die Geburtenrate erhöhen wolle. Der Zugang zum Arbeitsmarkt und die beruflichen Möglichkeiten für Frauen sind durch soziale und rechtliche Regelungen eingeschränkt. Oftmals wird von Frauen das Einverständnis des Ehemannes oder Vaters verlangt, um eine Erwerbstätigkeit aufnehmen zu können. Ein Ehemann kann seiner Frau jederzeit verbieten, arbeiten zu gehen. Eine verheiratete Frau ohne schriftliche Genehmigung darf des Weiteren etwa keinen Reisepass erhalten oder ins Ausland reisen. Der Ehemann hat das Recht, den Wohnort zu wählen, und kann seine Frau daran hindern, bestimmte Berufe auszuüben. Zeugenaussagen von Frauen werden nur zur Hälfte gewichtet und auch die finanzielle Entschädigung für eine getötete Frau ist geringer. Eine Frau kann sich nur unter bestimmten Voraussetzungen scheiden lassen. Die Vormundschaft für Minderjährige liegt beim Vater bzw. Großvater väterlicherseits. Ehrenmorde sind in ländlichen Gebieten verbreitet.
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Aufgrund der dargestellten Erkenntnislage ist im Falle einer weiblichen Schutzsuchenden ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegeben, wenn der geschlechtsspezifische Aspekt für sie bedeutsam für ihre Identität oder das Gewissen ist, dass sie nicht gezwungen werden sollte, auf ihn zu verzichten. Es darf hier – ausnahmsweise und einzelfallbezogen – nicht zumutbar erscheinen, sich im Iran den dortigen rechtlichen und gesellschaftlichen iranisch-islamischen und Frauen im Vergleich zu Männern benachteiligenden Regeln zu unterwerfen. Es muss für die betroffene Frau unzumutbar sein, sich künftig regelkonform zu verhalten. Dies gilt gerade dann, wenn eine weiblich Schutzsuchende in Folge des längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität aufgrund der hiesigen Wertevorstellungen hinsichtlich der Gleichberechtigung von Frauen und Männern geprägt worden ist, dass sie entweder nicht mehr in der Lage wäre oder es ihr nicht zugemutet werden kann, bei einer Rückkehr in den Iran ihren Lebensstil den dort erwartenden Verhaltensweisen und Tradition anzupassen (VG Hamburg, U.v. 8.11.2022 – 10 A 2821/20, 7472832 – juris S. 12 ff.).
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Auch Art. 28 Abs. 1 AsylG ist kein rechtliches Hindernis. Denn die Klägerin hat überzeugend ausgeführt, dass sie die Verpflichtung zur Verschleierung bereits im Iran als Zwang empfunden hat. Ihre Haltung ist als Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehende Überzeugung, selbst wenn sich die Klägerin erst im Ausland entsprechend ausleben konnte. Überdies verletzt eine Verfolgung, die an einem während des Asylverfahrens westlich geprägtes Selbstbild als Frau anknüpft, die Menschenwürde und die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen in besonderer Weise (siehe zum Ganzen VG Bremen, U.v. 18.1.2023 – 1 K 1738/21 – juris Rn. 32 ff.; U.v. 21.12.2022 – 1 K 1535/20 – juris Rn. 25. ff.; U.v. 30.11.2022 – 1 K 1527/20, 7867276 – juris S. 6 ff.; vgl. auch VG Düsseldorf, U.v.6.2.2023 – 2 K 4255/20.A – juris).
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Das Gericht hat nach Würdigung aller Gesamtumstände unter Beachtung des schriftlichen Vorbringens und aufgrund des persönlichen Eindruck von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung keine Zweifel, dass es für sie einen sehr hohen Stellenwert hat, ihr Leben selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu führen, ohne den im Iran üblichen Benachteiligungen ausgeliefert zu sein, sodass es ihr von Rechts wegen nicht zugemutet werden kann, dauerhaft in den Iran zurückzukehren und sich dort erneut der Lebenssituation der Frauen anzupassen. Die Klägerin ist seit über zwei Jahren in Deutschland und hat davor acht Jahre in Dänemark gelebt. Sie hat auch mit Bezug auf ihren Lebenslauf glaubhaft dargelegt, dass sie sich dem Islam – seit langem – nicht mehr zugehörig fühlt und nicht mehr bereit ist, sich den im Iran geltenden Bekleidungsvorschriften für Frauen zu unterwerfen, insbesondere ihre Haare zu verschleiern. Die Klägerin hat sich als selbständige und eigenständige Person gezeigt und hat sich auch in ihrem Bekleidungsstil dem der westlichen Frauen angepasst. Sie hat des Weiteren aufgrund ihres Abfalls vom islamischen Glauben überzeugend dargetan, dass sie sich nicht vorstellen könne, im Falle einer Rückkehr im Iran wieder ein Kopftuch zu tragen und sich erneut den im Iran herrschenden vom Islam geprägten Regeln zu unterwerfen. Die Klägerin hat angegeben, schon in der Zeit in Dänemark kein Kopftuch mehr getragen zu haben. Auch ihr Ehemann habe dies nicht verlangt. Weiter gab sie an, dass sie Deutsch gelernt habe und noch lerne, wobei dies ohne einen Deutschkurs schwierig sei. Darüber hinaus brachte sie glaubhaft vor, dass sie schwimmen könne und schon in Dänemark sowohl im Meer als auch im Schwimmbad geschwommen habe. Auch in Deutschland sei sie schon im Meer schwimmen gewesen, auch in Gegenwart von Männern. Sie habe dabei zweiteilige westliche Badekleidung getragen. Ehrlich räumte sie ein, in Deutschland aus finanziellen Gründen kein Schwimmbad besucht zu haben.
54
Die Klägerin gab weiter an, sie habe sich seit ihrer Kindheit nicht mehr als Muslimin gesehen, sie wolle als Frau frei sein und selbst entscheiden. Sie wolle sich der Pflicht, einen Schleier oder ein Kopftuch zu tragen, widersetzen. Die Frauen im Iran stünden erheblich unter Druck. Dies sei unerträglich für sie als Frau. Sie dürften etwa auch nicht ohne Zustimmung des Mannes reisen. Sie sei mit der Rolle der Frau in der iranischen Gesellschaft nicht einverstanden. Sie wolle nicht mehr als Frau vom Regime unterdrückt werden. Auch ihr Bruder, ein gläubiger Moslem, würde dies nicht dulden, wenn sie ohne Kopftuch im Iran sei. Gerade nach dem Tod von Ji. A. habe sich viel geändert. Die Situation sei anders als im Jahr 2017, als sie im Iran gewesen sei. Mit den Ereignissen habe sich auch ihre Einstellung geändert. Ihre Meinung habe sich geändert. Sie verfolge jeden Tag mit, wenn kurdische Frauen im Iran gefoltert und sexuell misshandelt würden. Sie wolle etwas dagegen tun.
55
Aufgrund dessen ist nicht anzunehmen, dass sich die Klägerin im Fall einer Rückkehr in den Iran ohne umfangreiches Verleugnen ihrer Persönlichkeit den dort herrschenden Regeln und Gepflogenheiten hinsichtlich der benachteiligenden Behandlung von Frauen im Vergleich zu Männern noch in zumutbarer Weise widerspruchslos unterordnen kann. Das Gericht ist überzeugt, dass ihre Persönlichkeit im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in einem Maße nachhaltig vom westlichen Lebensstil geprägt ist, dass es ihr nicht mehr zugemutet werden kann, sich erneut den vom iranischen Regime für Frauen statuierten Verhaltensvorschriften zu unterwerfen. Diese Prägung ist Ausdruck ihrer heutigen Persönlichkeit und nicht asyltaktisch motiviert. In dem Zusammenhang kommt es nicht entscheidungserheblich darauf an, aus welchen Gründen die Klägerin den Iran verlassen hat, weil sie nunmehr aufgrund ihrer aktuellen Einstellung und ihrer Erscheinung im Iran absehbar einer realen Verfolgungsgefahr ausgesetzt wäre. Bereits bei der Ankunft im Iran erwüchsen daraus ersichtlich Probleme. Als Iranerin, die zehn Jahre im westlichen Ausland gelebt hat, wäre die Klägerin für die iranischen Sicherheitskräfte absehbar verdächtig, sich nicht an die vom iranischen Regime islamischen Verhaltensregeln zu halten. Würde sie sich schon bei der Einreise nicht an die dort geltenden Bekleidungsvorschriften halten, unterläge sie bei der Rückkehr schon unmittelbar am Flughafen Repressionen. Wenn die Klägerin sich bei einer zwangsweisen Rückführung aus Angst unmittelbar drohender Verfolgung gleichwohl den Bekleidungsvorschriften unterwerfen würde, könnte ihr das nicht angelastet werden und stünde einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht entgegen (VG Hamburg, U.v. 8.11.2022 – 10 A 2821/20, 7472832 – juris; siehe auch VG Düsseldorf, U.v. 6.2.2023 – 2 K 4255/20.A – juris).
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Bei einer eventuellen Rückkehr in den Iran müsste die Klägerin unter Gesamtwürdigung aller Umstände mit Verfolgungsmaßnahmen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechnen. Das Gericht hat keinen Zweifel, dass sich ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staates aufgrund der oben dargestellten Ereignisse im letzten Jahr im Iran und auch aufgrund der sich verfestigten islamkritischen Haltung der Klägerin und ihrer Prägung vom westlichen Lebensstil, verbunden mit der Ablehnung des Verschleierungszwangs, entwickelt und verstärkt hat. Hinzu kommt ihre kurdische Volkszugehörigkeit und ihr öffentliches Eintreten für die Sache der Kurden, einschließlich ihrer Mitgliedschaft und der verbotenen DKPI. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass der Klägerin bei einer Rückkehr in den Iran seitens staatlicher Stellen eine regime- und islamfeindliche politische Gesinnung unterstellt bzw. vorgeworfen würde, verbunden mit der Befürchtung, die Klägerin werde sich weiter islam- und regimekritisch verhalten, ihren westlichen Lebensstil pflegen und sich somit als „Ungläubige“ zu erkennen geben und auch entsprechend äußern, sodass sich entsprechende staatliche Verfolgungsmaßnahmen zwangsläufig hieran anknüpfen würden.
57
Nach alledem ist der Klägerin unter Aufhebung der sie betreffenden Antragsablehnung in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheides die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen. Infolgedessen besteht kein Anlass für eine weitere Entscheidung über die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG oder sonstige Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, so dass die Nrn. 3 und 4 des Bescheides des Bundesamtes ebenfalls aufzuheben waren (vgl. § 31 Abs. 2 Satz 1 AsylG „oder“ und § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG). Über die hilfsweise gestellten Anträge, insbesondere zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG), war nicht zu entscheiden.
58
Des Weiteren sind auch die verfügte Abschiebungsandrohung und die Ausreiseaufforderung samt Ausreisefristbestimmung (Nr. 5 des Bundesamtsbescheids) rechtswidrig und daher aufzuheben. Denn das Bundesamt für ... erlässt nach § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 und § 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung nur, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt und ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird. Umgekehrt darf im Fall der Flüchtlingszuerkennung eine Abschiebungsandrohung nicht ergehen. Letzteres ist im gerichtlichen Verfahren – wenn auch noch nicht rechtskräftig – festgestellt.
59
Schließlich war auch die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG (Nr. 6 des Bundesamtsbescheids) aufzuheben, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung auch die Voraussetzungen für diese Entscheidung entfallen sind (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG).
60
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
61
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.